Vor etwa 80 Jahren schickte sich ein Zirkel von Ökonomen an, die Freiheit der Wirtschaft von staatlichem Einfluss zu erzwingen. Sie verstanden ihr Bemühen als Kreuzzug und handelten im Namen einer höheren Macht, nämlich der „unsichtbaren Hand“ des Marktes. Zur wichtigsten Bastion dieser Marktradikalen entwickelte sich die „Chicagoer Schule des Monetarismus“, wo sich um den Nobelpreisträger Milton Friedman eine Jüngerschar zusammenfand, um jeglicher Form von staatlichem Interventionismus den Kampf anzusagen. Sie waren die Speerspitzen des Neoliberalismus, jener ökonomischen Ideologie, die inzwischen fast den ganzen Erdball erobert hat.
Zwar gibt sich der Neoliberalismus modern und liberal, doch handelt es sich genau betrachtet um alten Wein in neuen Schläuchen. Die österreichische Politikwissenschaftlerin Dr. Eva Kreisky attestiert ihm eine durchweg maskuline Ethik, wie sie seit jeher in männerbündischen Kreisen kultiviert werde. (1) Dafür begibt sie sich in die ideologischen Niederungen dieses Milieus, dessen standhaftes Credo noch heute die absolute Marktgläubigkeit bildet. Inspiriert von Walter Lippmanns Buch „The good society“ (1937) verabredete sich im Jahr 1938 erstmals eine Gruppe von Ökonomen in Paris – unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise – zu einem „internationalen Kreuzzug“. 1947 wurde mit der Gründung der „Mont Pèlerin Society“ der „Kreuzzug gegen den marxistischen und keynesianischen Totalitarismus“ auf Dauer gestellt. (2) Das Vokabular lässt bereits erahnen, dass diese wirtschaftsliberale Vorhut ihre Vorbilder in Militär und Kirche fand, wenngleich sie ein ganz unchristliches Evangelium predigte.
Das erste neoliberale Versuchsfeld bot Pinochets Militärdiktatur. Eine als „Chicago Boys“ bekannte Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler studierte bei Friedman, um später den Neoliberalismus unter Realbedingungen zu testen. Sprach Friedman 1982 noch von einem chilenischen „ökonomischen Wunder“, brach im gleichen Jahr eine Rezession aus, die Arbeitslosigkeit stieg auf 30%. Hauptursache waren riskante Kreditvergaben durch die deregulierten Banken. Ungeachtet dessen begann der Siegeszug dieser Ideologie, fortan organisiert in internationalen „Think-Tanks“. In den USA galt es vorrangig die Wirtschaft zu „befreien“ von der Einflussnahme durch Gewerkschaften und staatliche Eingriffe seit Präsident Roosevelts „New Deal“.
Die neoliberale Ideologie positionierte sich als Reaktion auf die reformerischen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, deren Spektrum von geschlechtlicher Gleichstellung über ökologisches Bewusstsein bis hin zu basisdemokratischen Erneuerungen reichte. Kreisky spricht gar von einer „Konter-Revolution“, „in männerbündischen Gelehrten-, Banker- und Publizistenzirkeln für die Zukunft eines unumschränkten Marktregimes“ ersonnen. Was genau kennzeichnet solche Zirkel? Dazu Kreisky: „Männerbünde im klassischen Sinne sind zu erkennen an ihrer (formellen wie informellen) Schließung gegenüber Frauen, wie ihrer Abspaltung weiblicher Existenzweisen überhaupt, sie sind aber auch über eine gemeinsame Ideologie, die Konfiguration ihrer Feindbilder, ihre Tendenz zu Geheimbündelei, ihre absonderlichen Geselligkeitsformen sowie ihre spezielle Form der Kameraderie zu identifizieren.“ Ob in der „Mont Pèlerin Society“ oder im 1974 in Großbritannien eingerichteten „Centre for Policy Studies“, stets habe „klassische männliche Seilschaftskultur“ vorgeherrscht.
Schlimmer noch erachtet Kreisky allerdings die durchgehend kriegerische Attitüde des Neoliberalismus, die sich heute hinter den allgegenwärtigen Euphemismen verbirgt: „leistungsgerecht“, „Flexibilität“, „Aktivität“, „Leistungsstärke“, „Leistungsgerechtigkeit“. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu spricht von einem „Kult des winner“, der den „Kampf eines jeden gegen jeden […] und den normativen Zynismus all seiner Praktiken“ ins Recht setze. (3) Die Brutalität dieser Ideologie wurzelt in deren fundamentalistischen Grundannahmen. Nicht nur gelten unregulierte Märkte als durch wundersame Kräfte stets zur Förderung des allgemeinen Wohlstands gesteuert und jegliche Störung dieser heiligen Ordnung als unerwünscht. Gefährlich wird sie vor allem, indem sie einerseits den Sozialstaat abbaut, andererseits zum Ausbau der repressiven Instrumente des Staates führt, um die sozialen Folgen zu bekämpfen. Im entstehenden „Sicherheitsregime“ sieht Kreisky „Ausdruck und Folge neuer Spaltungen der Gesellschaft wie neuer Formen sozialer Kämpfe“.
Die Entschleierung des Neoliberalismus erfuhr mit der globalen Finanzkrise zwar deutlichen Aufwind, doch fühlt sich der 93-jährige Mitunterzeichner der Charta der Menschenrechte Stéphane Hessel noch hochbetagt dazu verpflichtet, zur Empörung gegen die „Diktatur des Finanzkapitalismus“ aufzurufen. Er fordert einen „wirklichen, friedlichen Aufstand gegen die Massenkommunikationsmittel, die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum, die Verachtung der Schwächsten und der Kultur, den allgemeinen Gedächtnisschwund und die maßlose Konkurrenz aller gegen alle“. (4)
(1) Eva Kreisky: Ver- und Neuformungen des politischen und kulturellen Systems. Zur maskulinen Ethik des Neoliberalismus, erschienen in: Kurswechsel, Zeitschrift für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen, Heft 4/2001, S. 38-50. URL:
(2) Manuel Vázquez Montalbán: Marcos. Herr der Spiegel, Berlin 2000, S. 78
(3) Pierre Bourdieu: Der Neoliberalismus. Eine Utopie grenzenloser Ausbeutung wird Realität, in: ders.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1998, S. 116
(4) Stéphane Hessel: Empört euch!, Berlin 2011, S. 21