Freitag , 26 April 2024
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Hirndoping zwischen Science Fiction und heutiger Realität

leere_tablettenstreifen„Was wäre, wenn es eine Droge gäbe, die nicht nur die Illusion verleiht, hochintelligent, charismatisch und rundum unschlagbar zu sein, sondern all das tatsächlich bewirkt?“ Derzeit läuft mit Ohne Limit ein Science-Fiction-Thriller in den Kinos, der mit Wünschen und Phantasien spielt, die in unserer Leistungsgesellschaft immer realer, wirkungsmächtiger und damit brisanter werden. Was alles wäre der Mensch bereit zu akzeptieren, um – in der Hoffnung auf Erfolg – seine Leistung zu verbessern?

„Was hättest Du getan?“ fragt Eddie Morra, der (Anti-)Held in Ohne Limit, den Zuschauer: Der erfolglose, einsame und demotivierte Schriftsteller Morra hat sich einen großen Vorrat der Designerdroge NZT gesichert, die ihm die Lösung all seiner Probleme verspricht: Die kleinen durchsichtigen Pillen machen kreativ, hochintelligent und unglaublich charmant, einfach, indem sie das volle Potenzial des menschlichen Gehirns ausschöpfen. Sie helfen also nur, endlich das zu nutzen, was man hat. Für den verzweifelten und ruinierten Eddie Morra fällt die Antwort auf die Frage nicht schwer und mit NZT beginnt für ihn ein kometenhafter Aufstieg in die New Yorker High Society: Geld, Ansehen, Frauen – ja sogar das Glück in der Liebe kehrt zurück und Eddie ist auf dem besten Weg zu einem rundum erfüllten Leben. Aber Ohne Limit ist ein Thriller und kein Science-Fiction-Psychodrama, und so räumt der Film sehr schnell und durchaus packend der Spannung den Vorrang vor psychologischen und ethischen Aspekten ein, die zwar angerissen aber nicht vertieft werden.

Doch worum geht es hier eigentlich? Es geht um Hirndoping, wie es landläufig heißt. In der Fachdebatte zwischen Medizin, Philosophie und Psychologie spricht man von „Enhancement“, was zunächst nicht mehr als „Verbesserung“ heißt: Die Steigerung menschlicher Leistungen, Fähigkeiten oder auch Gefühlslagen über ein Maß hinaus, das man normal oder gesund nennen würde, und zwar unter Anwendung technischer oder pharmakologischer Hilfsmittel – wie beim Doping im Sport eben, allerdings doch mit einigen gravierenden Unterschieden: Da wäre zunächst einmal die Vielzahl möglicher Ziele von Enhancement, denn neben Kreativität und Ausdauer könnte man auch  Eigenschaften und Fähigkeit wie Empathie, Ausgeglichenheit oder das Gedächtnis „optimieren“: Eddie Morra etwa hat je nach Bedarf Zugriff auf jede seiner Erinnerungen, egal wie unbedeutend und wie weit hinten im Gedächtnis sie vergraben gewesen sein mögen. Auch Körperkraft oder Feinmotorik lassen sich verbessern, was nicht nur im Sport, sondern in vielen Lebensbereichen hilfreich sein kann.

Kurzum: Das Spektrum dessen, was am Menschen verbessert werden kann, ist sehr breit und bunt. Und so gibt es in den Zukunftsvisionen so genannter „Transhumanisten“ grundsätzlich kaum eine Verbesserung, die nicht in der einen oder anderen Hinsicht erstrebenswert wäre. Mittel- bis langfristig können auch immer mehr davon realisierbar werden – dank der Fortschritte in den Neuro-, Bio-, Informations- und Kognitionswissenschaften sowie vor allem bei deren Verschmelzung, der „NBIC convergence“. Darin besteht das zweite zentrale Unterscheidungsmerkmal zum Doping im Sport: Während Sport nämlich meist einen ziemlich kleinen, eher nebensächlichen Bereich im menschlichen Leben und Zusammenleben markiert, geht es beim Enhancement letztlich „ums Ganze“. Es geht um das Wesen des Menschen, in das dieser gleichzeitig als Gestalter und Gestalteter eingreift, und es geht um die Art und Weise, wie wir Menschen uns gegenseitig wahrnehmen und zusammen leben möchten.

Nun führt uns Ohne Limit sehr anschaulich und komprimiert vor Augen, was alles möglich wäre, wenn es einem Pharmalabor gelänge, ein Medikament zu entwickeln, das fast alle „all purpose means“ auf einmal steigert, also universell einsetzbare Fähigkeiten wie Intelligenz oder Fleiß. So wird Eddie Morra augenblicklich zu einer Art Übermensch, mit dem man sich als Zuschauer nicht mehr identifiziert, weil einfach die durch den Film inszenierte Diskrepanz zu groß geworden ist. Man begibt sich also in die entfernten Welten der Science Fiction, und das, was im Film geschieht, hat scheinbar mit der eigenen Lebenswelt wenig zu tun: Eine Pille wie NZT gibt es nicht und wird es auch auf absehbare Zeit nicht geben, ab ins Reich der Phantasie damit und mit all den Fragen und Problemen, die damit verbunden sind.

Aber der Film spielt im heutigen New York, in einem der Zentren der westlichen Welt. Und er spielt mit den Wünschen und Phantasien heutiger Zuschauer. Aktuellen Umfragen zufolge würde eine deutliche Mehrheit, beispielsweise 80% der vom Psychiater Klaus Lieb jüngst befragten Schüler und Studenten, Hirndoping ausprobieren, wenn schädliche Nebenwirkungen ausgeschlossen werden können. Effektive und sichere Neuro-Enhancer gelten als einer der letzten noch „ungehobenen Goldschätze der Pharmabranche“, wie Richard Friebe 2008 in der FAZ schreibt. Die Entwicklung und Markteinführung entsprechender Pharmazeutika wäre ein beispielloses Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage, weswegen wohl nicht zuletzt die Kräfte des Marktes in diese Richtung wirken dürften.

Jenseits aller utopischen oder dystopischen Zukunftsmusik jeglicher Art: Woher kommt diese gewaltige potenzielle Nachfrage? Und wie weit sind wir wirklich noch von der Eddie-Morra-Frage „Was hättest Du getan?“ entfernt? Man muss gar nicht lange suchen, um den Wunsch nach Verbesserung, Steigerung und Optimierung in verschiedensten Facetten als allgegenwärtig und beinahe schon übermächtig wahrzunehmen. Angefangen bei den unschuldig anmutenden Imperativen der Softdrinkbranche („Trinke Fanta. Lebe bunter!“) über den Boom der Energydrinks und die scheinbar ungeahnten Kräfte, die man leicht durch exotische Elixiere der Noni- und Goji-Klasse („Goji – Die Beere der Glücklichkeit“) freisetzen könne, bis hin zur Pharma-Cash-Cow Ritalin, einem Medikament zur Behandlung von AD(H)S, dem „Zappelphilipp-Syndrom“, dessen Verkaufszahlen bei weitem das übersteigt, was aufgrund der – oft durchaus umstrittenen – AD(H)S-Diagnosen zu erwarten wäre: Der wirtschaftliche Erfolg dieser und vieler weiterer Produkte drückt in Zahlen das kulturell tief verankerte Verlangen aus, das eigene Leben und die Chancen im Streben nach Zufriedenheit, Glück oder Wettbewerbsvorteilen schnell und mit möglichst geringem Aufwand zu verbessern.

Man mag einwenden, dass viele solcher Produkte und erst recht verschreibungspflichtige Medikamente nur von einer kleinen Minderheit konsumiert beziehungsweise missbraucht werden. Allerdings bilden die gegenwärtigen und zu erwartenden Möglichkeiten zur Verbesserung ein langes und dicht besiedeltes Kontinuum: Auf der einen Seite harmlose und kaum noch wegzudenkende Lifestyle-Produkte, bei denen die größte Gefahr in der Volksverdummung durch die Werbung besteht, und am anderen Ende das Ausdehnen der Grenzen von Leistungsfähigkeit bis in medizinisch, rechtlich und moralisch höchst fragwürdige Bereiche. Zwischen diesen beiden Polen gibt es in unserer gleichermaßen von Konsum wie auch durch Leistungsorientierung geprägten Gesellschaft eine breite und vielseitige Spanne allerlei an sich mehr oder weniger harmloser Genussmittel und frei verkäuflicher Medikamente, die alle drei Eigenschaften gemeinsam haben: Sie sind erstens gesellschaftlich akzeptiert, können zweitens sowohl sinnvoll eingesetzt und genossen als auch missbraucht und zweckentfremdet werden, und sind drittens grundsätzlich auch zur Steigerung von Leistung und gewünschten Eigenschaften einsetzbar. Und Indizien sprechen dafür, dass die Zahl derjenigen abnimmt, die von sich noch behaupten können, noch nie einen doppelten Espresso oder auch ein Schlückchen Sekt gezielt und bewusst eingesetzt zu haben, um in bestimmten Situationen besser abzuschneiden.

Natürlich ist das alles weit weg von NZT oder auch nur von „richtigen“ Aufputschmitteln und Psychopharmaka. Bezeichnend und brisant ist aber die latent vorhandene und gesellschaftlich teilweise auch geförderte Bereitschaft zu „Hirndoping light“. Zu einer möglichen Erklärung dieser Tendenz liefern Soziologen interessante Befunde: Tatsächlich herrscht zwar bei uns immer noch das Leistungsprinzip, demzufolge Leistung mit Erfolg belohnt wird. Auf der anderen Seite scheint dieses Prinzip heute „ausgehöhlt“ (Sighard Neckel), denn erstens ist die Verbindung zwischen Leistung und Erfolg immer weniger klar und eindeutig, Stichwort mangelnde Leistungsgerechtigkeit, und zweitens verliert die Leistung im Verhältnis zum Erfolg immer stärker an normativem Gewicht: Während man früher Leistung zwar nicht ausschließlich aber durchaus auch um ihrer selbst willen erstrebte und ihr einen beträchtlichen Eigenwert zusprach, zählt heute immer weniger die Leistung selbst, sondern vermehrt nur noch ihr Ergebnis. Der Soziologe Sighard Neckel spricht in seinem Buch Flucht nach vorn von „Erfolgshandeln“, das sein „strategisches Ziel allein in der eigenen Wirksamkeit“ finde und „an weitere Normsetzungen nicht gebunden“ sei. Mit anderen Worten: Allein der sichtbare Erfolg zählt und für den ist immer öfter auch jedes Mittel recht. Diese Tendenz wird durch einen Wettbewerb erzeugt und verstärkt, der als ständig heftiger und undurchsichtiger wahrgenommen wird und der uns Ulrich Bröckling zufolge dem „Diktat fortwährender Selbstoptimierung“ unterwirft. Die offenkundigsten Folgen davon sind gesundheitlicher Art: So ist seit Jahren das Burn-out-Syndrom auf dem Vormarsch, während Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO die Depression als weltweite Hauptursache für Arbeitsausfälle ausweisen.

Die Parallele zwischen diesen allgemeinen Zeitdiagnosen zur speziellen Problematik leistungssteigernder Mittel ist offensichtlich: Auf der einen Seite die Verbreitung und feste gesellschaftliche Verankerung verschiedenster Heil- und Genussmittel, die unter anderem auch zur Leistungssteigerung eingesetzt werden können, und auf der anderen Seite eine Gesellschaft, die immer mehr dahin tendiert, genau diese Leistungssteigerung vom Einzelnen zu verlangen. Und die „Passung“ zwischen beiden Seiten wird enger: Der Markt generiert auf der Leistungsseite den Anpassungsdruck auf den Arbeitnehmer und auf der Konsumseite die Produkte, Dienstleistungen und eben gegebenenfalls auch die Medikamente, die eine optimierte Anpassung erlauben und fördern. Und weil Marktmechanismen in aller Regel Optimierungsmechanismen sind, wirken sie in Richtung der Maximierung menschlicher Leistung, solange der Einzelne, die Gesellschaft und der Staat hier nicht bewusst gegensteuern und sich vom Leistungsdruck ein Stück weit emanzipieren.

Und hier sind auch Unternehmen in der Pflicht, nicht nur ausdrückliche und klar kommunizierte Leistungsanforderungen an ihre Mitarbeiter verantwortungsvoll zu setzen, sondern sich auch mit subtileren Formen von Leistungsdruck gezielt auseinanderzusetzen. In Ohne Limit wird in diesem Zusammenhang ein recht plumpes und daher von unserer heutigen Lebens- und Arbeitswelt wiederum weit entfernt scheinendes Szenario konstruiert: Am Ende des Films will Eddie Morras ehemaliger Boss unseren Helden dazu zwingen, NZT weiterhin zu nehmen, damit Morra sein Genie wie früher in dessen Dienste stellen und mit orakelhafter Weisheit wichtige Geschäftsentscheidungen beraten kann. Zwar sind derart offensive und offenkundige Strategien des „Fremd-Enhancements“ bislang nicht allzu verbreitet. Es lassen sich aber auch hier leicht Indizien für eine Erfolgsorientierung derart finden, dass uns die Früchte einer für uns erbrachten Leistung meist mehr kümmern als die Art und Weise, wie die Leistung zustande kam. Das reicht von den Menschenrechtsverletzungen in den dunkleren Ecken globaler Lieferketten bis hin zur offenkundigen Selbstkasteiung einer Bank beziehungsweise ihrer Mitarbeiter, die einer Werbeanzeige zufolge von sich behaupten: „Für Ihren Erfolg arbeiten wir die Nächte durch.“

Daraus folgt zunächst einmal nur der Bedarf nach einem bewussteren Umgang mit dem Leistungsdruck, den man sich selbst und anderen zumutet. Eine Gesellschaft, die sowohl immer mehr konsumieren als auch immer leisten will, muss sich mit der Gefahr auseinandersetzen, heiß zu laufen, Wachstum als Selbstzweck zu sehen und insofern auch sinnentleert zu werden, nämlich wenn der Mensch nur noch das ist, was er leistet und konsumiert. Da wir nicht nur in einer Leistungs- sondern auch einer Wissensgesellschaft leben, müssen wir uns die Frage stellen, welche Anreize wir für immer mehr mentale Leistung setzen und wohin das führen kann. Dabei sind Unternehmen und Ausbildungsstätten ebenso gefragt wie das wache Urteil jedes Einzelnen über sich, sein Denken und Handeln: Wie weit will ich gehen, um Leistung zu bringen und dabei authentisch zu bleiben? Das muss in einer aufgeklärten und freiheitlichen Gesellschaft jeder für sich selbst beantworten und im Alltag umsetzen können. „Was hättest Du getan?“ ist insofern von ihrem Science-Fiction-Kontext abstrahiert eine Frage, die mehr Gewicht in unserem täglichen Leistungswettbewerb erhalten sollte.

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