Sollte ein Artikel in der FAZ, der sich auf Aussagen des erzkonservativen Charles Moore vom Daily Telegraph bezieht, Hoffnung machen? Hoffnung auf eine Art Aufwachen, auf einen beginnenden Bewusstseinsprozess bei den Vordenkern des Liberalismus? Schließlich gilt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) als Meinungsbildner, als Auslöser gesellschaftspolitischer Diskussionen. Dieser Umstand allein sollte schon der Hoffnungsschimmer selbst sein. Denn der Artikel, von niemandem Geringeren als Mitherausgeber Frank Schirrmacher geschrieben, lässt jene zu Wort kommen, die nun Einsehen zeigen. Ein Einsehen, dass neoliberale Marktwirtschaft ein Wolf im Schafspelz sozialer Gefüge darstellt und nur einigen Wenigen zur Profitmaximierung dient. Dass zehn Jahre maßlose Entfesselung der Märkte den Mittelstand und damit den Wohlstand der Masse vernichtet haben.
Kritiker des bestehenden Wirtschaftssystems gibt es genug. Ein Harald Wozniewski mit seiner Meudalismustheorie, mit der er zeigt, dass die Geldmenge M1 mit zunehmender Handlungsdauer der freien Märkte einer Handvoll Mächtiger in diesem Wirtschaftssystem zufließt. Er sagt, es herrsche eine moderne Form des Feudalismus und der Masse werde eine Wohlstandslüge mit den Worten Ludwig Erhardts („Wohlstand für Alle“) verkauft. Dann zählt zu den Kritikern ein nach wie vor unbekannter Leopold Kohr, seines Zeichens Träger des Alternativen Nobelpreises, den man heute schüchtern bei politischen Tagungen erwähnt – als Vorbild für die Bedeutung regionaler statt globaler Strukturen. In Österreich ist der Salzburger Kohr nach wie vor der große Unbekannte, kaum jemand kennt sein Werk, im Schulunterricht fehlt er gänzlich. Dort, wo man ihn umsetzt, bei Tauriska im salzburgischen Pongau, werden die Akteure klein gehalten. Die Landschaft der österreichischen Regionalentwicklung fährt einen anderen Kurs. Den des Profits, der Maximierung der Gewinne für so genannte Investoren, welchen die Aufgabe zukommt, den ländlichen Raum zu retten – mit Großprojekten auf PPP-Basis (PPP = Private Public Partnership und von beispielsweise ATTAC heftig als Raub öffentlichen Gutes kritisiert).
Aber auch kritische Geister der Gegenwart wie Zukunftsforscher Opaschowski und Ex-Ministerpräsident Biedenkopf (CDU) sehen in den gegenwärtigen Entwicklungen, die vom freien Spiel der Märkte bestimmt werden, eine Gefährdung der Demokratie und wachsende soziale Ungleichheit. In diese Riege fügen sich auch die beiden Österreicher Franz Hörmann und Otmar Pregetter ein, welche die Wurzel allen Übels im Geldsystem erkennen und darauf hinweisen, dass dieses die Konkurrenz, den Neid und die Gier fördert. Die Kooperation werde nicht belohnt und man müsse sich vom Zins- und Schuldgeldsystem verabschieden, wolle man sozialen Ausgleich und Wohlstand schaffen, so Hörmann´s Thesen. Eine beinah gleich lautende Kritik publiziert seit Jahren Helmut Creutz und der ehemalige Euro-Banker Bernhard Lietäer.
Aber zurück zu Schirrmacher von der FAZ, der die veröffentlichte Rede des ehemaligen CDU-Politikers Erwin Teufel zitiert, welcher vor der Seniorenunion in Berlin sprach. Teufel weist auf den Nationalökonomen Friedrich List hin, der schon vor 160 Jahren meinte, die Aufzucht von Schweinen ginge in das Bruttosozialprodukt ein, die Aufzucht von Kindern jedoch nicht. Auch die Ungleichbehandlung von Frauen in Gehaltsfragen (Frauen verdienen in deutschsprachigen Ländern rund 30 Prozent weniger als Männer für gleiche Arbeit bei gleichen Qualifikationen, was österreichische Statistiken gerne euphemistisch mit dem Argument der nicht vergleichbaren tatsächlichen Arbeitszeiten aufgrund zahlreicher Teilzeitbeschäftigungen der Frauen zu entkräften versuchen) sind für den CDU-Politiker alles andere als real praktizierte christliche Grundwerte und Gleichbehandlung. Und Zukunftsforscher Opaschowski meinte bei den jüngsten kommunalen Sommergesprächen in Bad Aussee, dass man von neuen sozialen Konvois auszugehen habe. Die Familie im traditionellen Sinn existiert nicht mehr. Man darf davon ausgehen, dass die Traditionalisten der österreichischen Politik aber nicht wirklich diesen Gedankengängen zu folgen vermögen. Denn Opaschowski fordert einen neuen Familienbegriff und Generationen übergreifendes Wohnen, was die sozialen Aufgaben einer Gesellschaft zu leisten vermag. Zu viele heimische Politiker träumen sich hingegen eine heile Familienwelt der 1950er Jahre herbei und blenden dezent die Probleme der Patchworkfamilien, der nicht mehr finanzierbaren sozialen Leistungen und die prekären Lebenssituationen hoch Qualifizierter aus. Letzteren ist aufgrund unregelmäßiger Einkommen und ungewisser Karrieren eine Familiengründung quasi verwehrt. Man will anscheinend nicht wahrhaben, dass immer mehr Einkommen in keiner Relation zu den tatsächlichen Aufwänden für die Lebenshaltung stehen. Außerordentliches, wie beispielsweise der Kauf einer Waschmaschine (zumeist zwischen 300 und 400 Euro), darf bei vielen Familien oder sich im Prekariat Befindlichen einfach nicht passieren.
Um auf Erwin Teufel zurück zu kommen, zum Schweinevergleich beim Bruttosozialprodukt passt auch die Aussage eines weiteren Österreichers, den das Land ebenso wie Leopold Kohr in die USA vertrieben hat und nun totschweigt. Peter F. Drucker, der aus Wien stammende jüdische Management-Guru, vertrat die Ansicht, dass Marketing und Innovationen wichtiger als Finanzfragen für Unternehmen seien. Er hat das Entstehen der Wissensgesellschaft frühzeitig erkannt (blies damit ins selbe Horn wie Leo Nefiodow mit den Kondratieff-Zyklen) und hat den Börsencrash ganz allgemein vorausgesehen. „Wenn Schweine sich im Trog suhlen, ist das immer ein widerliches Spektakel – und man weiß, es wird nicht lange dauern.“, zitiert ihn das Management Magazin 2005, anlässlich seines Todes. Drucker wurde 2002 mit der Freiheitsmedaille des Präsidenten, der höchsten zivilen Auszeichnung der USA, bedacht. Firmen wie Intel und Sears haben seine Motivationslehre angewendet. Und Drucker war es auch, der auf die Qualität der Mitarbeiter hinwies. Stattdessen diktieren in neoliberalen Marktrealität Zahlen die Unternehmensbilanzen, Entlassungen ermöglichen Profite im Millionenbereich, der Ein-Euro-Job garantiert den Gewinn und beruhigt das soziale Gewissen. Hauptsache man hat die Leute aus der Statistik draußen, weil sie in moderne „Umerziehungslager“ (an den Arbeitsmarkt angepasste Schulungsmaßnahmen, die aus einem Doktor der Geschichte einen Webdesigner machen) gesteckt werden.
Gleichzeitig hält man jedem Absolventen der Geistes- und Kulturwissenschaften in Österreich exakt 0,02 freie Stellen bereit. Ein Land, das auf seine geistig-kulturelle Elite verzichtet, indem es ihr keine Arbeitsmöglichkeiten zugesteht und deren Qualifikationen als wertlos für die Wirtschaft bezeichnet, setzt seine Kultur aufs Spiel – so der ehemalige Rektor der Grazer Technischen Universität, Hans Sünkel. Derart geschaffene Strukturen erzeugen strukturelle Gewalt – ein Merkmal übrigens der Abwesenheit von Frieden, sagt die Friedensforschung. Strukturelle Gewalt ist auch die Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt, das Hochloben klassischer Familienstrukturen aus dem vergangenen Jahrhundert, das Propagieren von Praktika und Volontariaten als Arbeitserfahrung für angehende Akademiker und von Netzwerken als karriereentscheidende Kommunikationskultur. Wer nicht Teil dieses (perfiden) Spiels ist und die Zusammenarbeit mit dem strukturell gewalttätigen System verweigert, vielleicht aus moralischen Gründen, der fliegt hinaus. Berufsverbote wurden in der ehemaligen DDR erteilt, die gegenwärtige Demokratie schickt den unliebsam Gewordenen mit Burnout-Diagnose in die Frühpension oder erzieht ihn zum Webdesigner um. Im 19. Jahrhundert verschiffte man die Troublemaker nach Texas. Das System hat also Tradition.
Der Wiener Peter F. Drucker bezeichnete die Börsenbroker an der Wall Street als unproduktiven Haufen, da sie mehr als ihre Investoren verdienen. Er erwartete den Börsencrash damit aus ästhetischen Gründen – eben wegen der „Schweine, die sich im Trog suhlen“. Und um auf das finanzielle Vermögen des Mittelstandes, den es nach Wozniewski schon lange nicht mehr gibt, zurückzukommen, hier ein paar typische Zahlen dazu. Das mittlere Nettoeinkommen im strukturschwachen Österreich beträgt rund 20.000 Euro jährlich – Frauen dürfen für eine Vollzeitbeschäftigung mit rund 13.000 Euro im Jahr rechnen. Solche Statistiken beschönigen die Situation, denn erstens sind Frauen in Vollzeit eine Minderheit und zweitens muss man die Einkommen in Relation zu den Lebenshaltungskosten betrachten. Als klassischer Niedriglohnsektor gilt der Tourismus und die Dienstleistung wie der Handel; eine Wirtschaftsstruktur in vielen österreichischen Regionen. Etwas, auf was man in klassischen strukturschwachen Regionen setzt ist, man schafft touristische Infrastruktur und damit Arbeitsplätze in Tourismus und Handel/Dienstleistungen. Derart „entwickelte“ Regionen lassen aber das Preisniveau fürs Wohnen hinaufschnellen, da die Begehrlichkeit, in einer solch schönen Kulisse leben zu wollen, steigt: das übliche Dilemma mit den preistreibenden Zweitwohnsitzern und Alterssitzern, die steigende Nachfrage treibt den Preis für Mieten und Eigentum in die Höhe. Die Gesetze des Marktes wirken hier in Reinkultur. Eine deutsche Webseite für Auswanderer gibt beispielsweise an, dass die Löhne in Österreich geringer, die Lebenshaltungskosten aber höher als in Deutschland seien.
In der Praxis bedeutet das Mietpreise in ländlichen strukturschwachen Regionen (oftmals als LEADER-Region qualifiziert und in dieser Kulissen förderungswürdig) auf dem Niveau deutscher Großstädte wie Berlin; und Einkommen unter den bundesweiten Medianbezügen. Dazu gesellt sich zunehmender Ausverkauf der Region an Investoren, kaum Arbeitsmöglichkeiten für Hochqualifizierte, hohe Abwanderungsraten aufgrund der Hoffnung, in Städten doch das Einkommen fürs Leben und die nötigen beruflichen Entwicklungsperspektiven zu erlangen. Das ist der liberale Markt.
All diese gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorgänge miteinander in Beziehung zu setzen, mag dem Kritiker (dem Uneinsichtigen?) als Vergleich von Birnen mit Äpfeln erscheinen. Doch gerade das ist die Aufgabe der Geistes- und Kulturwissenschaften, die Erscheinungen des Lebens untereinander zu verbinden, nach den systemischen Mechanismen des Menschseins zu fragen und Antworten auf die komplexen Probleme der Gesellschaft zu finden. Das Detail für sich erweckt vielleicht den Eindruck simpler linearer Logik. Es bringt aber keine Lösung für beispielsweise die Komplexität des Klimawandels oder sozialer Ungleichverteilung hervor. Wer sich geistig detailverliebt bewegt, folgt nur einer von vielen Spuren. Das Leben ist aber Vielfalt, sagen die Ökologen und Systemiker. Wer hat also jetzt Recht? Der technisch versierte Naturwissenschaftler mit simpler Detailverliebtheit, der einer Wirtschaftslehre hinterher hinkt, die sich seit ihrem Bestehen spätestens alle 70 Jahre ad absurdum und somit in einen Börsencrash mit auf ihn folgender Währungsreform führt? Oder die, wie es die FAZ bezeichnet, Linken, welche immer schon den Kapitalismus im Visier ihrer Kritik hatten, ihm Unmenschlichkeit und korrupte Gier vorwarfen.
Hoffnung keimt – gerade jetzt, weil sich die FAZ des Wesens unseres Wirtschaftssystems endlich anzunehmen scheint. Vor allem die Verursacher dieser wachsenden Umverteilung von unten nach oben müssen sich den Konsequenzen ihres Handelns stellen. Wer dies tut, dem wird die Gemeinschaft Anerkennung zollen. Wer sich diesem Schritt verweigert, wird wohl mit dem Wutbürger rechnen müssen, denn nicht alle Staatsgemeinschaften haben sich die menschliche Größe der norwegischen Gesellschaft aneignen können. Jene nämlich, nicht mit Gewalt auf (strukturelle) Gewalt zu antworten, sondern mit Mitgefühl und Liebe. Wenn wir es besser machen wollen, lautet das Motto: „Selbsterkenntnis ist der beste Weg zur Besserung“. Und vielleicht erleben wir jetzt den Fall der Mauer des Kapitalismus. Was kommt danach? Hoffentlich soziale Besonnenheit und Gleichbehandlung.
Quellen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Frank_Schirrmacher
http://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter_Allgemeine_Zeitung
http://www.faz.net/artikel/C30923/erwin-teufel-ich-schweige-nicht-laenger-30476693.html
http://www.manager-magazin.de/unternehmen/karriere/0,2828,384510,00.html