Inzwischen setzt sich mit rasender Geschwindigkeit die Erkenntnis in unserer Gesellschaft durch, dass die Demokratie bei der Lösung der wichtigen politischen Herausforderungen außer Kraft gesetzt wurde. Wie schrieb Thilo Bode letztens in einer grossen deutschen Zeitung: „Es gibt nichts mehr zu wählen. Wahltaktik und Machtpolitik verhindern die Wahl zwischen Alternativen. Der Bürger wird nicht nur enteignet, er wird auch noch entmachtet.“ Wie lässt sich dieser tiefgreifende Systemzweifel in ein Heilpotential verwandeln?
Die Sozialwissenschaften könnten bei dieser Aufgabe einen wertvollen Beitrag leisten. Dies mit dem Ziel die Gesellschaft und damit die Menschen bei den sich abzeichnenden konfliktträchtigen Veränderungen und Anpassungen zu begleiten.
Der Sozialwissenschaftler, Berater und Coach Thomas Weis beschäftigt sich im Profit- wie im Non-Profit-Bereich – u.a. auch in China – mit dem Freilegen des kreativen Potentials in Menschen, mit Veränderungen und ganzheitlichem Wachstum in Gruppen. Wir trafen uns in Berlin in einem Restaurant gegenüber der Apostel Paulus Kirche zu folgendem Gespräch.
Du bist feinfühlig gegenüber inneren Welten oder unsichtbaren Phänomenen bei Menschen und hast mit diesem Zugang in deiner Doktorarbeit die kindliche Phantasiewelt, und wie Eltern mit ihr umgehen, untersucht. In diesem Zusammenhang beschreibst du den Beitrag der Phantasie zur Selbstwerdung des Kindes, aber auch welche kritische Rolle die Eltern dabei einnehmen.
Kurz ein paar Worte zur Feinfühligkeit vorweg: Sie ist Fluch und Segen zugleich. Sie reicht dort weiter hinein, wo andere mit ihrem Wirklichkeitsverständnis aufhören. Mit ihr erkennt man z.B. inwiefern Phänomene, die aus Fanasty-Büchern und -Filmen bekannt sind, wie „Harry Potter„ oder „Herr der Ringe“, eine reale Entsprechung haben. Etwa wenn Voldemort kurzzeitig von Harry Potter Besitz ergreift, oder wenn Frodo zeitweise der Macht des Ringes unterliegt. Man weiß um den Realitätsgehalt solcher Aspekte, auch wenn es aus gesellschaftlicher Sicht reine Fiktion ist. Mit solchen Fähigkeiten fühlt man sich aber auch gelegentlich mal wie ein Spinner oder Außenseiter, also weltfremd, sonderbar und einsam.
Die eben genannten Bücher sprechen bekanntlich vor allem Kinder an. Kinder besitzen die großartige Gabe, sich vollkommen in eine Sache hineinzufühlen und mit ihr zu verschmelzen. Dies ist eine Gabe, die wir alle gebrauchen können, weil sie auf einfache direkte Art, also aus erster Hand tieferes Wissen ermöglicht. Ein Konrad Lorenz kann sich in die Triebstruktur der Schwäne einfühlen, ein Einstein in die Kraft, die die Magnetnadel bewegt. Beide haben in dem Bereich, der sie am meisten fasziniert hat, diese kindliche Gabe, die zu tieferem, komplexem Wissen führt, bewahrt und fruchtbar eingesetzt. In dem Moment, indem man ganz in einer Sache aufgeht, ist man gleichzeitig bei sich selbst und bei der Sache, d.h. es existiert keine Trennung zwischen sich selbst als Subjekt und dem Objekt der Wahrnehmung, der Sache. Das ist der natürliche Zustand des Kindes, der Zustand, mit dem wir alle das Leben beginnen. Man kann von einem Urzustand der Authentizität und Einheit sprechen. Trennung entsteht, wenn ein Kind, im Zustand der Verschmelzung für sein Tun kritisiert wird und es diese Kritik dann nicht mehr vergessen kann. Dies ist die Wurzel der Trennung: Immer wenn das Kind authentisch ist und dafür von den Eltern oder anderen kritisiert wird, beginnt es sich gegen das Authentischsein zu wenden. Ebenso, wenn ein Kind erkennt, auf welche Art Eltern anders fühlen als wie sie sprechen oder handeln und ein solches Verhalten übernehmen. Es lernt damit, die erwünschte bzw. erwartete Haltung der Eltern und anderer einzunehmen. Das bedeutet, es lernt für sich selbst und andere eine Rolle zu spielen. Die Trennung von sich und der von der Wahrnehmung der inneren Einheit der Dinge ist eine Anpassungsleistung des Kindes. Sie kann in Umfang und Stärke variieren. Wieso konnten Menschen wie Einstein ihre Qualitäten trotzdem bewahren? Besonders zwei Gründe scheinen wichtig. Zum einen die Toleranz und Offenheit der Eltern oder einer Bezugsperson und zum anderen eine frühe große, starke Liebe zu dem, was einen beschäftigt. Beides wirkt wie ein immunisierender Schutz. Wo dieser Schutz fehlt, sind die Preisgabe der Authentizität sowie die Gabe, sich vollkommen in eine Sache zu legen und der Verlust des Lebensgefühls der Einheit mehr oder weniger unausweichlich. Im Zuge dieser Trennung wird auch die Fähigkeit zur bedingungslosen Liebe eingeschränkt.
Kommen auf diesem Weg auch kreative und künstlerische Fähigkeiten abhanden?
Dieses Verschwinden kann in den ersten 6 Jahren einsetzen, wenn sich eine solche Fähigkeit erstmals als Neigung in embryohafter, symbolischer Form zeigt. In meiner Arbeit konnte ich dies bei Erwachsenen, die mich konsultiert haben, rekonstruieren. Da zeigte sich z.B. bei einer Frau, die sehr unter ihren Ängsten und Minderwertigkeitsgefühlen litt, sehr früh eine schauspielerische Begabung. Es wäre ihr Lebenstraum gewesen, die Schauspielerei zum Beruf zu machen und sie tat dies auch schon sehr früh kund. Es war nicht so, dass ihre Mutter strikt dagegen war. Vielmehr war diese Mutter oft überkritisch und gerade dann, wenn ihre fünfjährige Tochter besonders glaubte, in einer Rolle ganz aufzugehen, konnte die Mutter nicht anders als Dinge zu sagen wie etwa: „Steh nicht so steif herum…“ Die Gründe dafür mögen Ehrgeiz, Neid und Missgunst gewesen sein. Jedenfalls waren diese Aussagen der Mutter für die Frau als junges Mädchen ein Verdikt. Sie zweifelte nachhaltig an sich selbst und an ihrem Talent. Ihre Liebe zum Theater konnte sie sich später bewahren, aber sie beschränkte sich darauf, in einer Laienspielgruppe für die Gestaltung der Bühne und der Requisiten zuständig zu sein. Eltern fehlt oft die Geduld und das Verständnis, die symbolischen Vorformen kreativer und künstlerischer Fähigkeiten bei Kleinkindern angemessen zu würdigen. Daher geht das Symboldenken in den Untergrund oder ist mit Schuldgefühlen belastet. Diese Kraft fehlt heute vielen Erwachsenen und engt sie auf die rationale, zweckverhaftete Lösungssuche ein.
Welche Gründe spielen bei Jugendlichen und Erwachsenen für den Verlust dieser Zugänge eine Rolle?
In der beginnenden Pubertät und im Jugendalter kommt häufig ein anderer Grund für den Verlust künstlerischer oder kreativer Fähigkeiten hinzu. Die Heranwachsenden setzen die sich entwickelnde Fähigkeit als Waffe gegen Eltern und Lehrer oder gegen die Gesellschaft ein. In dem Sinn: „Wenn ihr mich nicht so liebt, wie ich bin, verdient ihr auch nicht meine Fähigkeiten“. Es ist wie eine Verbannung der Fähigkeiten, die durch Emotionen wie Hass und Verachtung mit großer Macht ausgesprochen werden und daher weitreichende Folgen haben können. Im Grunde ist es eine Selbstbestrafung aus mangelnder Liebe und Wertschätzung und beinhaltet eine tiefgehende Trennung vom Kern der Persönlichkeit und damit vom kreativen Potential. Viele persönliche und gesellschaftliche Probleme entstehen aus Zurückweisung, enttäuschter Liebe, Verachtung und Hass, jedenfalls weit mehr als man ahnt. Im Erwachsenenalter kann dieses Muster sich fortsetzen als Arbeitsverweigerung, innere Kündigung und Burnout, im Greisenalter kann es den körperlichen und geistigen Verfall beschleunigen.
Alle Menschen haben einen Zugang zu einem tieferen Wissen oder zu besonderen Fähigkeiten. Werden dieses Wissen oder diese Fähigkeiten aber nicht geschätzt und aufgenommen, setzt eine Gegenbewegung ein. Die Menschen zweifeln dann an sich selbst, suchen die Schuld bei sich, ziehen sich innerlich zurück oder konzentrieren sich auf Dinge, die äußerlich belohnt werden. Übrig bleibt eine Hülse, eine Rolle, die man für sich und alle anderen spielt: ein angepasstes Funktionieren ohne tiefere Bedeutung. Dies ist der Normalzustand vieler Menschen oder Mitarbeiter in Unternehmen. Das bedeutet: Auch dort, wo die Menschen sich äußerlich normal verhalten, kann ein Zerfallsprozess im Gange sein. Viele Menschen leiden innerlich mehr und tiefer als dies nach außen dringt. In diesem Zustand vermittelt Geld, Einkommen, Besitz, Konsum, Vergnügen noch so etwas wie Trost. Wo dieses wegbricht, besteht eine zusätzliche emotionale Gefährdung.
Welche Erfahrungen hast du bezogen auf Begabungen, die in Beziehung zu Geld stehen?
Bei Fähigkeiten, die in einer Beziehung zu Geld stehen, ist Missbrauch und Ausbeutung eine typische Falle. Wir wissen, dass ältere Elefantenkühe die Fähigkeit haben, über 50 km Entfernung Wasser zu riechen, eine Fähigkeit, die einer Herde bei großer Dürre das Leben retten kann. Ebenso gibt es Menschen, so meine Wahrnehmung, die erspüren können, auf welchem Weg ein Unternehmen zu Einnahmen kommen kann. Wäre es möglich diese Fähigkeit bewusst und gezielt zu fördern, würde diese Fähigkeit nicht nur zur Unternehmenssicherung, sondern zu grenzenlosem Wachstum oder zum Aufbau einer Monopolstellung eingesetzt. Außerdem würden die Personen, die über diese Fähigkeit verfügen, unter Druck gesetzt, man würde versuchen immer mehr aus ihnen herauszupressen.
Das ist die Situation in vielen Betrieben und Organisationen. Die Erfahrung ist, dass Mitarbeiter und Führungskräfte, die über besondere Fähigkeiten verfügen, diese dem Unternehmen nicht selten vorenthalten, sei es aus Protest, sei es aus Angst oder aus Selbstschutz. In einem druckgesteuerten System ist das Zurückhalten von Leistungen, die niemand sieht oder würdigt, eine Überlebensstrategie. Man weiß: Das, was heute als Höchstleistung erbracht wurde, wird das geforderte Soll von Morgen. Jedenfalls gibt es bezogen auf geldwirksame Beiträge einzelner und Abteilungen zum Unternehmenserfolg große Verwerfungen und eine Doppelmoral. Viele distanzieren sich innerlich von dem, was sie äußerlich sagen oder tun, unterlaufen oder sabotieren es gar.
Wie würdest du die Bindung, die Menschen in Unternehmen zu Geld haben, beschreiben?
Ich hatte oben nicht ohne Grund auf Filme und Bücher wie Herr der Ringe angesprochen. Wenn man hautnah und zugleich mit erweitertem Blick mitverfolgt wie in Unternehmen aus Produkten Geld entsteht, dann scheint es so, als ob die Menschen im Banne eines Ringes sind, der sie steuert. Vom Ring heißt es, dass er geschaffen wurde, um Menschen zu binden und zu knechten. Ebenso enthält das Geld im Bewusstsein vieler Menschen das Moment großer und quälender Unfreiheit: als Angst vor Verlust und Versagen, als Zwang der Unentbehrlichkeit oder als Gier nach Besitz. Als „mein Schatz“. Man erkennt die Macht, die Geld ausübt, leidet unter ihr oder ist von dieser regelrecht besessen, kommt aber nicht davon los. Es braucht eine große innere Distanz und menschliche Reife, um mit großen Geldsummen umzugehen, ohne nicht davon besessen zu werden. Viele gehen mit hehren Zielen in die Wirtschaft, wollen Geld zum Guten verwenden und werden für sich selbst unmerklich umgedreht und vom System aufgesogen. Im Allgemeinen leiden die Menschen in den Betrieben unter dem Druck, unter immer schwierigeren Bedingungen und anspruchsvolleren Kunden Geld erwirtschaften zu müssen. In vielen Unternehmen hat sich, für die Betroffenen häufig unerkannt, ein Systemzweifel bereits etabliert. Dieser wirkt wie ein massenreiches, schwarzes Loch, das alle guten Ansätze und Ideen verschlingt. Damit wird das System noch ineffektiver, verstärken sich Druck und Zweifel noch mehr, es ist ein Teufelskreis. Zugleich liegt darin der tiefere Sinn, einen Systemwechsel vorzubereiten.
Wie ergeht es Menschen, die eine kritische Haltung zu Geld haben?
Menschen, die spüren, dass die Art und Weise, wie wir Geld erschaffen und nutzen, aufs Ganze gesehen etwas Falsches und Zerstörerisches enthält, geraten in den Einflussbereich dieser Art negativer kollektiver Energie. Man kann sich die negative Rückwirkung dieser Energie wie die gesammelten Abwasser und Abgase einer großen Stadt oder einer Region vorstellen. Die falsche Verwendung von Geld führt zu einer psychischen Verschmutzung, die auf die Menschen rückwirkt. Menschen, die dafür sensibel sind, können dies wahrnehmen. Sie begehen aber häufig den Fehler die Wahrnehmung auf sich selbst zurückzuführen und sich selbst als Ursache für das, was sie wahrnehmen, zu sehen. Sie werden, insofern sie den Zusammenhang nicht erkennen, durch die negativen Seiten von Geld paralysiert, oder reiben sich in dem inneren Widerspruch, der Geld anhaftet, auf. Dadurch wird es für sie unendlich schwerer als für andere Menschen, zu Geld und zu Einnahmen zu kommen. Das Problem ist weit größer und verbreiteter als es bisher wahrgenommen wird, da es mit einem Hass auf das Geld oder auf das Leben und einem Selbsthass einhergehen kann. Das Spektrum an Reaktionsweisen reicht von Aggression, Flucht, innerem Rückzug, bis hin zu Ohnmacht und Verzweiflung. In dieser Gefahr stehen all jene Menschen, die ein besseres Verständnis für den Missbrauch von Geld entwickeln. Ihre Schwierigkeiten oder gar ihr Scheitern sind umso tragischer, weil gerade sie mithelfen könnten, den Weg für eine angemessene, gerechtere Verwendung für Geld zu ebnen. Jedoch ist die Unzufriedenheit noch zersplittert und individualisiert. Wir brauchen mehr Aufklärung im richtigen Umgang mit den negativen Seiten unserer Gesellschaft und ihren Verwerfungen. In vielen individuellen Schicksalen ist mehr kollektive Wirkung und Rückwirkung enthalten als den Betroffenen und allen anderen bewusst ist.
Was wäre für dich ein angemessener Umgang mit diesen Verwerfungen?
Die Regel besagt: Kollektiv entstandene Probleme lassen sich nur kollektiv lösen. Das Wissen und das Bewusstsein darüber steckt aber noch in den Kinderschuhen. Dazu gehört auch der richtige Umgang mit den Gegenkräften, die das Gute verhindern. Jegliche Form von Übereifer und Aktionismus verpufft und es braucht eine gute Portion Weisheit und besagte innere Freiheit, um das richtige Maß im Handeln zu erkennen. Der Schlüssel dazu ist das, was in „Herr der Ringe“ die Gefährten genannt wird. Es braucht den inneren, existentiellen Zusammenhalt als Gruppe, um den Ring gemeinsam zu zerstören. Selbst Frodo, als nicht an den Ring verhafteter Ringträger, wäre ohne das geschlossene Zusammenwirken aller verloren und würde auf seiner Mission scheitern. Das Wissen, dass diese Kräfte zu mächtig sind, als das sie ein Einzelner allein bearbeiten könnte. Wir nehmen andere normalerweise nicht als Verbündete, als Gefährten wahr, die auf uns genauso angewiesen sind wie wir auf sie. Jeder führt den Kampf für sich. Jeder will in einem falschen System noch das Beste daraus machen. Dadurch kommt es zu Zersplitterung. Zersplitterung ist Wasser auf den Mühlen der Gegenkräfte, die den Weg zu mehr Gerechtigkeit verhindern.
Diese Zersplitterung setzt sich dann auch fort in der Weise, wie man sich nicht als Nation im Wissen um nationale geistige Stärke mit anderen Nationen verbündet. Nationale Stärke wird bisher immer noch als Mittel angewendet, mit anderen Nationen zu konkurrieren. Die Weisheit, dass jede egoistisch eingesetzte Stärke als negativer Bumerang zurückkommt, hat sich noch nicht durchgesetzt. Wer egoistisch handelt, sei es als Individuum oder als Nation, dreht Lernschleifen, in denen man den Egoismus und seine Folgen berichtigen muss. Auf diesem Weg kann eine Kultur, eine Zivilisation zugrunde gehen, dann muss man mühsam von vorne beginnen. In seiner berühmten Rede in den Münchner Kammerspielen 1985 stellte Beuys die Frage, was denn die wichtigste Fähigkeit der Deutschen wäre, sozusagen ihr Genius. Er sagte, wenn wir das Wesensmäßige mit den richtigen Begriffen beschreiben würden und so Fühlen und Wollen zusammenkommen könnten, würde eine Heilung einsetzen. Er war überhaupt ein Künstler, der gestalterisch von der Sprache ausging, und der im dem bewussten Sprechen sowie Bilden von Begriffen den Schlüssel zum Schöpferischen sah. In dieser Rede sagte er auch: „Die Tat, die den Menschen frei machen wird und die Christus im Menschen bedeutet und den Souverän im Menschen herausbildet, ist bereits getan. Aber es wird verschwiegen. Es wird durch die materialistischen Ideologien verschwiegen, es wird auch durch Kirchen totgeschwiegen.“ Ich vermute, dass wenige ihn damals verstanden haben. Heute sind die Voraussetzungen dazu weit besser.
Was wäre für dich eine besondere Qualität der Deutschen, die sie zum Wohl anderer Nationen einsetzen könnten?
Die vielleicht wichtigste Qualität und Stärke der Deutschen ist aus meiner Sicht der Zugang zur Kraft der Treue. Jede Nation verwahrt bestimmte Kräfte und kann über die richtige Anwendung ihres symbolischen Mantrams diese Kräfte im Sinne des Wohles aller Völker anwenden. Auch die Deutschen verwahren als Nation große Kräfte. Keine Nation kann wohlmöglich die Kraft der Treue so klar und stark kanalisieren wie die deutsche Nation. Wenn wir nicht verstehen, was Treue ist, werden wir diese Kräfte missbrauchen, so dass sie sich gegen uns selbst wenden. Wie das geht, haben die Nationalsozialisten bis ins kleinste Detail gezeigt. Treue ist das Gegenteil von dem, was die Nationalsozialisten daraus gemacht haben, nämlich blinder Gehorsam, sklavische Unterwerfung unter eine Doktrin, Rassenhass und Rassenüberlegenheit. In dem heutigen Streben nach wirtschaftlicher und damit finanzieller Dominanz oder nach technischer Überlegenheit sind wir erneut auf eine schiefe Bahn geraten. Wir tragen zu großen Ungleichgewichten in der Welt bei, nützen unsere Marktmacht zu unseren Gunsten, statt sie abbauen zu helfen.
Ein Wesenskriterium der Treue ist das innige Verbundensein, das starke Angeschlossensein an tieferes Wissen, an zeitlose geistige Werte. Wo die Treue stark ist, gibt es kein Zögern und Zaudern. Treue hat einen starken Bezug zum Willen, zur Bündelung von Kraft. Treue ist wie ein dickes Starkstromkabel, das aus vielen miteinander verwobenen kleinen Einzelkabeln besteht. Treue ist ein geistiges Kraftprinzip und kann große aktivierende wie harmonisierende Kräfte für andere mobilisieren. In dieser Weise hat Deutschland mit seiner Musik und seiner Philosophie der Welt viel bereits gegeben. In der Umweltbewegung und Energiethematik sowie im Qualitätsdenken lässt sich ein gegenwärtiger Ausfluss dieses Zuganges zur Kanalisierung zeitloser geistiger Werte erkennen. Hier deuten sich auch die Gefahren des Missbrauches an, wenn wir diese Stärke einsetzen, um über andere Nationen zu dominieren.
Es ist nur bedingt möglich, über diese Dinge zu sprechen. Nicht weil etwas geheim zu halten wäre, sondern weil es nur insoweit fassbar ist, wie bereits ein Zug zum Handeln latent erkennbar ist. Jeder der sich in die Kraft der Treue einfühlt, kann sie spüren. Das ginge auch mit anderen Wertbegriffen, aber als Deutscher oder Deutsche geht das mit der Treue wohl am leichtesten. Wenn unter dem einigenden Band der Treue sich in Deutschland Gruppen zusammenfinden würden, könnten sie für die Welt viel bewirken. Je mehr Menschen im Sinne der vereinigenden Kraft gemeinsam aktiv werden, umso klarer tritt die begrifflich fassbare Kraft hervor. Beuys sagte, dass wer die Revolution der Begriffe überspringe und nur gegen die äußeren Verkörperungen der Ideologie anrennt, scheitern wird. Er wird entweder resignieren, sich mit Reformen begnügen oder zum Terroristen werden, drei Formen des Sieges des etablierten Systems.
Schauen wir uns in diesem tieferen oder erweiterten Sinne doch einmal die Begriffe Geben und Nehmen an.
Dabei geht es immer um die innere existentielle Einheit von Geben und Nehmen. Gewöhnlich sehen und erkennen wir nur die sinnlich-materielle Seite dieses Zusammenhanges. Für uns ist nur die Erhaltung der äußeren Form existentiell, nicht aber die innere Qualität.
Wir neigen dazu, dem Gebenden eine Machtstellung einzuräumen. Wer gibt, hat hinterher weniger und erleidet dadurch einen Verlust. Dies ist die gewöhnliche Sichtweise. Was uns in dieser Sichtweise entgeht, ist, dass der Gebende davon abhängig ist, das jemand da ist, der die Hilfe in Würde annehmen und verwerten kann. Wo Nehmende die Hilfe lieblos oder mit Geringschätzung annehmen, entwerten sie den oder die Gebenden. Das ist bei vielen geschäftlichen Transaktionen heute der Normalfall, denn Geld setzt das Verhältnis von Geben und Nehmen nicht außer Kraft. Dadurch sind wir einem permanenten Wertezerfall preisgeben, der weder durch Geld, noch durch Waren ausgeglichen werden kann. Im umgekehrten Fall empfindet der Gebende dies als großes Glück, als etwas, was seine Existenz, seinen Daseinswert stärkt. Es ist ein geistiger Nährwert, eine geistige Wertsteigerung, ein Sinnzuwachs. Gewöhnlich mangelt es an beidem: an Gebenden, die in Würde geben und Nehmenden, die in Würde empfangen können.
Würde ist ein anderes Wort für unersetzliche Teilhabe am Ganzen. Es ist der höchste Wert, den wir für uns selbst und für anderen haben können. Dahinter steht die geistige Wirklichkeit der Einheit, das, was die Schöpfung im Innersten zusammenhält. Mit dieser Kraft kommen wir in Berührung, wenn wir in Würde teilen. Tun wir dies nicht, enthalten wir uns selbst und allen anderen etwas vor, reduzieren unser Leben auf Oberflächlichkeiten, Banalitäten. Wenn wir nicht in Würde teilen, sind wir auf die Trennung zurückgeworfen. Und damit auf fehlende Liebe, auf Angst, Zweifel und Unzufriedenheit. In der Trennung scheint das Streben nach Besitz und Konsum wie ein Heilmittel, jedoch führt es uns in eine noch größere Abhängigkeit und Unzufriedenheit hinein. Mit anderen Worten: Das was uns Heilung und Linderung verschaffen soll, macht uns umso kränker.
Die Position des Gebenden und Nehmenden ist gleichwertig. Es ist wie Einatmen und Ausatmen, worauf es ankommt, ist der fortgesetzte Kreislauf. Dieser ermöglicht Leben und Evolution. Der Nehmende nimmt, um selbst wieder Gebender zu werden. Es geht nicht notwendigerweise darum, dass der Nehmende dem Gebenden selbst wieder etwas zurückgibt. Wichtig ist, dass der Nehmende selbst wieder zum Gebenden wird und den Kreislauf fortführt. Das Geben und Nehmen heutzutage gleicht noch mehr Einbahnstraßen und Sackgassen, als einem Kreisverkehr. Es geht darum Kreisläufe des Gebens und Nehmens in Gang zu setzen, die letztlich alle Menschen einschließen. In dieser Hinsicht sind die Sozialsysteme und die Entwicklungshilfe zu reformieren, weil diese zwar Menschen mit lebensnotwendigen Geldmitteln versorgen, diese aber gleichzeitig entwerten.
Wie könnte eine Heilung der Gesellschaft aussehen und wie könnten künstlerisch-kreative Fähigkeiten dabei einbezogen werden?
Dazu ist zunächst unser Verständnis von Heilung und Kunst zu erweitern. Heilung ist ein kreativer Akt und Kunst, die nicht gleichzeitig heilt und versöhnt, ist leer. Es gibt drei Arten der Kreativität, die zumeist zusammenwirken. Jemand formuliert ein Problem, welches zuvor noch gar nicht formuliert wurde und sucht dann nach einer Lösung. Dabei ist es nicht wichtig, ob eine Lösung tatsächlich gefunden wird. Denn der kreative Akt liegt ja schon in dem Sehen des Problems, in seinem Erkennen. Die zweite Art ist das einfache Sammeln von gestalterischen Möglichkeiten, die dann alle an sich schon als Lösungen angesehen werden können. Die dritte Art ist wohl die Geheimnisvollste: Da sieht jemand etwas vor sich und versucht oft Jahrzehnte durch harte Arbeit und viele Versuche, die dann ein künstlerisches Werk bilden, dieses in einer inneren Vision Gesehene in der Realität umzusetzen, zu manifestieren. Dass alle drei Arten der Kreativität zusammenwirken und dass es die Vor- und Mitarbeit vieler braucht, ehe es zur Vision und zu einem Kunstwerk kommt, bleibt meist unerkannt.
Unser Problem ist, dass wir oft bestimmte Qualitäten nicht als bedeutsam oder lösungsrelevant ansehen. Und damit auch Personen, die diese Qualitäten repräsentieren. Wir haben kein Verständnis für Aspekte und Prozesse, die unter der gesellschaftlichen Wahrnehmungsschwelle ablaufen. Bei den indigenen Stämmen in Nordamerika hatten früher beide Geschlechter aufeinander verwiesene Aufgaben. Den Frauen oblag es die Weisheit aufzufangen und den Männern, diese als Gesetz zu formulieren und auszuführen. Das vorbegriffliche, symbolische weibliche Erspüren von Weisheit wird in unserer Kultur gar nicht anerkannt, sondern nur das zweckrationale, männliche Erfassen und Machen. Da sind wir bei der Rolle der Muse, die in ihrer Funktion nicht richtig gewürdigt wird: die Partner, Freunde und Kollegen, die inspirierend wirken, auch wenn sie vielleicht nur zuhören. Es gibt Menschen, die haben die Gabe durch ihre Präsenz die Stimmung anzuheben. Andere können Harmonie verbreiten oder Sachlichkeit ausstrahlen. In einer Gruppe spreche ich Personen direkt auf ihre Qualität an, damit sie sie bewusst in die Gruppe einbringen können. Denn je bewusster sich eine Person zu dem bekennt, was sie auszeichnet, umso stärker wirkt die Qualität in ihr. Wir brauchen eine größere Sensibilität und Wertschätzung für die besonderen Qualitäten und Fähigkeiten von Menschen, vor allem was die heilende oder förderliche Wirkung in Gruppen betrifft. Auch dafür, dass Menschen dadurch wirken, dass sie überhaupt da sind, das sie existieren, d.h. durch ihre Präsenz. Präsenz heilt. In jeder Präsenz eines Menschen liegt etwas Geheimnisvolles, etwas Heiliges, was auf das Höchste und Beste, was die Person zu geben hat, verweist. Das ist die wahre Quelle von Individualität. Wenn wir achtsam sind, können wir mit dieser Seite in Resonanz treten, selbst wenn die Person äußerlich noch etwas ganz anderes ausstrahlt. Dies gelingt, wenn wir anderen mit großer Offenheit begegnen und sie nicht auf Äußerlichkeiten festlegen. Es entsteht ein gegenseitiger Kraftfluss, der gleichermaßen inspiriert und heilt. Am leichtesten geschieht es in Gruppen, vor allem wenn die Menschen Vertrauen zueinander haben und darauf ausgerichtet sind, sich gegenseitig zu unterstützen. Mehr solcher Heilgruppen zu bilden wäre wünschenswert. Meine Erfahrungen in China zeigen, dass die Wirkung solcher Gruppen nicht kulturabhängig ist.
Werte wirken durch die Präsenz im Geistigen wie Vitamine im Körper. Wenn sie fehlen, führt es zu Mangelerscheinungen. Prinzipiell sind alle Werte gleich wichtig, worauf es ankommt, ist die Harmonie und das Gleichgewicht, nicht die Dosis. Menschen sind Sachwalter bestimmter Werte, das ist ihre natürliche Gabe, sozusagen ihr Geschenk für andere. In unserer Gesellschaft genießen die Formen bildenden Werte das höchste Ansehen. Weil wir glauben es uns leisten zu können auf Werte und damit auf Personen, die sie repräsentieren, verzichten zu können, haben wir gesellschaftliche Mangelerscheinungen, leiden wir unter geistiger Armut. Unsere Welt ist freudlos, lieblos und hässlich. Das Hässliche ruft, schreit nach Liebe. Es fehlt an Kunst und Schönheit im lebenspendenden Sinne und als tragendes Fundament. Wir betrachten beides entweder als Beiwerk oder als etwas, womit sich Geld verdienen lässt. Stellen wir uns vor, da gibt es jemand, der oder die die Begabung hat neue Zugänge zum Künstlerischen und Schönen im Leben zu ermöglichen. Also nicht nur Kunst und Schönheit im Sinne von Musik, Malerei und Poesie, sondern in einem umfassenden Sinne, etwas was alle Lebensbereiche und das Zusammenleben betrifft. So jemand würde nicht als Künstler gesehen werden, weil wir eine festgefügte gesellschaftliche Meinung darüber haben, was Kunst und ein Kunstwerk ist. Wie wird diese Person selbst mit dieser Situation umgehen? Wird sie sich zurückziehen und die Kunst anderen überlassen? In dieser Situation befinden wir uns, dass viele, die Zugang zu inneren Qualitäten haben, sich nicht mitteilen oder Gehör verschaffen können. Daher ist es so wichtig, dass mehr und mehr Menschen ihre Stimme erheben und lernen, mit vereinter Stimme zu sprechen.
Die Lernaufgabe, die vor uns liegt, besteht darin ein tieferes Interesse füreinander zu entwickeln, uns gegenseitig in unserer Präsenz zu würdigen und als Gefährten anzuerkennen. Auch indem wir uns in die Position eines Kindes begeben, neu zu lernen, was Schönheit ist, wie sie wirkt und wie sie heilt. Und indem wir aufhören, die formale Perfektion, die uns Computer und Maschinen heute ermöglichen, zum Maß der Dinge zu machen. Das Leben und alle seine Facetten zur Kunst zu heben, kann uns helfen, uns mit uns selbst zu versöhnen. Ein neues Lebens- und Kunstverständnis des Teilens kann uns zurückgeben, was wir uns bislang vorenthalten, Freude, Harmonie und Würde. Der Weg selbst, den wir gehen, die kollektive Heilung kann im Lichte der Schönheit gesehen werden. Indem wir diesen Weg gehen, erkennen wir, wie tief das Hässliche in unser Leben eingedrungen ist und dass wir dazu bestimmt sind, Hässliches in Schönheit zu verwandeln.