Freitag , 26 April 2024
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Die Zukunft vorhersehen

road nature sunEs bedarf weder einer Kristallkugel noch hellseherischer Kräfte, um eine gewisse Vorstellung über die zukünftige Entwicklung Europas zu finden. Es genügt, einen Blick auf die gegebene Situation zu werfen. Lassen wir einen möglichen Finanzcrash ebenso beiseite wie eine Eskalation eines nicht auszuschließenden Krieges gegen den Iran, wie könnte die Zukunft für Europa aussehen? Was auf den ersten Blick vielleicht schockierend wirken könnte, lässt sich gleichzeitig aber auch als Anstoß zum Umdenken verstehen. Tatsache ist, dass Schulden weiter ansteigen, dass Ressourcen knapp werden und dass es an der Zeit ist, Vernunft gegenüber Hoffnung den Vorrang einzuräumen.

In lange vergangenen Zeiten, ich denke dabei an die 1960er- und 1970er-Jahre, mag es ja noch so ausgesehen haben, als wäre es die Funktion der Wirtschaft, Menschen mit den Gütern zu versorgen, die sie zum Leben brauchen. Je mehr sich die Märkte jedoch einer Sättigung näherten, desto offensichtlicher wurde es, dass nicht die Wirtschaft dem Menschen dient, sondern der Mensch der Wirtschaft.

Dementsprechend lassen sich, andere Regionen unseres Planeten betrachtend, gewisse Vergleiche ziehen. Sozusagen, je nach Richtung, ein Blick in die Vergangenheit oder ein Blick in die Zukunft.

Beginnen wir mit der Vergangenheit: In großen Teilen Asiens, Südamerikas und auch Afrikas, jenseits der großen übervölkerten Städte, gibt es auch heute noch Gegenden, in denen die Menschen so leben wie unsere Vorfahren vor hundert oder mehr Jahren. Die Felder werden mit Ochsen bestellt, Handwerker stellen, in einfachen Hütten lebend, ihre Waren her. Bauern bringen ihre Produkte selbst zum Marktplatz. Was wir als Fortschritt und modernes Leben bezeichnen, kennen diese Menschen bestenfalls von Bildern und aus Erzählungen.

Wodurch sich diese Regionen auszeichnen, ist Wachstumspotential. Natürlich gibt es bestimmte Voraussetzungen, um Investoren zu begeistern. Vorhandene Bodenschätze, die Fruchtbarkeit des Bodens und natürlich auch der Arbeitswille der Bevölkerung. Landwirtschaftliche Maschinen setzen Arbeitskräfte frei, die in Fabriken eingesetzt werden können. Dadurch wachsen wiederum die Städte, was die Errichtung neuer Infrastrukturen mit sich bringt. Nicht, dass derartige Entwicklungen die Regel sind, doch die Möglichkeiten dazu stehen offen.

Und wie sieht es mit der Zukunft aus? Dafür dient uns Nordamerika, insbesondere die USA, das einstige Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“, als bestes Beispiel. Weder durch Weltkriege zerstört noch durch kulturelle Ambitionen gebremst, diente Amerika seit Beginn der industriellen Revolution als erfolgversprechender Spielplatz für internationale Investoren. Edward Bernays, ein Neffe von Siegmund Freud und „Vater der Public Relations“, gilt als die herausragendste Figur in der Umerziehung des Menschen zum Konsumwesen. Sowohl Arbeits- als auch Konsumwille sind schließlich die unverzichtbaren Voraussetzungen für jeden wirtschaftlichen Aufschwung.

Der besseren Veranschaulichung wegen, nehme ich ein einziges Beispiel zur Hand: die Suburbanisierung.

suburb san joseDie idealisierte Vorstellung lautete: Arbeiten in der Stadt und wohnen auf dem Land. Für Amerikaner ist es keineswegs eine Seltenheit, täglich 50 und mehr Kilometer zum Arbeitsplatz zurückzulegen. Und eine ganze Reihe von Wirtschaftszweigen erfreute sich dadurch traumhafter Umsätze. Die Häuser mussten schließlich erst einmal gebaut werden. Die neu entstandenen Siedlungen verlangten nach Infrastrukturen, wodurch sich wiederum riesige Einkaufszentren errichten ließen, die gleichzeitig für regelmäßige Mieteinnahmen sorgen. Neue Autobahnen und Straßen mussten geschaffen werden. Mehr Autos waren nötig. Mehr Treibstoff wurde verbrannt. Die Entwicklung der sogenannten „Suburbs“, diese Siedlungen im Umfeld der Städte, lösten ein wahres Wirtschaftswunder aus.

Doch wirklich gute Umsatze lassen sich immer nur während der Wachstumsphasen erzielen. Auch wenn noch so viele Produkte bewusst in einer Qualität erzeugt werden, die nach rascher Erneuerung verlangt, die Möglichkeiten müssen immer aufs Maximum ausgeschöpft werden, um maximale Profite zu erzielen. Ist dies nicht der Fall, wandern die „internationalen Investoren“ in andere Regionen ab.

Rein theoretisch wäre es für die Bevölkerung eines Landes ein wünschenswerter Zustand, über alles Notwendige zu verfügen und nur noch für dessen Erhaltung – und natürlich auch für die Ernährung, Freizeitvergnügungen und Ähnliches – zu arbeiten. Doch gibt es ein Problem, das über lange Zeit übersehen wurde. Finanziert wurden alle Aufschwünge vorwiegend durch Kredite. Und diese kosten Zinsen. Um das Geld für deren Begleichung zu verdienen, ist es wiederum notwendig, dass sich das Rad der Wirtschaft ungebremst weiter dreht. Und hier wären wir bei einem scheinbar unlösbaren Dilemma angelangt: Die Märkte sind, zumindest in Anbetracht der verfügbaren Kaufkraft, gesättigt. Was immer sich produzieren lässt, ist in scheinbar unbegrenzten Mengen bereits vorhanden. Und dementsprechend gibt es auch ein Überangebot an Arbeitskraft. Die Folge ist Arbeitslosigkeit, die wiederum zu sinkenden Einkommen und zu weiter reduzierter Kaufkraft führt.

Zwar mit deutlichen regionalen Unterschieden, gibt es in Europa noch immer ein System, das sich, zumindest im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, als soziale Marktwirtschaft bezeichnen lässt. Ein gewisses Minimum an Lebensqualität ist sowohl Erwerbstätigen zugesichert als auch jenen Menschen, die es nicht schaffen, im „Rattenrennen“ mitzuhalten. Doch, wie sich unter dem Druck der Schuldenkrise deutlich zeigt und durch Sparpakete Schritt um Schritt in die Realität umsetzt, der Sozialstaat scheint ausgedient zu haben. EZB-Chef Mario Draghi drückte dies erst kürzlich sehr deutlich aus.

In Epochen einer sogenannten Hochkonjunktur gibt es wenig Anlass, nach sozialen Sicherheiten zu fragen. Ältere Jahrgänge mögen sich erinnern, wie die Situation noch um 1970 aussah. Es war praktisch kein Problem, einen Arbeitsplatz zu finden. Das Einkommen war fast immer höher als beim vorigen Job. Und wer es vorzog, freiberuflich tätig zu sein oder ein Kleinunternehmen zu gründen, unzählige Möglichkeiten standen offen.

Doch diese Zeiten sind lange vorüber. In deutschen Landen ebenso wie in den Vereinigten Staaten. Und weil sich fast alles, was in den USA so üblich ist, innerhalb einiger Jahre nach Europa auszudehnen scheint, wäre es ratsam, einen Blick auf die dortige Situation zu werfen.

Für einige Wenige scheint der „American Dream“ niemals zu einem Ende gekommen zu sein. Für die Masse sieht die Realität jedoch anders aus. Und der gesetzliche Mindestlohn von 7,25 Dollar pro Stunde (5,50 Euro) ist für Viele der Standard. Bei 40 Wochenstunden wären das dann rund 1.300 Dollar (980 Euro) monatlich. Ein direkter Vergleich mit den Preisen in Deutschland ist, aufgrund starker regionaler Unterschiede, nicht möglich, doch lässt sich davon ausgehen, dass die Lebenskosten etwa ähnlich sind. Die Miete für eine kleine Wohnung (mit einem Schlafzimmer) kostet in Jacksonville, Florida im Durchschnitt unter 700 Dollar, in der Industriestadt Detroit rund 600, in San Diego, Kalifornien, allerdings bereits 1.100, in San Francisco 1.800 und in New York sogar 2.400 Dollar. Dem muss natürlich hinzugefügt werden, dass die Mieten in den Bronx deutlich niedriger sind, in Manhattan hingegen oft noch höher.

tent cityUnd somit ist es nicht verwunderlich, dass es wirklich sehr viele Amerikaner gibt, die zwei und gelegentlich sogar drei Jobs gleichzeitig ausüben. Teilzeitjobs sind ohnehin leichter zu finden. Schon vor Jahren, also noch vor Beginn der Krise in 2008, berichtete die überaus populäre afroamerikanische Moderatorin Oprah Winfrey in einer ihrer Talkshows, dass sich ein Viertel der vollbeschäftigten Amerikaner nicht leisten kann, in einem regulären Haus oder einer Wohnung zu leben. In günstigen Fällen steht ein alter Wohnwagen zur Verfügung. Doch überall entstehen, und die Situation verschlimmert sich von Jahr zu Jahr, Zeltsiedlungend. Sehr selten berichten die Medien darüber.

Während die Abnahme der wöchentlichen Arbeitszeit in Deutschland als soziale Errungenschaft betrachtet wurde, ist ein sogenannter „Nine-to-Five-Job“, also acht Arbeitsstunden, in den USA ein Zeichen von Faulheit. Für wirklich engagierte Menschen beginnt der Arbeitstag um 7 Uhr morgens mit eine Besprechung, genannt „Power-Breakfast“, weil Kaffee im Plastikbecher und Donats serviert werden, und sollte womöglich nicht vor 19 Uhr enden. Etwas Arbeit lässt sich dann ja auch noch nach Hause mitnehmen.

Dass es in Deutschland rund fünf Wochen bezahlten Urlaub pro Jahr gibt, davon mag man gehört haben. So wie von Schneewittchen und vom Rotkäppchen. Offiziellen Angaben entsprechend, erfreut sich der amerikanische Vollzeitbeschäftigte 7,6 bezahlter Urlaubstage pro Jahr. Für Menschen, die ihrem Arbeitgeber über Jahre hinweg treu bleiben, steigt der durchschnittliche Anspruch auf bis 15,7 Tagen. Nach 25 Jahren!

Krank sein muss man sich erst einmal leisten können. Gut, dass es kein Sozialversicherungssystem wie in Deutschland gibt, hat auch seine Vorteile. Somit kann sich jeder seine Versicherung selbst aussuchen (sofern er sich eine leisten kann). Allerdings, Krankenstand, wie man ihn in Deutschland kennt, gibt es nicht. Bei einer guten Anstellung wird jährlich eine limitierte Anzahl von bezahlten Krankentagen gewährt. Nachdem diese dann gerne als Extra-Erholungstage betrachtet werden, passiert es durchaus häufig, dass zum Beispiel an der Supermarkt-Kasse eine Angestellte, die an Grippe leidet, die Artikel über den Scanner zieht, ungeachtet der Ansteckungsgefahr. Wer er es nicht schafft, am Arbeitsplatz zu erscheinen, bekommt einfach kein Geld. In günstigen Fällen springt eine Arbeitslosenversicherung ein. Doch das zieht sich meist recht lange hin. Und viele wissen nicht, wie sie in der Zwischenzeit ihre Miete bezahlen sollen.

Das Bild, das US-Spielfilme vermitteln, hat wenig mit der Realität durchschnittlicher Bürger zu tun. Ja gewiss, es gibt rund sechs Millionen Millionäre in diesem Land mit etwas über 300 Millionen Einwohnern. Die Shoppingcenter erfreuen sich reger Besuche und auch fahren eine Menge nagelneuer Autos über die Straßen. Gleichzeitig sind es aber mittlerweile 46 Millionen Amerikaner, die von sogenannten „Food Stamps“, Gutscheinen für kostenlose Nahrungsmittel, abhängig sind.

Was könnte also alles auf Europa zukommen, wenn den Vorstellungen von Draghi und anderen Vertretern des Finanzsektors Folge geleistet wird? Ist es einer modernen hochtechnisierten Zivilisation würdig, jeden gegen jeden ums Überleben kämpfen zu lassen? Wäre es nicht an der Zeit, die gesamte Situation von Grund auf neu zu überdenken? Und zwar noch bevor die Situation der in den Vereinigten Staaten gleicht?

Es wäre wohl an der Zeit daran zu denken, der Erhaltung des Erreichten Vorrang einzuräumen, anstatt ständig nach Erneuerungen zu suchen. Lebensqualität hängt nicht ausschließlich von Konsum ab. Es wäre an der Zeit, dass die Mitglieder unserer Gesellschaft sich wieder als Teil einer Gemeinschaft erkennen, anstatt als anonyme Individuen innerhalb einer von außen gesteuerten Masse. Vielleicht wäre es ratsam zu erkennen, dass wir letztendlich alle im selben Boot sitzen. Dass wir nicht gegeneinander um den letzten verfügbaren Job kämpfen, sondern miteinander auf eine gemeinsame Lösung hinarbeiten.

Nachdem wir in einer demokratischen Gesellschaft leben, wäre es natürlich notwendig, dass ein nennenswerter Anteil unserer Mitmenschen begreift, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln. Und ich hoffe, mit diesem Beitrag über die Lebensbedingungen in den Vereinigten Staaten, der in keiner Weise übertrieben ist, einen Teil dazu geleistet zu haben. Auch wenn die blinkenden Werbelichter vom Times Square, die schicken Autos auf den Highways, die belebten Strände von Atlantic City, die Märchenwelten von Disneyland und Las Vegas noch so beeindruckend sein mögen, das andere Bild von Amerika wird selten präsentiert. Und glauben Sie mir, so wie die ärmere Hälfte der US-Bürger lebt, so würden wir mit Sicherheit nicht leben wollen. Und wenn Mario Draghi und Andere noch so gelassen erklären, dass wir auf den Sozialstaat verzichten müssen, um auf den internationalen Märkten konkurrenzfähig zu bleiben, um den unersättlichen Finanzsektor zu befriedigen, wir, die Bürger, sehen es anders. Und wir richten uns unseren Staat so ein, wie wir es für notwendig erachten – Capisci, Signor Draghi?

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