{"id":2500,"date":"2011-04-16T09:26:54","date_gmt":"2011-04-16T09:26:54","guid":{"rendered":"http:\/\/test.theintelligence.de\/wordpress\/?p=3465"},"modified":"2011-04-16T09:26:54","modified_gmt":"2011-04-16T09:26:54","slug":"momentaufnahmen","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/www.theintelligence.de\/index.php\/sonstiges\/46-allgemein\/2500-momentaufnahmen.html","title":{"rendered":"Momentaufnahmen"},"content":{"rendered":"

\"einkaufswagen_1\"\u201eDas kann doch unm\u00f6glich dein Ernst sein!\u201c Der Herr im sandfarbenen Kamelhaarmantel sieht mich mit einem abwesenden Blick an. \u201eWir haben das doch alles ausf\u00fchrlichst besprochen …\u201c Zumindest innerlich kann ich meine Verwunderung nicht verborgen halten – dieser Mensch ist mir v\u00f6llig unbekannt. Sein eher glasiger Blick geht immer noch in meine Richtung. Unsere Blicke treffen sich. \u201eVielleicht steht ja unmittelbar jemand hinter mir\u201c, h\u00f6re ich mich denken, \u201eund jener wird hier angesprochen …\u201c Zeitgleich drehe ich mich um.<\/p>\n

Nein. Hinter mir steht niemand. Bis auf die \u00e4ltere Frau, die gerade im Begriff ist zu bezahlen, stehen allein der Herr im Business Look und ich an der Kasse. Die Dame schlie\u00dft ihr Portemonnaie, l\u00e4sst noch schnell drei Dosen Katzenfutter in ihrer Handtasche verschwinden und wendet sich ab. Nahezu lautlos l\u00e4uft das Flie\u00dfband an. Transportiert die eingekaufte Ware des Kamelhaarmantels bis zum Scanner. Die Kassiererin blickt kurz zu ihm auf: \u201eTag!\u201c Der kurze Gru\u00df wird nicht wahrgenommen. W\u00e4hrend der Mann mit der rechten Hand einem Paket Brot, einer Ecke K\u00e4se, drei Schachteln Zigaretten und zwei Flaschen Prosecco vom Band nimmt und in den Einkaufswagen legt, fasst er sich mit seiner linken Hand ans Ohr, ber\u00fchrt ein kleines, gebogenes Ger\u00e4t, das am selbigen festgeklammert zu sein scheint. \u201eWir m\u00fcssen uns unbedingt zusammensetzen.\u201c Jetzt verstehe ich. Der Mann telefoniert. Ja. Das erkl\u00e4rt auch das Durch-Mich-Durchschauen.<\/p>\n

\u201eHeute Nachmittag? M\u00fcsste klappen!\u201c, vernehme ich noch deutlich, w\u00e4hrend der Kamelhaarmantel durch die automatisch gesteuerte Glast\u00fcr-Schleuse verschwindet. Einige Minuten sp\u00e4ter verlasse ich auf demselben Weg den Super-Markt. Ohne Wagen, beladen, mit einem gro\u00dfen Beutel \u00c4pfel an der Hand. Gleich rechts vom Ausgang, in unmittelbarer N\u00e4he der vor dem Markt in langen Reihen deponierten Einkaufswagen, l\u00e4chelt mich ein b\u00e4rtiges Gesicht freundlich an: \u201eHeute kalt.\u201c Der Vollbart reibt sich die H\u00e4nde. Ich blicke auf einige Exemplare des Hamburger Stra\u00dfenmagazins Hinz & Kunzt, die er mit dem Ellenbogen an seine Jacke dr\u00fcckt. Der Verk\u00e4ufer m\u00f6chte auf sich aufmerksam machen, oder besser gesagt, auf seine Ausgaben. Auch das habe ich verstanden. Ich kaufe eine Zeitung. Wir wechseln ein paar Worte. Freundliche Unverbindlichkeiten, die einerseits zwar keine N\u00e4he aufbauen, aber andererseits auch keine Distanz n\u00e4hren.<\/p>\n

<\/p>\n

Gleich neben dem Markt ein B\u00e4cker. Dort kann man sich setzen, einen Kaffee bekommen. Hin und wieder mache ich von diesem Angebot Gebrauch. Heute auch. Mit einer Serviette tupfe ich den Kaffee von der Untertasse, der mir w\u00e4hrend des Balanceaktes, vom Tresen zum Bistrotisch, \u00fcbergeschwappt ist. Blick in die Runde. Eine junge Frau, zwei Tische weiter rechts von mir, direkt am Fenster. Schnell gleiten ihre Finger \u00fcber die Tastatur des Laptops, den sie vor sich aufgeklappt positioniert hat. Die Anschl\u00e4ge verlieren sich im Raum, vereinen sich mit den Ger\u00e4uschen, die die Gesch\u00e4ftigkeit eines B\u00e4ckerladens mit sich bringt. Br\u00f6tchent\u00fcten knistern. Menschen melden sich mit einem \u201eMorgen!\u201c an. \u00dcber die K\u00f6pfe der Wartenden hinweg, erwidert die Verk\u00e4uferin mit einem Kopfnicken den einen oder anderen Gru\u00df. Ein Handy meldet sich. Das der jungen Frau am Laptop. \u201eHallo – duuu …\u201c freut sie sich ins Telefon. Die Tastatur bedient sie weiter.<\/p>\n

Auf dem Weg zum Parkplatz, eine sehr alte Frau. Mehr auf den Gehwagen (Rollator mag ich nicht sagen) gest\u00fctzt als sich mit ihm fortbewegend, taucht sie zwischen den unz\u00e4hligen Fahrzeugen auf. An den Griffen des Lenkers h\u00e4ngen mehrere Plastikt\u00fcten. Es ist offensichtlich, dass sie sich inmitten der Anfahrenden und Abfahrenden unsicher f\u00fchlt. Links von ihr biegt ein schwarzer Wagen ein. Einer jener mannshohen Familien-Gel\u00e4ndewagen. Ich tippe auf einen F\u00fcnfliter-Motor mit so um die 350 PS. Ich blicke auf die vier Auspuffrohre des Hecks, die alte Dame am Gehwagen, wie ich vermute, auf den verchromten K\u00fchlergrill zwischen den \u00fcberbreiten Kotfl\u00fcgeln. Der Gehwagen h\u00e4lt an. Das ist auch gut so. Die Limousine nicht. Hier, auf dem Parkplatz, inmitten der Menschen die sich im Blech bewegen, hier \u00fcberwiegen andere Regeln. Rechts vor links gilt jedenfalls nicht f\u00fcr eine Gehhilfe. Das sollte man wissen.<\/p>\n

\u201eWolfgang Amadeus Mozart – Klavierkonzert A-Dur – K\u00f6chelverzeichnis 488\u201c, aus dem Autoradio. Maurizio Pollini dirigiert die Wiener Philharmoniker. Mein Einkauf ist beendet, ich verlasse diesen Ort. Vor mir ein Wagen, der ebenfalls auf eine L\u00fccke im vorbeiflie\u00dfenden Verkehr wartet. Mein R\u00fcckspiegel zeigt mir noch, gerade soeben und weit hinten zur\u00fcck, die alte Dame. Sie hat ihr Ziel, den Eingang zum Markt, fast erreicht. Die Plastikt\u00fcten am Lenker schaukeln im Takt ihrer Schritte. Blick nach vorne. Momentan kommt kein Fahrzeug. Weder von links, noch von rechts. Der Fahrer in dem Wagen vor mir scheint es nicht zu bemerken. Der Wagen f\u00e4hrt nicht an. Ein Hupsignal ziehe ich nicht in Erw\u00e4gung. Das w\u00fcrde mir meinen Wolfgang Amadeus ver\u00e4rgern. Der Fahrer – wenn er denn mal fahren w\u00fcrde! – telefoniert. Das signalisieren mir die Gesten, die auch durch die Gl\u00e4ser meiner Front- und seiner Heckscheibe hindurch deutlich zu erkennen sind.<\/p>\n

Kurz vor der Einfahrt zu meinem Haus, ist die Stadtreinigung pr\u00e4sent. Auf der rechten Fahrbahnseite vor mir, das un\u00fcbersehbare Orange eines M\u00fcllfahrzeugs. Dahinter, in einem angemessenen Abstand, halte ich an. Nichts hetzt mich, ich habe Zeit. Das Fahrzeug hat sich ziemlich genau parallel zu einer am Stra\u00dfenrand abgestellten Reihe von M\u00fclltonnen ausgerichtet. Das hat seinen Grund, wie ich nun beobachten kann: Langsam, wie in Zeitlupe, von der rechten Seite des Fahrzeugs kommend, bewegt sich ein Greifarm in Richtung der grauen Tonnen. Bedingt durch ein Gelenk am Greifer, gleicht jene Technik kleine Unterschiede im Abstand problemlos aus. Schon h\u00e4ngt eine der Tonnen am Haken, wird angehoben, pr\u00e4zise zur \u00d6ffnung des M\u00fcllfahrzeugs gef\u00fchrt, entleert, und zur\u00fcck an ihren Platz gestellt. Das geschieht automatisch. Lautlos. Vom F\u00fchrerhaus aus ferngesteuert. Hier wird kein einziger M\u00fcllmann mehr an der Stra\u00dfe gebraucht.<\/p>\n

Langsam setzt sich das Orange in Bewegung. Ich kann passieren, fahre vorbei. Die Einfahrt. Das Carport. Der Weg zum Haus. Die T\u00fcte \u00c4pfel in den H\u00e4nden, \u00f6ffne ich den Postkasten. Eine fl\u00fcchtige Durchsicht. Die t\u00e4glich Werbung: Kataloge, Reklame und Stadtteilzeitungen. Die Angebote der umliegenden Superm\u00e4rkte, grellbunt abgedruckt auf umweltfreundlichem Papier, sind noch in einer Folie eingeschwei\u00dft. In der Hoffnung, dass sich zwischen dem beachtlichen Stapel nicht doch noch ein realer Brief befindet, klemme ich mir die Ansammlung unter den Arm. Ansonsten wird sich niemand mehr f\u00fcr die Zustellungen interessieren. So jedenfalls meine Vermutung. \u201eHallo!\u201c Hinter mir taucht der DHL Bote auf. \u201eK\u00f6nne Sie vielleicht ein Paket f\u00fcr Ihren Nachbarn annehmen? Dort ist niemand zu Hause.\u201c \u201eKlar\u201c, ich gehe dem Boten ein paar Schritte entgegen. \u201eMach ich.\u201c Der Mann \u00fcberreicht mir das P\u00e4ckchen. Eine Sendung B\u00fccher.<\/p>\n

Die Haust\u00fcr f\u00e4llt hinter mir ins Schloss. Nur noch d\u00fcnn ist das Gezwitscher der V\u00f6gel im Garten zu h\u00f6ren. Ein ziemliches dennoch aber erfreuliches Durcheinander. Ein netter Gru\u00df der Natur. Es wird Fr\u00fchling. Mit Kraft. Fast alle Fenster der unteren R\u00e4ume stehen auf Kipp. Das angenehme K\u00fchl der Fr\u00fchlingsluft wirkt belebend. Aus der K\u00fcche duftet es nach frisch gebr\u00fchtem Kaffee. Der B\u00e4cker kommt mir in Erinnerung. H\u00e4tte ich Kuchen mitbringen sollen? Der Anrufbeantworter blinkt, gibt mehrere Anrufe in Abwesenheit zu erkennen. Die kantig monotone Stimme des Speicherchips l\u00e4sst mich wissen, wann jeweils die Nummer dieses Anschlusses gew\u00e4hlt wurde. Weshalb die Anrufe erfolgten, das erfahre ich nicht. \u201eKlick. Es wurde keine Nachricht hinterlegt. Klack.\u201c Mit dieser Information schaltet sich das Ger\u00e4t auch eigenst\u00e4ndig wieder auf Standby-Betrieb. Der Sessel, direkt vor meinem B\u00fccherregal, l\u00e4dt mich zum Verweilen ein. Der Einladung folge ich gern.<\/p>\n

\u00a9 Peter Oebel<\/p>\n

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\u201eDas kann doch unm\u00f6glich dein Ernst sein!\u201c Der Herr im sandfarbenen Kamelhaarmantel sieht mich mit einem abwesenden Blick an. \u201eWir haben das doch alles ausf\u00fchrlichst besprochen …\u201c Zumindest innerlich kann ich meine Verwunderung nicht verborgen halten – dieser Mensch ist mir v\u00f6llig unbekannt. Sein eher glasiger Blick geht immer noch in meine Richtung. 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