Die nächste Frage könnte lauten: Warum soll dies überhaupt von Bedeutung sein? Heute lebt der wegen Kriegsverbrechen in Abwesenheit zum Tode verurteile Hitler-Vertraute mit Sicherheit ohnehin nicht mehr. Trotzdem erinnert Der Spiegel wieder einmal an „Die vielen Leben des Martin Bormann“. Durch Selbstmord 1945 in Berlin verstorben, lautet die offizielle Version. Nach dem Sturz des paraguayischen Diktators Alfredo Stroessner ergab Akteneinsicht, dass er bis 1959 in der Kleinstadt Itá gelebt hätte. Seine Gebeine wurden jedoch 1972 bei Bauarbeiten in Berlin entdeckt und durch DNA-Tests zweifelsfrei identifiziert. Sollte der Fall damit nicht abgeschlossen sein? Nicht ganz. Denn an seinen Knochen klebte rote Tonerde, wie sie in Berlin nicht vorkommt. Dafür aber im paraguayischen Itá.
Bei Martin Bormann, Jahrgang 1900, handelte es sich um eine der zentralen Figuren im Dritten Reich. Am Ende von „Hitlers politischem Testament“, verfasst am 29. April 1945, in dem Hitler ein letztes Mal seinen blinden Hass gegen das „internationale Judentum“ ausdrückte, findet sich, neben Goebbels, Burghof und Krebs, auch der Name Bormann unter den angeführten Zeugen.
Während Hitler am 30. April 1945 Selbstmord beging und seine Leiche, zusammen mit der von Eva Braun, vor dem Führerbunker verbrennen ließ, blieb es über viele Jahre hinweg ungewiss, was mit Marin Bormann geschehen war. 1946 wurde er beim Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess in Abwesenheit zum Tode durch den Strang verurteilt. „Obwohl Bormanns Leiche nicht gefunden wurde, hatte ihn am 10. März 1954 das Amtsgericht Berchtesgaden amtlich für tot erklärt“, lässt sich bei Wikipedia nachlesen. Gleichzeitig kursierten jedoch Unmengen von Gerüchten, dass ihm die Flucht aus Deutschland gelungen sei. Darauf ging nun Der Spiegel in dem Artikel „Die vielen Leben des Martin Bormann“ wieder einmal ein. Immerhin hatte der bekannte Nazi-Jäger Simon Wiesenthal seine Suche nach Bormann, trotz des Entscheids des Berchtesgadener Amtsgerichts, über Jahre hinweg nicht eingestellt.
In dem Spiegel-Artikel werden viele der ehemals kursierenden Gerüchte angeschnitten. Südamerika wird beiläufig als möglicher Fluchtort erwähnt, daneben aber auch Mexiko, Spanien und sogar die Sowjetunion. Die italienische Marxistenzeitung „Il Manifesto“ glaubte im Jahr 1996 sogar zu wissen, dass Bormann in Rom verstorben sei.
Im Jahr 1972 wurden bei Erdkabelarbeiten in Berlin Gebeine entdeckt, bei denen es sich – wie spätestens durch eine DNA-Analyse im Jahr 1998 zweifelsfrei bewiesen wurde – um jene von Martin Bormann handelte. Im folgenden Jahr wurden sie verbrannt und in der Ostsee beigesetzt.
Auf eine durchaus interessante Geschichte ging Der Spiegel in diesem Beitrag jedoch überhaupt nicht ein:
Bis 1989 wurde Paraguay vom deutschstämmigen Diktator Alfredo Stroessner regiert. In den folgenden Jahren war Einsicht in bis dahin geheimgehaltene Akten möglich. Zu Anfang des Jahres 1993 erschienen in allen paraguayischen Tageszeitungen ausführliche Berichte darüber, dass Martin Bormann in der Kleinstadt Itá, rund 40 km südlich von der Hauptstadt Asunción, gelebt hätte. Nach seinem Tod 1959 sei er am dortigen Ortsfriedhof beigesetzt worden.
Eine kurze Zusammenfassung dieser Meldungen findet sich in einem Artikel vom 25. Februar 1993 bei The Independent. Diesen Informationen zufolge hätte Bormann unter Magenkrebs gelitten. Sein behandelnder Arzt wäre Josef Mengele gewesen, dem wiederum enge Verbindungen zu Alfredo Stroessner nachgesagt wurden. Mengele ist, nebenbei erwähnt, im Jahr 1979 bei einem Badeunfall in Brasilien ums Leben gekommen. Bormanns Todestag wird in dem Artikel, basierend auf Berichten aus Paraguay, mit dem 15. Februar 1959 angegeben. Sein Leichnam wurde in einem unmarkierten Grab am Ortsfriedhof von Itá beigesetzt.
Unterstrichen wird die Glaubwürdigkeit dieser Meldungen durch die Namensangabe des paraguayischen Richters, Luis Benitez Riera, der die Echtheit der vorliegenden Polizeiunterlagen bestätigt hatte.
Bezüglich der Behandlung durch Mengele verweist Independent, unter Berufung auf die paraguayische Tageszeitung Noticias, auf Berichte des DDR-Geheimdienstes aus dem Jahr 1961, in denen Mengeles Ankunft gegen Ende des Jahres 1958 in Paraguay Erwähnung findet.
Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Einerseits wurden die in Berlin gefundenen Gebeine eindeutig als jene von Bormann identifiziert, andererseits existieren in Paraguay ebenfalls ernstzunehmende Polizeidokumente, die auf seinen dortigten Aufenthalt verweisen; die informieren, dass er in Itá beigesetzt wurde.
Zwar nicht in der deutschen, doch in der englischen Ausgabe von Wikipedia wird auf „forensische Ungereimtheiten“ verwiesen. Auf Bormanns Skelett fanden sich Spuren roter Tonerde. Solche ist zwar nicht im Großraum von Berlin zu finden, dafür aber in Paraguay.
Am 11. August 1996 veröffentlichte The Independent einen Brief des bekannten Zahnchirurgen H. W. Thomas. Dieser schreibt:
„Die deutschen Pathologen, die Martin Bormanns Überreste untersuchten, wurden von Professor Sognnaes beaufsichtigt, dem weltberühmten Kieferorthopäden von der UCLA (Anm.: University of California, Los Angeles) – der eng mit mir zusammenarbeitete.
Die zahnärztlichen Aufzeichnungen, durch welche die Identität Bormanns bestätigt wurde, wiesen aber auch beunruhigende Anomalitäten auf, die nahelegten, dass nach 1945 mehrere Zahnbehandlungen durchgeführten wurden. Bormanns Schädel war außerdem von roter Tonerde umgeben, wie sie in Itá vorkommt, jenem Dorf in Paraguay, wo Bormann, kürzlich entdeckten paraguayischen Polizeiberichten zufolge, verstorben ist. Von solcher Tonerde gibt es im Berliner Ulap-Park, wo der Schädel gefunden wurde, nicht die geringste Spur. Somit gibt es einen bedeutenden Nachweis, dass Bormanns Überreste nach Berlin zurückgebracht wurden, …“
Am Ende empfiehlt der Autor, dass in derart komplizierten Fällen forensischen Fakten mehr Bedeutung zuzumessen sei als „geschichtlichen Übertreibungen“.
Die drei angeführten Fakten, nach 1945 durchgeführte Zahnbehandlungen, rote Tonerde und dazu die Polizeiberichte aus Paraguay, lassen tatsächlich wenig Spielraum für Spekulationen offen. Zu großer Wahrscheinlichkeit wurden Bormanns Gebeine in Itá ausgegraben und nach Deutschland gebracht. Die Frage, die offen bleibt, ist das Warum? Wäre es zu schmerzlich zu akzeptieren, dass einer der Hauptverantwortlichen für die Verbrechen der Nazis noch 14 Jahre in Freiheit lebte?
Wenn nun Der Spiegel in einem neuen Artikel mit den verschiedenen Gerüchten aufzuräumen versucht, warum wird die wahrscheinlichste Version, nämlich, dass Bormann in Paraguay verstorben und ursprünglich in Itá beerdigt worden ist, dabei ausgelassen?
Doch erinnert dies nicht auch an die mysteriösen Umstände bezüglich des Todes von Rudolf Heß im August 1987, deren Erwähnung sehr rasch zu einem Tabu wurde? Von den Zweifeln seines Krankenpflegers abgesehen, der von der Familie konsulitierte Gerichtsmediziner Wolfgang Spann stellte anhand der sogenannten Strangmarke fest, dass ein „typisches Erhängen“ ausscheidet. In dem Film „Geheimakte Heß“ (2004) erklärt Wolfgang Spann wörtlich: „Es scheidet unter Umständen nicht aus ein a-typisches, am Boden liegend. Aber so wie uns mitgeteilt wurde, wie es gewesen sein soll, dass er sich am Kabel erhängt hat, kann es sicher nicht gewesen sein“.
Ungeachtet aller Kritiken an dem genannten Dokumentarfilm, die gegen Ende von einem deutschen Gerichtsmediziner gegebenen Erklärungen verdienen zweifellos Respekt.
Sind Bemühungen, berechtigte Analysen geschichtswissenschaftlicher Thesen mit Sympathie für eine verbrecherische Ideologie gleichzusetzen, nicht letztendlich verantwortungslos? Bringt das Verzerren des Geschichtsbildes im Bereich eher nebensächlicher Details nicht die Gefahr mit sich, dass von manchen Menschen gleichzeitig auch tatsächliche Verbrechen in Frage gestellt werden?
Zu bezweifeln, dass sich ein Mann 1945 vergiftet haben soll, an dessen Zähnen zu einem späteren Zeitpunkt Behandlungen durchgeführten wurden, hat sicher nichts mit Nazi-Ideologie zu tun. Genauso wenig wie es Sympathie für Heß voraussetzt, daran zu zweifeln, dass sich ein 93-Jähriger, der nicht mehr fähig war, sich die Schuhe selbst zu binden, an einem Stromkabel ohne fremde Hilfe erhängt haben soll. Noch dazu, wenn ein anerkannter deutscher Gerichtsmediziner erklärt, dass es sich mit Sicherheit um kein typisches Erhängen handeln konnte.
Zweifellos ruft es berechtigte Verwunderung hervor, dass es auch heute noch Menschen gibt, die den Verbrechen der Nazis nicht mit Abscheu und strikter Ablehnung gegenüberstehen. Doch lässt sich dieses sonderbare Phänomen mit Sicherheit nicht durch Verbote von rechts-orientierten Parteien abschaffen, sondern durch objektive und der Wahrheit entsprechenden Aufklärung. Es ist an dieser Stelle gewiss nicht vonnöten, all die bekannten und unanzweifelbaren Verbrechen der Nazis aufzuzählen. Doch wie sagt ein altes Sprichwort: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er die Wahrheit spricht!“
Ob Bormann 1959 in Itá verstorben ist oder 1945 in Berlin ändert nichts an den von ihm begangenen Verbrechen, die im Rahmen der Nürnberger Prozesse ausführlich Behandlung fanden. Auch Heß wurde bei diesem Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Ob ihm jemand bei einem Freitod Hilfe leistete oder er vielleicht sogar einem Mord zum Opfer fiel, kann ihn deswegen noch lange nicht von seiner Schuld freisprechen. Und somit sehe ich auch keinen Grund, Historiker in ihrer Forschung einzuschränken. Denn gerade das Verzerren eines Geschichtsbildes bietet den besten Nährboden für gefährliche Spekulationen. Diese Tatsache sollte den Verantwortlichen der Massenmedien endlich bewusst werden.