Die von Kofi Annan ausgehandelte Waffenruhe hat ihren Zweck erfüllt. Sie wird nicht mehr gebraucht. Sie war nie willkommen in den Reihen der Anti-Assad-Koalition. Vielmehr kann sie als notwendiges Übel angesehen werden, um die vollkommene Niederlage der Rebellen zu verhindern. Eine Fortsetzung der Kämpfe hätte vermutlich zur Vernichtung der innersyrischen militärischen Kräfte geführt.
Nach dem Verfassungsreferendum und den Wahlen in Syrien, die von der Opposition boykottiert worden waren, waren die Anti-Assad-Rebellen nicht nur politisch, sondern auch militärisch in die Defensive geraten. Selbst westliche Massenmedien kamen nicht umhin festzustellen, dass die syrische Armee weitgehend die Oberhand gewonnen und die Bewegungsfreiheit der Rebellen sehr stark hatte einschränken können. Nur unter dem Schutz der Nachbarstaaten Türkei und Jordanien konnten sie weiterhin Landstriche im Grenzbereich kontrollieren.
Neben den politischen Niederlagen im Kampf um die Unterstützung durch die Bevölkerung war es der Opposition nie gelungen, sich eine Führung zu schaffen, die von allen Kräften respektiert wurde. Noch am 1.6. beschreibt das Luxemburger Wort diese mangelnde Integration: „Die etwa fünfzig Milizen der FSA operieren derweil meist völlig autonom“.
Selbst westliche Medien mussten eingestehen, dass in den Reihen der Rebellen sehr verschiedene Interessen herrschten. Aber weder der Druck der militärischen Lage noch der der ausländischen Geld- und Waffengeber hatten diese innere Streitigkeiten und Rivalitäten soweit ausschalten können, dass ein wirkungsvolles gemeinsames Vorgehen gegen das Regime hätte erreicht werden können.
Unter solchen Bedingungen ist eine militärische Auseinandersetzung gegen eine Armee wie die syrische nicht zu gewinnen. Zudem hatte die entscheidende Unterstützung der Bevölkerung in den großen Städten nicht gewonnen werden können. Besonders Damaskus wurde mehr von Bombenanschlägen erschüttert, deren Urheber unbekannt blieben und auch vom Westen in die Nähe von Al-Kaida gerückt wurden, als von den Protesten der Bevölkerung.
Die Rebellen hatten sich in den Grenzgebieten Syriens festsetzen können. Das scheint weniger ihrer eigenen Stärke geschuldet als vielmehr der Zurückhaltung der syrischen Armee. Vermutlich wollte man in der Nähe der Grenzen keine Feindberührungen mit ausländischen Truppen riskieren, die dann zum Anlass für eine Intervention hätte genommen werden können. Immerhin hatten die USA schon sehr früh signalisiert, dass man Feuergefechte über die türkische Grenze hinweg als Auslöser für Beistandsverpflichtungen gegenüber dem NATO-Partner Türkei ansehen würde.
Zudem fanden im Mai in Jordanien Manöver einer 12000 Mann starken internationalen Truppe statt. Ob dieses Manöver gerade aus dem Grunde in Jordanien abgehalten wurde, um eine neue Front im Süden zu schaffen, kann nicht belegt werden. Denn keine der militärisch engagierten Kräfte legt ihre strategischen Absichten auf den Tisch der Weltöffentlichkeit.
Aber diese Vermutung liegt nahe, weil die USA erklärtermaßen Jordanien eine besondere Bedeutung in ihren Syrien-Plänen zuschreiben. Bisher haben weder die USA und Frankreich noch die monarchistischen Staaten der Arabischen Liga verhehlt, sich die Möglichkeit einer militärischen Intervention offen zu halten.
Wenn man also schon von der Grenze des NATO-Partners Türkei aus militärischen Druck aufbaut, wäre es aus strategischer Sicht unverantwortlich, zur Durchsetzung der eigenen Interessen nicht auch vom Süden her, also von Jordanien aus, eine zusätzliche Bedrohung aufzubauen, wenn dazu die Möglichkeit besteht. Und offensichtlich lässt sich Jordanien in diese Pläne miteinbeziehen. Mit dieser zweiten Front wird die syrische Armee nicht nur im Norden, sondern auch im Süden gebunden, in der Bekämpfung der Rebellen im Landesinneren eingeschränkt und im Ernstfalle einer Intervention in einen Zweifrontenkrieg verwickelt.
In diesem Zusammenhang ermöglichte die Waffenruhe den Rebellen, sich dem Druck der syrischen Armee zu entziehen, sich in den sicheren Rückzugsgebieten in Grenznähe neu zu organisieren und mit allem versorgen zu lassen, was zur Kriegsführung notwendig ist. Nun aber scheint man den Zeitpunkt für gekommen zu halten, die Waffenruhe und den Friedensprozess aufkündigen zu können oder zu müssen.
Wenn auch von den westlichen Massenmedien immer wieder versucht wird, die syrische Staatsmacht als allein Schuldige am Bruch der Waffenruhe darzustellen, so waren es doch gerade diese syrische Staatsführung sowie Russland und China, die in ihren Verlautbarungen immer wieder die Alternativlosigkeit des Friedensprozesses erklärt hatten. Man muss ihnen nicht trauen. Aber schwieriger ist es, an den Friedenswillen derer zu glauben, die von vorneherein am Erfolg dieses Prozesses zweifelten, weiterhin der Eskalation des Konfliktes durch Interventionsforderungen das Wort redeten und diese auch durch Waffenlieferungen vorbereiten.
Wenn nun nach den Massakern der letzten Tage der vorzeitige Abbruch des Friedensprozesses gefordert wird, so kann daraus abgeleitet werden, dass der innere Zustand der Rebellen diese veränderte Politik möglich oder aber sogar nötig macht. Es kann sein, dass der Reorganisierungsprozess als abgeschlossen angesehen wird und die Rebellen sich stark genug fühlen, um die Kraftprobe mit der syrischen Staatsmacht wieder aufzunehmen.
Andererseits kann in dem Drängen zum schnellen Handeln aber auch der Versuch gesehen werden, den weiteren Verfall der Rebellen aufzuhalten, der mit der Festigung des Assad-Regimes nach dem Referendum und den Wahlen eingesetzt hatte. Im Kampf gegen den gemeinsamen Feind sollen die inneren Widersprüche und Konflikte in den Hintergrund gedrängt und überdeckt werden. Vieles spricht für die letzte Version.
Besonders die USA und die monarchistischen arabischen Staaten drängen zur Eile. Laut FAZ vom 1.6. fordern die USA, dass der UN-Sicherheitsrat sich endlich als handlungsfähig erweisen müsse. Da man aber genau weiß, dass eine Intervention am Veto Russlands und Chinas scheitern oder aber einen langwierigen Prozess erfordern wird, drängt man, „über den Annan-Plan hinauszugehen und außerhalb der Autorität des Sicherheitsrates tätig zu werden“. Das bedeutet nichts anderes als, militärische Maßnahmen auf eigene Faust zu planen. Die Massaker dienen dabei als Rechtfertigung. Die vorgegebene Anteilnahme am Leid der Menschen in Syrien erscheint aber als Motiv sehr zweifelhaft.
Denn zu Recht befürchtet das Luxemburger Wort vom 5.6. mit der Aufkündigung des Friedensprozesses eine Ausweitung des Bürgerkrieges auf das ganze Land. Den Blutzoll für das Ende der Friedensbemühungen und die Wiederaufnahme der Kämpfe werden die Syrer zahlen und andere Länder der Region. Vermutlich werden Jordanien und die Türkei bei einer militärischen Eskalation der Lage nicht verschont bleiben. Der Libanon hat schon erste Konflikte und Tote zu beklagen.
All das aber scheint jene nicht zu stören, die nun unter Verweis auf die Opfer und das unsägliche Leid der Menschen das Ende der Waffenruhe fordern. Was wird besser werden, wenn der Konflikt eskaliert und auch die Nachbarstaaten in Mitleidenschaft gezogen werden? Wird dann das Leid der Menschen aufhören, die Toten weniger werden und der Schutz der Menschenrechte sicherer? Die Medien und Politiker wissen, dass es nicht so kommen wird. Sie benutzen die Toten von Houla für ihre eigenen Interessen, die mit denen der Menschen in Syrien nichts zu tun haben.
Deutlichstes Beispiel für diesen Missbrauch ist der Vorwurf des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Romney, die Toten in Syrien seien Ergebnis von Obamas Untätigkeit. Damit benutzt er wider besseres Wissen das Leid dieser Menschen für seine Interessen im amerikanischen Wahlkampf. Man kann zu Obama stehen, wie man will. Der Konflikt in Syrien ist aber zuerst ein innersyrischer, zu dessen Entschärfung er sicherlich hätte beigetragen haben können, wenn der gute Wille vorhanden gewesen wäre.
Aber gerade weil es sich um eine innere Auseinandersetzung handelt, hätte Obama ihren Ausbruch nicht verhindern können. Jedoch wird die Forderung der Republikaner nach einem militärischen Eingreifen mit Gewissheit nicht zur Linderung des Leids der Bevölkerung führen. Das wissen auch Romney und sein Mitstreiter, der Vietnam-Veteran McCain. Aber das ist auch gar nicht ihr wirkliches Interesse.
Für die Vermutung, dass die Angst der Interventionsbefürworter vor einem weiteren Verfall der Rebellen das Motiv für die Beendigung der Waffenruhe ist, spricht die zunehmende Unklarheit über deren inneren Zustand. Diese spiegelt sich wider in der immer konfuseren Darstellung dieser Kräfte in der westlichen Presse.
So schreibt das Luxemburger Wort am 5.6., dass „die syrische Opposition weiterhin ein Bild der Zerrissenheit vermittelt“, dass es innerhalb der Freien Syrischen Armee „keine klaren Kommandostrukturen“ gebe und zahlreiche Milizen von „salafistischen Gruppierungen unterwandert“ seien, die „mit dem Gedankengut von Al-Kaida sympathisieren“. In dieser Beschreibung drückt sich eine Aufsplitterung in immer mehr verschiedene Strömungen aus, zumindest in der Wahrnehmung von Teilen der westlichen Medien.
Auch die FAZ stellt in ihrer Ausgabe vom 3.6. fest, dass die „traditionell zerstrittene Opposition“ in immer mehr autonom operierende Gruppierungen zerfällt. Nun hat sich ein „Bündnis von Brigaden außerhalb der Freien Syrischen Armee“ gebildet und offensichtlich aus dem bestehenden Bündnis gelöst. Neben diesen Streitigkeiten im Rahmen und Verbund der FSA bestehen zudem noch weitere Differenzen zwischen der FSA und den Lokalen Koordinationskommitees, die „weiterhin auf friedlichen Widerstand“ (LW 5.6.) setzen.
Dieses Bild der Zerstrittenheit wird verstärkt durch die unterschiedliche Umgangsweise mit der Aufkündigung des Annan-Planes innerhalb der Freien Syrischen Armee selbst. Während Saadeddin als Sprecher der FSA Assad ein Ultimatum stellte zum Rückzug seiner Truppen aus den Wohngebieten, erklärte Riad Asaad aus seinem türkischen Exil dieses Ultimatum für ungültig und forderte, den Friedensplan sofort für gescheitert zu erklären und die Kämpfe wieder aufzunehmen. Die Führung der FSA in Syrien beansprucht in der Folge für sich das alleinige Recht, Presseerklärungen abzugeben.
Damit hinterlässt die Opposition zumindest in der Darstellung der Medien nicht den Eindruck einer innerlich gefestigten Formation, die die Zuversicht ausstrahlt, aus eigener Kraft die Macht im Lande übernehmen zu können. Insofern ist es nachvollziehbar, dass die Befürworter einer Intervention nicht das Ende des Friedensprozesses abwarten wollen. Zu groß scheint die Gefahr, dass sie mit dem weiteren Schwinden der oppositionellen Kräfte um die Verwirklichung ihrer Interessen und Absichten bangen müssten. Gerade dass immer mehr Unterstützung von außen kommen muss, ist ein Eingeständnis, dass die Kräfte im Inneren schwinden.
Aber ohne diese syrischen Verbände, die im Land selbst die Kämpfe bestreiten, ist das Unternehmen, das zu einem Machtwechsel in Syrien führen soll, zum Scheitern verurteilt.
Sowohl in Washington als auch Paris wird immer wieder beteuert, dass man nicht zum Einsatz eigener Bodentruppen bereit oder in der Lage ist. Nach den Kriegen in Irak und Afghanistan sind die Völker kriegsmüde und die Staaten pleite.
Will man in Syrien Erfolg haben in der militärischen Auseinandersetzung muss man sich wie im Libyenkonflikt auf Kräfte stützen können, die den Blutzoll zu zahlen bereit sind. Nur, im Gegensatz zu Libyen ist die Opposition in Syrien nicht geeint unter einer gemeinsamen Führung, die von allen Kräften akzeptiert wird. Und je länger diese Vereinheitlichung ausbleibt, umso aussichtsloser wird der Sieg der syrischen Opposition aus eigener Kraft und umso unverzichtbarer die Unterstützung von außen.
Da man eigene Bodentruppen nicht einzusetzen bereit ist und die Kräfte der syrischen Opposition nicht auszureichen scheinen, werden zunehmend Kräfte aus der Region ins Spiel gebracht, wie die belgische Zeitung De Standaard in ihrer Ausgabe vom 29.5. auf Äußerungen von Kofi Annan verweist. Das trägt aber die Gefahr in sich, dass der Nahe Osten durch eine Eskalation des Syrienkonfliktes in Brand geraten könnte mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Region. Diese Befürchtungen scheinen neben Russen und Chinesen zunehmend auch deutsche Politiker zu teilen, weshalb in Europa vor allem Deutschland zur Fortsetzung der diplomatischen Bemühungen mahnt.
Die Befürworter der Intervention sind keine naiven Menschenrechtsenthusiasten, besonders wenn man die Lage der Menschenrechte in einigen dieser Staaten betrachtet, die in Syrien Krieg führen wollen für die Einhaltung dieser Menschenrechte. Sie alle sind politisch so erfahren, dass sie um diese Gefahren wissen müssten. Wenn aber trotzdem neben diesen monarchistischen Staaten des Nahen Osten Clinton und Hollande die Aufkündigung der Friedensinitiative und die militärische Aktion befürworten, dann nicht, weil sie die Folgen nicht kennen, sondern weil sie diese in Kauf nehmen.
Die Anteilnahme der Menschen im Westen mit den Menschen in Syrien ist echt, auch wenn ihr die Manipulation durch die Medien und Regierungen zu Grunde liegt. Die Mehrzahl der Menschen will, dass es allen gut geht. Das macht sie anfällig für den Missbrauch ihrer mitmenschlichen Gefühle für Interessen, die unter dem Deckmantel der Humanität andere Ziele verfolgen.
Medien und Regierungen vor, im Interesse der Menschen in Syrien zu handeln. Die meisten Medien stützen sich dabei aber einseitig auf die Berichte der Opposition und vertreten damit deren Interessen. Diese Einseitigkeit der Berichterstattung geht mittlerweile so weit, dass Youtube nach Aufforderung des Syrischen Nationalrats die Darstellungen der regimetreuen Videoplattform Syriatruth nicht mehr ins Netz stellt. (LW 31.5.).
Von einer sachlichen und auf Beilegung des Konfliktes ausgerichteten Berichterstattung kann nicht die Rede sein. Vielmehr werden die Kräfte medial unterstützt, die der Aufkündigung des Friedensprozesses, aber auch der Bewaffnung der Rebellen, ja sogar der militärischen Intervention das Wort reden. Wenn es wirklich um das Beenden des Tötens und um das Leid der Menschen geht, ist aber gerade eine Eskalation des Konfliktes genau die falsche Antwort.
Bücher des Autors:
Kolonie, Konzern, Krieg – Stationen kapitalistischer Entwicklung