Freitag , 26 April 2024
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Eurovision Song Contest als Spiegel des Zeitgeists

lordi hard rock hallelujahWie aus einigen Beiträgen von mir deutlich herauszulesen ist, bin ich der Ansicht, dass der Zeitgeist in einer ganz schweren Krise steckt. Die Menschen werden aggressiver, unruhiger, gehetzter, getriebener. Es gibt immer weniger funktionierenden Familien, aber dafür mehr psychisch Kranke. Fast scheint es als ob jene Worte, die der Wiener Kabarettist Gerhard Bronner den „Wilden auf seiner Maschin’“, eine Motorradlegende, in den Mund legte: „Ich weiß zwar nicht, wo ich hinfahr‘, aber dafür bin ich schneller dort“, zum Lebensmotto sehr vieler wurde.

Dass meine Theorie leider stimmt, lässt sich an unleugbaren Tatsachen deutlich feststellen. Die Statistiken über das Suchtverhalten der Bevölkerung sind nicht manipuliert. Alkohol, Drogen und vor allem Psychopharmaka erleben eine ungeahnte Konjunktur. Ein weiterer Weg, der realen Welt zu entkommen, ist übermäßiger Konsum von Unterhaltungselektronik, inhaltsloser Actionfilme und einiger anderer Arten des Zeitvertreibs, die sich auf die Denk- und Urteilsfähigkeit sicher nicht positiv auswirken.

Dieses Fluchtverhalten aus der Wirklichkeit lässt sich meiner Ansicht nach leicht erklären: Eine Welt, in der es kaum mehr Lob, Anerkennung und Aufstiegschancen gibt, lädt wohl dazu ein, sich in einer Scheinwelt wohler zu fühlen.

Ähnliches war schon während der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre zu beobachten. Doch der Stil der Ablenkung hat sich gewaltig geändert. Und so schwenke ich endlich zum Eurovision Song Contest, an dem sich wunderbar ablesen lässt, wie sehr sich unsere Gesellschaft verformt hat. Ursprünglich „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ genannt, bietet diese Veranstaltung seit 1956 Komponisten und Liederschreibern eine Chance, Berühmtheit zu erlangen.

Wir sind uns hoffentlich alle einig, wie sehr sich Musik auf unser seelisches Befinden auswirkt. Ob im Konzertsaal, im Operhaus, bei einem Schlagerfestival, beim Volksfest, beim Rock-Konzert oder bei der Love-Parade, jede Art von Musik bringt ihre ganz spezifische Stimmung mit sich. Wie sehr sich der Geschmack der Menschen im Laufe der vergangenen Jahrzehnte jedoch geändert hat, lässt sich sehr gut an den Siegertiteln beim Song Contest ablesen.

Lassen sich mich die extremen Gegensätze zwischen einst und jetzt anhand von zwei Beispielen beleuchten:

Es war 1964 in Kopenhagen, als ein 16-jähriges Mädchen aus Italien mit dem Lied „Non ho l`Eta (per amare ti“ – zu Deutsch: „Ich bin nicht alt genug, um dich zu lieben“) einen überlegenen Sieg feierte. Gigliola Cinquetti trug ein knielanges dunkles Kleid ohne tiefen Ausschnitt, während sie mit sanfter Stimme ins Standmikrophon sang. Keine sich akrobatisch verbiegenden Tänzerinnen umschwirrten sie und keine Lasershow sorgte für fulminante Lichteffekte. Nein, ein junges, dezent geschminktes Mädchen mit unschuldigen Augen verzauberte das Publikum mit ihrer schüchternen Liebeserklärung. (Ob es, wie damalige Gerüchte besagten, neun Monate später tatsächlich zu einem Anstieg der Geburtenrate kam, lässt sich leider nicht verifizieren.)

In welche Art von Stimmung versetzt hingegen der Siegertitel aus dem Jahre 2006, „Lordi – Hard Rock Hallelujah“? Ich erspare mir den Wortschwall, der mir auf der Zunge – oder in den Fingerspitzen – liegt. Eine Assoziation mit Fegefeuer liegt wohl näher als mit Engelstönen. Und Babyboom löst derartige Musik wohl auch keinen aus.

Jetzt höre ich den Aufschrei so manchen Lesers, dass sich die Zeiten ändern, und dass es sich beim Autor wohl um einen Rückspiegelfahrer handelt. Richtig, die Zeiten ändern sich. Aber warum gerade in diese Richtung: von Harmonie zu Aggression, von Romantik zu Sex, von Mitgefühl zu Egoismus? Der Mensch ist doch vernunftbegabt. Aus welchem Grunde soll all das, was unter den Begriff der „Menschlichkeit“ fällt, als überholt abgelehnt werden?

Ich fürchte, jungen Leuten, die bereits unter den Aspekten des neuen Zeitgeists aufgewachsen sind, fehlt es leider oft an der Bereitschaft, jener Musik wirklich zuzuhören, die jenseits des modernen Weltbildes steht. Ich will dabei gar kein Urteil über den künstlerischen Wert abgeben. „Non ho l’Eta“ ist einfach ein Schlager. Doch ich glaube, schon eine kurze Hörprobe der beiden zitierten preisgekrönten Songs, 1964 und 2006, vermittelt deutlich, wie sich unsere Welt verändert hat.

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