Was würde geschehen, wenn wir die Nutzung unseres gesamten Fachwissens – und heutzutage ist ja jeder auf seinem ganz speziellen Gebiet ein Experte – als ein Gemeingut und nicht als eine kommerzielle Dienstleistung organisieren würden? Die Geschichte menschlicher Zivilisation ist die jeweils dominanter Organisationsformen. Stammesgesellschaften hielten zusammen über die Schenk-O?konomie. Vorkapitalistische Gesellschaften verteilten Chancen rein auf der Grundlage des sozialen Status. Im marktfundamentalistischen Kapitalismus herrschten die ungebremsten Kräfte der Kommerzialisierung. Jetzt besteht die reale Chance – und auch brennende Notwendigkeit – in eine neue Organisationsform der Zivilisation überzugehen, die der „Commons“ – oder der Gemeingüter.
Hinter diesem Übergang, hin zu einer neuen Form des gerechten Teilens aller Ressourcen der Welt, stehen inzwischen unzählige Aktivisten, Netzwerke, Pionierinnen und Pioniere sozialer und o?kologischer Innovationen und auch ganz konkrete Initiativen des sogenannten „Commoning“.
In einem Buch wird nun endlich einmal ein Überblick solcher Initiativen zusammengetragen und zwar von Autorinnen und Autoren aus nicht weniger als 30 La?ndern, die aus ganz verschiedenen Blickwinkeln 73 Essays verfassten unter dem Titel: „Commons – Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat“. Eine Präsentation dieses Buches fand am 4. Dezember 2012 an einem denkwürdigen Ort statt: Der American Academy in Berlin Wannsee. Vorgestellt wurde es von Silke Helfrich, der wohl wichtigsten deutschen Commons-Vordenkerin, und David Bollier, einem der einflussreichsten amerikanischen Commons-Experten. Zusammen fungieren sie als Herausgeber des gleichzeitig auf deutsch und englisch verlegten Buches. Zur Präsentation anwesend waren Vertreter aus Industrie, Politik, Kultur und Wissenschaft. Um es vorweg zu nehmen: Heraus kam eine tiefgreifende Diskussion über den aktuellen Kulturwandel und das, was sich am Horizont als nichts Geringeres als eine neue Zivilisation abzeichnet.
Wie ist das, wenn Denkkategorien aufbrechen und Neuem Platz bieten? Oder vielleicht ist das Neue für uns eigentlich auch das Vertrauteste. Sind wir nicht alle eigentlich vom Herzen her auf Kooperation ausgelegt? Dies eben prädestiniert uns, eine vielfältige Kultur des Commoning blitzschnell jetzt global durchzusetzen, so Helfrich und Bollier, die auf unzählige eigene Erfahrungen mit Begegnungen zwischen Menschen verschiedener Kulturen zurückgreifen können. Sie sagen aus Überzeugung: Die Idee der Gemeingüter erzeugt in uns allen eine gemeinsame Resonanz, die uns anspornt die beengende politische Kultur und Denkweise abzuschütteln, die das Markt-Staat-Duopol uns aufgezwungen hat.
Um die Politik der Zukunft gestalten zu können, braucht es Pioniere, die sich lokal und international gegen die weitere Privatisierung und Kommerzialisierung von Natur, Wissen, öffentlichem Raum und fu?r eine andere Form der institutionellen Organisation einsetzen. Dabei geht es vor allem auch immer um die Frage, wie die Gemeingüter durch die Sta?rkung vertrauensvoller und fairer sozialer Beziehungen geschu?tzt und weiterentwickelt werden ko?nnen.
Die Unterdrückten der Erde tun sich zusammen und begehren gegen ihr Schicksal als Ausgebeutete oder moderne Sklaven auf. Oft haben sie etwa über die Medien vom Reichtum in anderen Ländern erfahren, und verlangen ihren gerechten Anteil an diesem. Gleichzeitig wächst aber auch bei den jungen Menschen in den reicheren Ländern ein neuer Sinn für Gerechtigkeit und Verantwortung heran. Von diesen Menschen geht eine reinigende Kraft aus, die uns alle in Richtung des Gemeinwohls trägt.
Schon sehen wir eine Kultur sich aufstellen, bei der alle Dinge an der Messlatte des Gemeinwohls gemessen werden: Was dem Gemeinwohl dient, darf bleiben, was es behindert, muss verschwinden. So wird immer offensichtlicher, dass ganz neue Werte die Menschen zu beflügeln beginnen. Denn die bestehende Ordnung bietet ja keinen plausiblen Weg in die Zukunft und aus der dysfunktionalen Verquickung von Markt und Staat. Wir selbst mu?ssen diesen Weg bahnen! Aber auch die Politik unterstützt uns, zumindest indirekt, dabei.
Die Heinrich-Bo?ll-Stiftung der Partei „Die Grünen“ engagiert sich so etwa seit 2007 aktiv fu?r die Commons als Politik der Zukunft und für den Wohlstand durch das Prinzip des Teilens. Indirekt, denn das dualistische Weltbild hat sich in den Köpfen der Parteien festgesetzt. Es hat sich der Sprache und des Denkens bemächtigt. Es wirkt von innen her Veränderungen entgegen. Der konventionelle politische Diskurs, selbst ein Artefakt aus einer anderen Zeit, vermag unsere Probleme nicht adäquat zu benennen. Noch vermag er Alternativen zu formulieren oder Visionen zu entwerfen. Die derzeitige dominierende politische Sprache ist in sich selbst gefangen. Gefangen in Marginalien wie Betreuungsgeld. Gefangen in Dualismen wie öffentlich versus privat oder kommerziell versus nicht-kommerziell. Und gefangen in dem Konkurrenzdenken von politischen Siegern und Verlierern.
Die Sprache der Commons demgegenüber denkt in Beziehungen und befreit uns so aus einer verhängnisvollen Naturideologie der Trennung. Der Commons-Gedanke u?berwindet die Kategorien der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Ordnung. „Er identifiziert“, so Helfrich und Bollier, „die Beziehungen von Belang und deren operative Logik – sowohl in der Art, wie wir produzieren, als auch in der Art, wie wir unsere gesellschaftlichen Verhältnisse ordnen.“ Schon in dem Moment, in dem wir die Sprache der Commons nutzen, beginnen wir, eine andere Kultur zu schaffen. Wir ho?ren auf, Kunden oder Manager zu sein oder uns permanent mit den Konkurrenten abzugleichen. Wir beginnen, in Beziehung zu sein, als Commoners eine Kultur der Treuhänderschaft, Mitverantwortung und Teilhabe fu?r die gemeinsamen Ressourcen zu entwickeln und zugleich das Recht auf die Gestaltung des eigenen Lebensraums und der eigenen Lebensverha?ltnisse zu verteidigen. Wir erkennen uns als interaktive Akteure größerer Gemeinschaften und Zusammenha?nge.
Die Idee, dass sich jeder soviel vom Ganzen nehmen darf, wie er will, ist ein Wolf im Schafspelz. Der Mythos des sich selbst überlassenen Marktes ist ein Irrlicht. Er ist eine selbstgefällige, gefährliche Ta?uschung. Er untergräbt die tragende Rolle der Gemeinschaft. Er zerstört die existentiellen Beziehungen zur Natur und zwischen Menschen. Wer den Weg des ungezügelten Marktes geht, ist dem Tode geweiht. Wer den Weg der Commons wählt, wählt das Leben.
Mit den Gemeingütern, und einem diesem entsprechenden Denken, treten wir aus dem System der Trennung und hinein in das Netz der Teilhabe. Und dies, sobald wir uns dazu innerlich bereit machen, etwa indem wir uns mit Mitmenschen zusammentun, die sich schon für diese neue Idee weiter geöffnet haben als wir selbst. Denn die Tatsache der Gemeingüter ist so stark, dass sie sich ständig weiter hervorbringt. Sie ist ja das kreative geistige Prinzip hinter der Natur selbst und verbindet uns so nach längerer Trennung wieder mit dieser. Je mehr wir uns so heilsam für das Neue öffnen, und selbst wieder andere Menschen inspirieren, desto mehr werden uns die Grundbegriffe einer neuen Sprache aufgehen, die jetzt Politik, Wirtschaft und Kultur völlig verwandeln wird: Einheit in der Vielfalt und Bezogenheit. Gelingen gleich Konsens. Open Source. Gewinner ist, wer am tiefsten mit der Gemeinschaft verbunden ist. Kultur der Kunst des Lebens.
Nur durch Trusts, also gemeinnützigen selbstverwalteten Stiftungen in der Hand der Bürger, kann im Laufe der Zeit ein umfassendes commons-basiertes Wirtschafts- und Gouvernance-System entstehen. Die Menschen sind gemeinsam dann der Souverän und nicht mehr die Regierungen. Mehrebenen-Entscheidungsprozesse sind notwendig, um u?ber die bisherige Bürokratie staatlicher Institutionen hinaus zu gelangen. Die Menschen werden vom Staat dann als Treuhänder anerkannt, die die Rechte auf ihre Ressourcen auf allen Ebenen gemeinsamen Besitzes einfordern. Das kommende globale Wirtschaftssystem wird also nicht mehr auf den Anspru?chen von Unternehmen oder in staatlicher Souveränität gru?nden, sondern auf den souveränen Rechten der Menschen auf ihre Gemeingüter.
Die Gemeingüter funktionieren nur, wenn niemand aus der Gemeinschaft herausfa?llt. Niemand muss an Commons-Projekten mitmachen, aber viele vera?ndern sich, wenn sie es tun. Denn die Menschen entdecken, sie ko?nnen in solchen Projekten das leben, was sie eigentlich immer schon sind: gesellschaftliche Wesen, die gemeinsam ihre Lebensbedingungen erschaffen. Dies steht im Gegensatz zur gegenwärtigen Marktlogik des Profitstrebens. Ein zentraler Lernschritt im Commoning liegt also vor allem darin, zu verstehen, dass die eigenen Bedu?rfnisse nur dann beru?cksichtigt werden, wenn die Bedu?rfnisse der anderen ebenfalls in den gemeinsamen Aktivita?ten aufgehoben sind. Dieser Aspekt des Lebens nach dem Prinzip des Teilens heißt „strukturelle Inklusion“, oder „Ubuntu“. Ubuntu bedeutet in etwa Menschlichkeit, Na?chstenliebe und Gemeinsinn. Die Ubuntu-Philosophie der Vo?lker der Zulu und Xhosa formuliert dies so: „Ich bin, weil du bist, und ich kann nur sein, wenn du bist.“
Commoning bedeutet dementsprechend co-kreativer Individualismus, der die Menschen in die Lage versetzt, innerhalb starker, produktiver und selbstverantwortlicher Gruppen zu denken, zu fu?hlen, neue Fähigkeiten zu erwerben und zu handeln, ohne dabei je die eigene Autonomie aufzugeben.
Die Kultur der Gemeingüter ist schließlich so auch diejenige, die tatsächlich mit der aktuellen Wissenschaftserkenntnis übereinstimmt. Die Biologie hat inzwischen erkannt, dass die Natur ein Gemeingütersystem ist, und so besteht konsequenterweise die einzige Mo?glichkeit, ein beglu?ckendes Verha?ltnis zu ihr aufzubauen, in einem Haushalt der Gemeingu?ter. Die Teilchen in der Quantenphysik werden nicht mehr als isolierte, voneinander unabhängige Objekte gesehen, die wiederum isolierte Wirkungen hervorbringen. Die Wahrnehmung der Teilchen ist wie die Wahrnehmung sozialer Akteure nur ein Aspekt der zugrundeliegenden Wirklichkeit. So wie ein Beobachter nur feste Teilchen sieht und nicht die Welle, die diese hervorbringt, so sieht ein Beobachter nur die einzelnen Akteure und nicht die „Welle“, die durch die Akteure wirkt. Die Gemeingüter sind diese „Welle“, die ihrem Wesen nach intelligent, koordinierend und harmonisierend ist. Die Welle regelt die optimale Beziehung der Akteure untereinander.
Die Welle wiederum kann man nicht direkt sehen oder anfassen, sondern nur im Handeln innerlich mitvollziehen. Zugleich bringt die Welle die optimal an die Umgebung angepassten Akteure hervor. Im Materialismus gibt es nur den Akteur als unabhängiges Teilchen, das sich selbst genügt und auf kein anderes Teilchen Rücksicht zu nehmen braucht. Das brachte eine Geldlogik hervor, der die Objektivität einer unsichtbaren, ordnenden Hand zugesprochen wurde. Damit wurde ein Idealfall unterstellt, den es in der Realität nicht gibt: Denn in der Realität gewinnen diejenigen Teilchen die Oberhand, die über die besseren Anfangsbedingungen verfügen und die aggressiver, selbstsüchtiger und skrupelloser als die Masse aller anderen sind. Das ist die Sackgasse, in der wir uns befinden.
In der Kultur der Gemeingüter geht es nicht mehr um Geld als Verfügungsmacht, getarnt als persönliche Freiheit. Vielmehr um die größtmögliche Lebensqualität für alle, die durch Einheit in der Vielfalt entsteht. Durch die Subsistenz und das Entdecken von unbekannten inneren Fähigkeiten, die sich aus kreativen Interaktionen der Akteure ergeben. Es geht um eine Ökonomie der Fu?lle. Eine Ökonomie, die nicht Knappheit benötigt, um zu funktionieren, sondern analysiert, wie Knappheit sozial hergestellt wird, und nach Wegen sucht, sie aufzulösen. Commoning ist eine Welle, eine Bewegung, die von der Idee der Fülle ausgeht. Denn sie hat erkannt: Die Knappheit wird momentan gesellschaftlich künstlich hergestellt, um die bestehenden Machtverhältnisse zu erhalten. Dies, indem die Quellen der Fu?lle monopolisiert werden, und zwar aus kurzzeitigem Profitdenken von einigen Menschen auf Kosten der Lebensqualität von uns allen.