Dienstag , 19 März 2024
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Jeder große Krieg beruht auf wirtschaftlichen Motiven

napoleon_ausschnitt_davidNur ein Blick in die Geschichte erlaubt, die Gegenwart zu verstehen. Der herkömmliche Geschichtsunterricht mag deswegen gelegentlich als langweilig erscheinen, weil er sich nur all zu oft in Oberflächlichkeiten verliert. Was haben wir über Napoleon gelernt? Er war größenwahnsinnig und wollte die Welt – oder zumindest Europa – beherrschen. Die napoleonischen Kriege basierten ausschließlich auf wirtschaftlichen Aspekten! Der folgende kurze Überblick soll nicht nur einem besseren Geschichtsverständnis dienen, er soll dazu beitragen, die derzeitige Weltsituation, die Wirtschaftskrise und die Expansionspolitik in ihren Wurzeln zu verstehen.

Dass Marie Antoinette, Gemahlin von König Ludwig XVI, geäußert haben soll: „Wenn die Franzosen kein Brot haben, warum essen sie nicht einfach Kuchen (Brioche)?“, dabei handelt es sich nachgewiesenermaßen um Revolutionspropaganda. Worauf dieses falsche Zitat jedoch eindeutig verweist, ist die wirtschaftliche Not Frankreichs, gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Und was war die Ursache dafür? Die unverschämte Gier des Königs oder des Hochadels? Die Erhaltung des Hofstaates in Versailles? Der luxuriöse Lebensstil einer Elite, finanziert durch den Schweiß der Massen?

Derartige Vermutungen nährten mit Sicherheit das Feuer der Revolution. Ungeachtet der tatsächlichen Belastungen, die dem gemeinen Volk durch die Finanzierung der Aristokratie entstanden, der wahre Grund für den Mangel blieb den Franzosen dieser Epoche ebenso verborgen wie vergleichbare Situationen in späteren Zeiten für die Massen unerkennbar blieben. Die Not Frankreichs wurde von der englischen Wirtschaftspolitik verursacht; vom britischen Merkantilismus, dessen Auswirkungen sich durch die industrielle Revolution, die um 1770 einsetzte, noch enorm verstärkt wurden.

England war zu dieser Zeit die Weltmacht schlechthin. Englische Kolonien erstreckten sich rund um den Erdball. Doch auch diese Politik hatte nichts mit Größenwahn oder dem direkten Bestreben einer Weltunterwerfung zu tun. Es ging in erster Linie um die Kontrolle und Beschaffung von Rohstoffen. In englischen Fabriken wurden diese weiter verarbeitet. Und nun mussten sie noch verkauft werden. Wo? Natürlich auf dem Kontinent. Nachdem Frankreich nur durch den Ärmelkanal von England getrennt ist, litt dieses Land eben am meisten darunter, dass die eigene Produktion durch Importe in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Viel wird über die möglichen Drahtzieher der Französischen Revolution spekuliert. War es von Anfang an geplant, einen Mann wie Napoleon an die Spitze zu bringen, oder ergab es sich einfach aus dieser völlig außer Kontrolle geratenen Situation? Abgesehen davon, wie schwierig die Beantwortung dieser Frage sein möge, mit dem vorliegenden Thema hat sie ohnehin sehr wenig zu tun. Tatsache ist, dass der kleinwüchsige Korse, Napoleone Bonaparte, durch den sogenannten „Staatsreich des 18. Brumaire VIII“, im November des Jahres 1799, zum Ersten Konsul und damit zum Alleinherrscher über Frankreich wurde.

Abgesehen von der durchaus genialen Leistung, in kürzester Zeit eine neue Ordnung in Frankreich herzustellen, traten Napoleons Bemühungen um Verbündete in Europa sehr rasch in den Vordergrund. Verbündete gegen wen? Daran besteht keine Zweifel: Gegen England! Was immer Napoleon an persönlichen Schwächen, an Machtstreben – um nicht zu sagen: Machtgier – nachgesagt werden möge, sein erstes und eigentliches Ziel war, der Überflutung der französischen – und letztendlich der gesamten kontinentalen – Märkte durch englische Produkte ein Ende zu setzen.

Und wie konnte ein neuer Herrscher des angehenden 19. Jahrhunderts, der gegen jede traditionelle Regel an die Macht kam, unter dem Volk populär werden? Nur die Wenigsten bekamen ihn jemals zu sehen, gar nicht zu reden von einem Wortwechsel. All die Propagandainstrumente des 20. Jahrhunderts waren nicht einmal noch im Ansatz ausgedacht. Was also konnte Napoleon in Frankreich zu derartiger Popularität verhelfen?

Ausschließlich eine relevante Verbesserung der wirtschaftlichen Lage. Wenn plötzlich wieder nicht nur Brot auf dem Tisch liegt, sondern auch noch mit einer ordentlichen Scheibe Speck drauf.

Wie populär Napoleon schon im Jahr 1802 war, weniger als drei Jahre nach seiner Machtergreifung, zeigt das Ergebnis der Volksabstimmung vom 2. August. Drei Millionen Franzosen sprachen sich für Napoleon als „Konsul auf Lebenszeit“ aus. Nicht mehr als 1.600 waren dagegen. Und als im November 2004 darüber abgestimmt wurde, ob Napoleon zum Kaiser gekrönt werden sollte, wurden exakt 3.521.675 Ja-Stimmen gezählt. Die Zahl der Gegner betrug 2.579.

Im Wikipedia-Artikel über das Berliner Dekret, einer kompromisslosen Handelsblockade gegen England aus dem Jahr 1806, finden sich völlig irreführende Informationen, die an der tatsächlichen Erklärung der Situation meilenweit vorbeiführen. Doch auch in vielen Geschichtsbüchern wird die Entwicklung der Spannungen zwischen England und Frankreich ähnlich erklärt.

Schon seit 1793 wurden die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Großbritannien und Frankreich von einem wenig wirksamen Wirtschaftskrieg begleitet. Mit der französischen Hegemonie über das kontinentale Europa und als Folge der Niederlage in der Schlacht von Trafalgar 1805 suchte Napoleon Großbritannien durch einen totalen Wirtschaftskrieg niederzuringen. (Wikipedia – Berliner Dekret)

seeschlacht_trafalgarDer Wirtschaftskrieg war nicht die Folge einer militärischen Auseinandersetzung, sondern es war genau umgekehrt. Auf der ursprünglich falschen Annahme, dass zuerst die Feindschaft bestand und der Handelskrieg als dessen Folge einsetzte, basieren endlose Spekulationen, die allesamt keinerlei Sinn ergeben. Niemals in der Geschichte beruhten politische Kontroversen auf persönlichen Ambitionen. Den Bürgern, den Massen, den Soldaten lässt sich dabei durchaus einreden, dass es sich bei den Menschen auf der anderen Seite um Bestien handle. Doch darf niemals davon ausgegangen werden, dass die Entscheidungsträger selbst von derart unsinnigen Hetzparolen geleitet werden. Aus welchem Grunde also kam es zum Krieg mit England? Aus welchem Grunde ließ sich Napoleon auf eine Seeschlacht mit der übermächtigen britischen Flotte am Cap Trafalgar ein, dem „Tor zum Mittelmeer“ an der Straße von Gibraltar, aus der Vizeadmiral Nelson als Sieger hervorging? Und warum gerade am Cap Trafalgar? Es ging um den Schutz der heimischen Märkte. Es ging darum, die weitere Überschwemmung des Kontinents durch englische Waren zu unterbinden. Und Napoleon versuchte keineswegs „England durch einen Wirtschaftskrieg“ niederzuringen, weil die französische Flotte der britischen unterlegen war. Die wirtschaftliche Vorherrschaft Englands war der Auslöser des Konflikts. Und England wiederum konnte sich nicht leisten, auf die kontinentalen Märkte zu verzichten. Die Erhaltung des Militärapparates zur Sicherung der Kolonien verschlang regelmäßig Unsummen.

Zur besseren Veranschaulichung der Situation, quotiere ich einen Satz aus dem Artikel über die wirtschaftliche Entwicklung des Vereinigten Königreichs aus der englischsprachigen Wikipedia:

Merkantilismus bedeutete, dass sich die Regierung mit Kaufleuten (engl. „Merchants“, daher: Merkantilismus) mit dem Ziel einer Vergrößerung der politischen Macht und einer Anhebung privaten Wohlstands, unter dem Ausschluss anderer Mächte, verbündete.

tsar_alexander_IDie Konsequenzen, die sich aus französischen Einfuhrzöllen auf englische Waren ergaben, waren weitreichend. Auf den ersten Blick lässt sich natürlich eine gewisse Logik erkennen, die zur Frage führt, warum nicht alle kontinental- europäischen Staaten diesem Beispiel begeistert folgten? Doch gab es einerseits Hafenstädte und andere Handelsplätze, die von dieser Wirtschaftspolitik durchaus profitierten. Und dann gab es Individuen, Merchants, Geschäftsleute, Geldwechsler, deren Interessen in- und außerhalb Englands auf dem Spiel standen. Und auch gab es Könige und Fürsten, die sich, teils eigennützig, teils aus falschem Verständnis, an die damalige „Business-Lobby“ verkauften. Und, wie französische Geschichtsforscher, wie Robert Lacour-Gayet, André Thépot und Dominique de Villepin in allen Details erklären, ließ sich auch Zar Alexander I, in seinem Fall durch ansehnliche Mengen an Gold, nach anfänglicher Zusammenarbeit mit den Franzosen, von der damaligen Finanzlobby bestechen.

Nicht Größenwahn hatte Napoleon dazu bewegt, gegen Moskau zu marschieren, sondern der gewaltige Einfluss Russlands auf Europa. Nur wenn es gelungen wäre, das gesamte kontinentale Europa zu vereinigen, und zwar keineswegs unter französischer Oberhoheit, sondern als Interessensgemeinschaft gegen die wirtschaftliche Dominanz Englands, wäre es möglich gewesen, sich gegen diese Vorherrschaft zur Wehr zu setzen. Gegen das Ausbluten der Bevölkerung zur Bereicherung einer Elite, die sich – auch damals schon – hinter der politischen Führung versteckte.

Was wird über Napoleon nicht alles erzählt und geschrieben. Der erste Antichrist sei er gewesen, dem Größenwahn sei er erlegen. Alle Erklärungen bemühen sich, ihn, den korsischen Emporkömmling, in den Mittelpunkt zu stellen; all seine Feldzüge und Schlachten als sein persönliches Streben zu verurteilen. Warum haben ihn die Franzosen so sehr geliebt, dass sie ihn, bei seiner Rückkehr von Elba, mit weit ausgebreiteten Armen begrüßten? Dass sie ihm wiederum in eine blutige Schlacht folgten und ihr Leben für ihn – oder für Frankreich – gaben? All dies gelang Napoleon ohne Massenmedien, ohne Propaganda, ohne Manipulation. Es gelang ihm schlicht, weil sich unter seiner Herrschaft die Lebensverhältnisse in Frankreich tatsächlich deutlich spürbar verbessert hatten. Weil sich Napoleon, und zusammen mit ihm das gesamte französische Volk, gegen die Tyrannei eines Wirtschaftssystems erhoben hatten, das sich damals noch in seinen Kinderschuhen befand.

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Der Merkantilismus gilt als ein Relikt der Vergangenheit. Und somit scheinbar auch die Zusammenarbeit von Politik und Kaufleuten. (Heute würde man sie „internationale Investoren“ nennen.)

Unsere heimische Wirtschaft wird mit Billigprodukten aus Asien überflutet. Warum? Um den armen Chinesen dadurch zu helfen, dass sie ihr Leben für zehn Cents pro Stunde am Fließband verbringen dürfen? Schutzzölle wurden abgeschafft, weil sie den „freien Handel“ beschränkten. Und wenn Konkurrenzprodukte aus dem Ausland billiger sind, dann müssen eben auch wir für weniger Geld arbeiten, nicht wahr? Das wäre der Wermutstopfen, der die so willkommene Verfügbarkeit von Billigimporten begleitet.

Sehr viel ließe sich hier noch hinzufügen. Doch letztendlich geht es darum, die wirtschaftlichen Hintergründe, auf denen jede politische Entwicklung beruht, zu berücksichtigen. Heute, in einer Zeit, in der die Meinung der Massen von den Medien zumindest beeinflusst wird, lassen sich die Fakten um vieles mehr verzerren als zu Zeiten Napoleons. Heute lässt sich jeder politische Versuch, wieder Ordnung zu schaffen, die Vorherrschaft des sogenannten Finanzsektors zu brechen, im Handumdrehen zum Populismus erklären, zur Gefahr für unsere Gesellschaft, zum Rückschritt in eine Vergangenheit ohne „freiem Handel“, ohne internationalem Kapital und ohne Schuldenkrise. In eine Vergangenheit, in der es noch souveräne Nationalstaaten gab. In der es auch Kriege gab. Allerdings nicht, weil sich die Völker Europas gegenseitig hassten, sondern weil sich Europa damals noch regional gegen die Dominanz einer Clique von „Kaufleuten“ oder „Merchants“, die äußerst geschickt verstanden, die politische Führung einzelner Länder für ihre eigenen Interessen einzuspannen, zur Wehr zu setzten versuchte. Sobald sich ganz Europa, und eines Tages die ganze Welt, der Herrschaft des Finanzsektors restlos untergeordnet haben wird, sind Kriege natürlich ausgeschlossen. Zur Zeit gibt es sie aber noch. Denn nicht jeder Staat, nicht jede Regierung, nicht jedes Volk ist mit dieser Entwicklung einverstanden.

Nachtrag: Im vorliegenden Artikel sind die Namen von drei französischen Historikern (Robert Lacour-Gayet, André Thépot und Dominique de Villepin) angeführt. Nähere Informationen und Erläuterungen zum Thema finden sich in folgenden Büchern die, meines Wissen, leider nicht in deutscher Sprache erhältlich sind:

„Les Cent-Jour – ou l’esprit des sacrifice“, Dominique de Villepin – Perrin, 2001

„Napoléon – ou le mythe du sauveur“, Jean Tulard – Fayard 1987

„Napoléon et l’empire“, Band II – Hachette, 1968 – Beiträge von Robert Lacour-Gayet und André Thépot

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