Vierzehn Jahre nach seiner Erstpublikation in englischer Sprache gibt der Verlag Franz Vahlen im September nun erstmalig eine deutsche Ausgabe eines Klassikers der Management-Literatur heraus. Es handelt sich um Clayton Christensens The Innovators Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren, die Bibel US-amerikanischer Start-up-Unternehmen und derer, die sie finanzieren. In seinem Standardwerk zeigt der Harvard-Professor anhand empirischer Untersuchungen, warum ausgerechnet etablierte, erfolgreiche Unternehmen bei der Einführung sogenannter disruptiver Technologien* scheitern.
Wie kann das passieren, machen diese Unternehmen doch alles richtig? Sie kümmern sich um ihre Kunden, erweitern behutsam ihre Produkte und Märkte, arbeiten äußerst rentabel, bis eines Tages eine kleine unbekannte Firma daherkommt und die Produkte der Marktführer überflüssig machen. Wir alle kennen die Geschichten, wie ALDI den Einzelhandel revolutionierte, das MP3-Format die Vinylplatten in verstaubte Regale verbannte oder auch wie der traditionelle Geschäftsbrief, erst durch das Fax, dann die E-Mail abgelöst wurde und nun darauf wartet, in die Sogwirkung der Social Media zu geraten.
Christensen zeigt in seinen Ausführungen, dass erfolgreiche Firmen gerade daran scheitern, dass sie alles richtig machen. Etablierte Firmen setzen auf evolutionäre Technologien. Sie verbessern das, was sie und ihre Kunden schon kennen, also z.B. neue Produktdesigns oder kleinere Anpassungen. Sie scheitern an dem, was der Harvard-Professor „disruptive Technologie“ nennt. Darunter versteht er eine technologische Innovation, ein Produkt oder eine Dienstleistung, die möglicherweise eine aktuell dominierende Technologie verdrängt.
Disruptive Innovationen sind meist am unteren Ende des Marktes und in neuen Märkten zu finden, das heißt, sie sind in vielen Fällen den gegenwärtigen Produkten an Qualität unterlegen. Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Telefonate mit Skype? Abgesehen vom Internet-Zugang selbst hatte auch die VoIP-Technologie am Anfang zahlreiche Qualitätsmängel. Inzwischen setzen zahlreiche Firmen VoIP-Technologie auch in kritischen Geschäftsbereichen ein. Etablierte Unternehmen entwickeln solche Technologien eher nicht, da ihre Kunden sie aus Qualitätsgründen nicht akzeptieren würden. Christensen führt aus, dass eine absolute Kundenorientierung dem dauerhaften Bestand der Firma nicht immer unbedingt zuträglich sein muss, auch wenn kurzfristig die Auftragsbücher gut gefüllt erscheinen. Selbstredend gibt es in diesen großen erfolgreichen Unternehmen auch sehr gute Mitarbeiter, die disruptiv denken und entwickeln möchten. Allerdings, so Christensen, finden diese nur wenige Möglichkeiten, ihre Ideen im eigenen Unternehmen weiterzuverfolgen, sondern gründen ihre eigene Firma, um ihre neuartigen Produktideen zu verwirklichen. Als eines der erfolgreichsten deutschen Beispiele dürfte in diesem Zusammenhang die Walldorfer SAP AG zu nennen sein, die 1971 von fünf ehemaligen IBM-Mitarbeitern gegründet wurde. Die SAP AG hätte sich als Fallstudie für die deutsche Ausgabe sehr gut geeignet, da sich der inzwischen selbst etablierte Softwarekonzern immer wieder am Markt gegen junge, disruptive Unternehmen behaupten muss.
Christensen rät den Marktführern, ihre Innovationsfähigkeit dadurch zu erhalten, dass sie gezielt Ausgründungen in ihrer Geschäftsstrategie vorsehen. Generell ist das Buch aber eher zurückhaltend, wenn es darum geht, wie ein Unternehmen die Herausforderungen disruptiver Technologien meistern soll. Diesen Schwachpunkt hat Christensen in späteren Studien beseitigt; das Buch ist jedoch sehr gut für die Diagnose der Innovationsfähigkeit des eigenen Unternehmens geeignet und äußerst empfehlenswert. Es ist ein besonderes Verdienst des Übersetzerteams Stephan Friedrich von den Eichen und Kurt Matzler, die Aktualität und Anschaulichkeit des Werks anhand von Branchen- und Unternehmensbeispielen aus dem deutschsprachigen Raum zu verstärken (Leica, MP3-Format oder auch die deutsche Stahlindustrie).
So bleibt denn auch als einziger negativer Eindruck des Buches zu vermerken, dass die deutsche Sprache im Vergleich zum englischen Original doch eher behäbig daherkommt – was weniger ein Versäumnis der Übersetzer ist als ein Zeichen dafür, dass das Thema Innovation sprachlich wesentlich vom Englischen geprägt ist und dem Deutschen manchmal schlicht die Wörter fehlen. Die Diskrepanz in Sachen Innovationskultur ist nicht nur sprachlicher Natur. Auch wenn die USA sich in einer Wirtschaftskrise befinden, ist ihre Innovationsfähigkeit, gemessen an den Zahlen des OECD-Innovationsindex weitaus stärker ausgeprägt als in Deutschland. Innovation hat eben auch viel mit Umdenken, Umlernen, und neu Anfangen nach Fehlern zu tun – was Amerikanern offensichtlich im Vergleich immer noch viel leichter fällt.
Das Thema Innovation ist eine der wichtigsten Kompetenzen eines Unternehmens, das auch in der Zukunft erfolgreich sein möchte. Von daher kommt dieses Buch zur richtigen Zeit. Von welchen disruptiven Entwicklungen der Buchmarkt geprägt sein wird, können Sie übrigens bei einem Kauf des Buches mitentscheiden: Der Titel wird auch als eBook erscheinen.
Das Buch erscheint im September 2011 im Vahlen-Verlag, hat 300 Seiten und kostet 24,80 €. Vorbestellbar ist es bereits jetzt.