Das Credo der heutigen Zeit heißt: Intelligenz, Macht, Cleverness. Wichtig erscheint es nach außen ein Bild abzugeben, das diesem Credo entspricht, auch und gerade in der Wirtschaft. Gefangen im Hamsterrad besteht kein Platz für Fragen und Themen wie sie in den vorausgegangenen Artikel behandelt wurden:
Vom Wissen zur Weisheit – Teil I – Teil II
Wohin es führen kann, wenn der geeignete Rahmen dafür geschaffen wird, zeigen das folgende Gespräch und ein autobiographischer Bericht über Kindheit und Beruf.
Gespräch des Autors mit einer Führungskraft in einem internationalen Konzern. Über die jahrelange berufliche Zusammenarbeit war ein Vertrauensverhältnis entstanden, so dass auch persönliche Themen erörtert wurden. Des Weiteren war der Autor mit dem Werdegang der Führungskraft und dessen Vorliebe für die Rockmusik und das Gitarrespielen vertraut. Wenn im vorliegenden Erfahrungsbeispiel auch die Musik- bzw. Hörbegabung zur Sprache kommt, so lassen sich die Überlegungen auf jede andere Begabung übertragen.
TW: Autor
RF: Führungskraft (alle Namen geändert)
TW: Lasse uns darüber sprechen, was in der Wirtschaft falsch läuft und was das mit uns zu tun hat.
RF: Bei deiner Frage, was in der Wirtschaft falsch läuft, denke ich da an unsere Klausur mit Abteilungsleitern: Wie wir aneinander vorbei redeten, weil jeder seine eigenen Interessen durchdrücken wollte. Wie du als Moderator und Coach uns die individuellen Stärken und die versteckten Rivalitäten bewusstgemacht hast.
TW: Ja, das habe ich konkret vor Augen: Da ist der Herr Voss mit seinem Verständnis für logisch-systematische Zusammenhänge, dessen Analysen von den anderen als abstrakt und praxisfern heruntergespielt werden. Oder der Herr Kastner mit seinem Zahlenverständnis, dessen Vorschläge die anderen mit „Erbsen zählen“ abtun. Oder der Herr Medam mit seinem Sinn für elegante Lösungen, die den Neid der anderen erwecken und zerredet werden. Jeder argumentiert mit seiner Stärke. Jeder fühlt sich unverstanden und von den anderen ausgebremst. Und am Ende bewegt sich nichts. Hier kann man ansetzen: Was läuft hier falsch? Was verhindert, dass sich die Personen aufeinander einlassen? Warum bewegt sich nichts? Das heißt die persönliche Erfahrung, das je eigene Anrennen, Kämpfen und Scheitern an den Anfang zu stellen.
RF: Das berührt mich. Deshalb, weil es an die Grenze führt und dahin über negative Erfahrungen, über das Scheitern sprechen zu müssen. Wer will das schon? Wenn ich ehrlich bin, dann muss ich eingestehen: Auch ich renne täglich gegen eine Wand. Das passt nicht ins Bild, Erfolgsgeschichten zu schreiben oder durch Professionalität zu glänzen.
TW: Ich sehe die Grenze noch an einer anderen Stelle. Und zwar da, wo man als persönlich Betroffener nicht mehr sachlich-neutral über Kennzahlen, Tools und Quartalsziele sprechen kann. Dieser Zugang erfordert die ungeschminkte, persönliche Innensicht. Nicht die nüchterne Distanz. Nicht der Hochglanzblick der Werbung. Genau diese ungeschönte Innensicht möchte man am liebsten aussperren. Sie gehört nicht in eine Klausur, in einen beruflichen Kontext. Sie ist nicht replizierbar, nicht objektivierbar. Sie ist nicht werbewirksam. Sie ist einfach zu trivial, zu intim.
RF: Jedoch; was könnte daraus erwachsen? Dann, wenn man bewusst auf Überprüfbarkeit verzichtet. Wenn man scheinbar nur von sich erzählt. Ohne überzeugen zu wollen. Einfach darüber zu berichten, wie schwer es uns fällt, den Menschen ins Zentrum zu stellen. Wie wir dazu neigen, die Innensicht, die persönliche Erfahrung auszuklammern. Wie leicht wir uns tun, theoretisch über Wirtschaft zu sprechen. Und wie wir stillschweigend davon ausgehen, dass das Wesentliche darin enthalten ist.
TW: Mir scheint wir haben einen guten Ansatzpunkt gefunden: Das individuelle Erleben und die persönlichen Fragen, die jeden beschäftigen, ohne darüber zu sprechen: Befriedigt mich das, was ich tue? Mache ich das, was ich immer wollte? Welchen Sinn hat das, was wir zusammen machen?
RF: Und wie können wir uns über das konkrete Tun näher kommen? Wie kann man besser verstehen, wer man ist? Besser verstehen, worüber man sich definiert? Damit kann man sich aus Schubladen befreien. Das kann Grenzen aufheben, Trennungen überwinden. Zum Beispiel die zwischen persönlichen und beruflichen Beziehungen, wie ich diese erfahren habe. Wie auf einmal Dinge zusammenfinden, die zusammengehören, weil sie eins sind. Welche Glücksgefühle, welche Freude, welche Erleichterung dadurch entsteht. Auch wenn es im ersten Augenblick nicht greifbar, nicht möglich erscheint.
TW: Ja, auch die Stärke zu entwickeln abgetrennte Seiten, die bislang außen vor geblieben sind, bewusst in den Berufsalltag einzubringen. Nicht nur oberflächlich. Nicht nur strategisch. Sondern stimmig und authentisch. Zum Beispiel dein Musikverständnis, dein Ringen mit der Musik, mit Tönen, mit Griffen an der Gitarre. Den Bereich klammerst du bislang aus. Stelle dir vor: Diese Seite in dir wäre in der eingangs erwähnten Klausur voll präsent. Nichts läge dir näher. Nirgends könnten dich die Anderen authentischer erleben. Verstehst du das?
RF: Ein Stück weit ja und zugleich fällt es mir schwer, es zu versuchen. Eher weise ich es von mir.
TW: Du hast selbst gerade davon gesprochen, Trennungen zwischen Beruf und Privatleben zu überwinden. Und du hast dieses brachliegende Wissen über Musik, über Klänge, über Sound. Doch im Zweifelsfall wählst du in besagter Klausur lieber Fußball, um daran etwas deutlich zu machen. Obwohl dir das gemeinsame Musikmachen viel näher liegt als der Fußball.
RF: Sicher auch, weil Fußball bestimmte Merkmale aufweist, die es erlauben, Andere leichter zu öffnen. Nein?
TW: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass du viel überzeugter, viel begeisterter über Musik sprechen kannst als über Fußball. Über die Hingabe beim Gitarrespielen, über das Improvisieren in der Gruppe, darüber wie Sound entsteht, was ihn ausmacht.
RF: Das stimmt!
TW: Da bist du dir näher. Aber: Da bist du auch ausgelieferter.
RF: Weshalb?
TW: Wenn da ein Herr Voss mit dem Argument kommt: Jetzt bringt der RF seinen Gitarrenkurs bei der Volkshochschule zum Besten! Wenn solche ironischen oder gar verächtlichen Kommentare kommen würden, dann wärst du ausgeliefert. Dann wäre deine Verletzlichkeit tausendfach gesteigert. Deshalb, weil du dich über dein Gitarrenspiel und deine früheren Erfahrungen in deiner Rockband identifizierst. Nach allem, was ich von dir weiß: Hier sitzt dein innerer Kern, dein rebellisches Kindheits-Ich, dein heimliches Lebensideal. All dem bist du emotional tausendmal näher wie deiner Rolle als äußerlich angepasste Führungskraft. Diese starke Gefühlsbindung, diese intime Nähe macht dich viel leichter angreifbar, viel verletzlicher.
RF: Ja, daran habe ich nicht gedacht!
TW: Zugleich: Kein Thema wäre besser geeignet, zu zeigen, worum es geht. Wie bringe ich mich ganz in die Wirtschaft ein? Wie bekenne ich mich zu dem, was ich im Innern bin und sein will? Wie bringe ich Innen und Außen zusammen? Konkret für dich gedacht: Wie können sich dein musikalischer und dein betriebswirtschaftlicher Zugang gegenseitig befruchten? Wie erzeugst du in deinem Leben Sound, wie im Geschäft, in der Zusammenarbeit mit anderen? Wäre das nicht eine ungeheuer reizvolle Lebensaufgabe?
RF: Zweifelsohne!
TW: Und wäre die Entsprechung zu mir nicht da, wo ich einen Zugang zur Kindlichkeit, zu individuellen Begabungen habe? Dort, wo ich einen natürlichen Zugang zu den Fragen habe, warum Menschen vor sich selbst weglaufen, wo ihr kreatives Potential, ihr inneres Kraftzentrum zu finden ist? Und dort, wo ich ein tiefes, heimliches Verlangen habe, Erwachsenen ihr kindliches Potential zurückzugeben. Wäre da nicht die Entsprechung zu deiner Sehnsucht nach dem tollen Sound, zu deiner Suche nach begeisternder Schönheit in allen Formen?
RF: In der Tat, da ginge es dir ähnlich wie mir.
TW: Und wäre ich mit meinem Zugang nicht genauso ausgeliefert wie du bei Musik und Kunst? Wie passen Kindlichkeit und Verletzlichkeit in die Wirtschaft? In eine Welt harter Fakten und nüchterner Zahlen. Hätte ich in dieser Welt eine echte Chance, Gehör zu finden, verstanden zu werden? Wäre mein Scheitern als Berater nicht vorprogrammiert, wenn ich gestandene Manager an ihre Spiele als Kinder erinnern würde, um sie aus eingefahrenen Druckschienen zu befreien?
RF: Das wäre zugegeben reichlich komisch, um nicht zu sagen exotisch.
TW: Wenn wir beide uns also zu dem bekennen würden, was wir im Innern sind: Wären wir in dieser Wirtschaft nicht Fremde, Spinner, Exoten?
RF: Gemessen an dem, was ich tagtäglich in meiner Arbeit erfahre, ja. Es gilt: Was du im Innern bist und sein willst, zählt nicht. Mach es mit dir selbst aus, aber nerve die anderen nicht damit. So ist das Geschäft. So ist die harte, raue Wirklichkeit. Damit musst du dich abfinden.
TW: Aber stelle dir vor: So wie uns beiden ginge es allen Menschen in dieser Art von Wirtschaft? Dann wären am Ende alle Fremde: Fremd sich selbst gegenüber: Weil sie das nicht leben, was sie im Inneren sind. Fremd für alle anderen: Weil sie anderen etwas vorspielen, was sie nicht sind. Kann es sein, dass in der Wirtschaft ein kollektives Experiment am Laufen ist, das lautet: Wie weit können wir Menschen uns von uns selbst entfernen? Wann wachen wir auf und begreifen, was wir uns selbst und gegenseitig antun?
RF: Das könnte sein: Jeder orientiert sich am anderen. Jeder wartet auf den anderen. Keiner möchte als Exot gelten. Daher machen alle mit, obwohl jeder insgeheim spürt, dass die Sache in die falsche Richtung läuft. –
Nachtrag: Das wiedergegebene Gespräch mit RF, das Teil einer Serie von Gesprächen war, beinhaltete auch die Rekonstruktion der musikalischen Entwicklung und die Integration der musikalischen Begabung ins Berufsleben. Folgendes schrieb mir RF einige Zeit nach unserem Gespräch:
„Keine Sätze haben mich je so aufgewühlt wie diese drei:
Ich bin Musik.
Ich bin Wirtschaft.
Musik, Wirtschaft und ich sind eins.
Wenn diese drei Sätze wahr wären, dann hätte ich Jahrzehnte von meinem wahren Wesen getrennt gelebt. Meine Wirklichkeit als Vierzigjähriger ist in zwei Welten getrennt: Musik ist seit meiner Kindheit meine wichtigste Freizeitbeschäftigung, Wirtschaft seit meinem Studium mein berufliches Tätigkeitsfeld. Lange glaubte ich zu wissen, was Musik ist, was Wirtschaft ist, wer ich bin. Wenn es sich erweisen sollte, dass Musik, Wirtschaft und ich eins sind, dann komme ich nicht umhin, meine Vorstellungen von allen dreien über Bord zu werfen. Wenn ich dies aber tue, wer sitzt dann noch im Boot?
Die Rekonstruktion meiner frühesten Begegnungen mit Musik förderten einige schmerzliche Erlebnisse zutage. Offenbar übte der E-Moll Akkord auf der Gitarre eine viel tiefere und nachhaltigere Wirkung auf mich aus, wie auf meinen Schwager, der mir den Griff beibrachte. Offenbar erfasste ich aus der Liedmelodie „My Sweet Lord“ von den Beatles mehr von der Botschaft des Christentums wie meine pflichtbewusst gläubigen Eltern. Was wäre, wenn diese wenigen Erlebnisse, an die ich mich heute erinnern kann, nur die Spitze des Eisberges wären? Ist es möglich, dass ich als achtjähriger Junge so viel mehr wusste über Musik, über Religion, über mich selbst, wie das, worüber ich heute stolz bin? Kann es sein, dass ich es wusste, aber nicht ausdrücken und anderen mitteilen konnte? Und kann es sein, dass ich Zug um Zug, Jahr für Jahr all dieses Wissen der Anpassung zuliebe geopfert, mich aus Protest ob der Zurückweisung durch Andere selbst verleugnet habe? Wenn ich eine solche Trennung vollzogen hätte, dann müsste sie gründlich erfolgt sein und alle Lebensbereiche umfassen. Lange habe ich nicht gewusst oder geahnt, dass die von mir so verehrte Rockmusik destruktive Züge haben kann. Die Seite des Widerstandes gegen das Establishment habe ich wohl registriert und durchaus bejaht. Die Seite der Manipulation, der Entfremdung, ja der Hässlichkeit, beginne ich erst jetzt zu erkennen. Was ich höre, macht mich unsicher: Kann ich meinen Ohren noch trauen? Könnte ich viel besser zwischen aufbauendem Sound und zersetzendem Missklang hören, wenn ich mich mit meinen frühen Quellen wieder verbinden würde?
Ebenso in der Wirtschaft. Wie sehr menschliche Werte auf der Strecke bleiben, sehe ich tagtäglich. Könnte ich aber noch mehr erkennen, wenn ich nur genauer hinhören würde? Könnte ich das, was falsch läuft im Medium des Klanges bzw. Missklanges noch präziser fassen? Und käme ich, wenn ich mich auf einen solchen Erkenntnisweg einließe, zu Lösungen für gegenwärtige Probleme? Zu Lösungen, die mehr als alles andere das ausdrücken, was ich zu leisten vermag, wer ich bin? Mich jedenfalls haben die Sätze, den Klang des Geschäftes hören und den Klang der Seele hören, elektrisiert, wachgerüttelt. Nach alledem, was ich über mich erfahren habe, sind dies keine leeren Worte mehr für mich. Gibt es da Dinge zu hören, wenn ich mich dafür öffne, mich dafür empfänglich mache?“
***
Thomas Weis, Jahrgang 1954, hat in Tübingen Erziehungswissenschaft und Psychologie studiert und in Sozialwissenschaften promoviert. Forschungsaufenthalte führten ihn an die Berkeley Universität, USA und die Chulalongkorn Universität, Thailand. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst freiberuflich als Psychotherapeut sowie als Führungstrainer an den Dualen Hochschulen Baden-Württemberg und im Career-Service an der Universität Ulm. Danach konzentrierte er sich auf die Teamberatung in Unternehmen und das Coaching von Führungskräften. Seit 2010 ist er auch in China tätig. Neben der Unterstützung von Firmen engagiert er sich dort als Initiator und Trainer für Selbsthilfeprojekte und kulturangepasste Gruppentherapie. In der Erwartung eines bevorstehenden gesellschaftlichen Bewusstseinswandels setzte er sich seit Mitte der 90er Jahren – inspiriert von den Lehren der zeitlosen Weisheit und alternativen Konzepten (Schauberger, Gesell, Beuys) – intensiv mit den Themen Teilen, neues Denken, Gruppenbewusstsein auseinander. Nachdem sich ein wachsendes Interesse in diese Richtung abzeichnet, hat er begonnen, seine Erkenntnisse und Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Sein zusammen mit Thorsten Wiesman verfasstes Buch: „Dare to share/Wage zu teilen: Wie Teilen unser Weltbild verändert“ wird in Kürze erscheinen. Bei den in diesem Portal veröffentlichen Artikeln handelt es sich um Auszüge aus diesem Buch.
(Kontakt: t.weis [ät] theintelligence.de)