Gaddafi schießt auf sein eigenes Volk. Zum Schutz der Zivilbevölkerung muss die internationale Gemeinschaft eingreifen. Diese und ähnlich Sätze vernahmen wir vor und nach der Verabschiedung der UN-Resolution, die das Verhängen eines Flugverbotes „autorisierte“. Dann kam der Angriff – und wieder einmal sei es kein Krieg. Und natürlich kommen Menschen ums Leben, wenn Fighter-Jets Bomben abwerfen und Tomahawk-Raketen einschlagen. Also, die Franzosen und die Amerikaner und die Engländer töten Zivilisten, um zu verhindern, dass bei den Kampfhandlungen zwischen Gaddafi-Truppen und Rebellen Zivilisten ums Leben kommen.
Wie schon an anderer Stelle erwähnt, ist der Konflikt in Libyen in keiner Weise mit den Revolten in Tunesien und Ägypten zu vergleichen. Bewaffnete Rebellen haben einige Städte eingenommen, sind gegen Tripolis gezogen und wurden schließlich wieder zurück gedrängt. Es sind nicht Menschen durch die Straßen gezogen, um ihrem Wunsch nach politischer Veränderung Ausdruck zu verleihen. Ein Eingreifen durch das Ausland wäre verständlich gewesen, hätten Soldaten auf friedliche Demonstranten geschossen, wie es z. Z. in Jemen der Fall ist. In Libyen handelte es sich um einen bewaffneten Aufstand, möglicherweise um den Beginn eines Bürgerkriegs.
Der amerikanische Senator Ron Paul hatte schon am 14. März, also vor der Verabschiedung der Resolution des Weltsicherheitsrates, deutlich gemacht, dass der innerlibysche Konflikt die USA (und somit auch alle anderen Länder) nichts anginge. Ein Flugverbot gewaltsam durchzusetzen entspricht einer Kriegserklärung. Dafür braucht der US-Präsident aber die Zustimmung des Kongresses. Somit hat, laut Ron Paul, Barack Obama der Verfassung zuwider gehandelt.
Vor dem Eingreifen ausländischer Kräfte kamen Menschen ums Leben. Die Zahlen der Opfer wurden grob geschätzt. Hinweise auf zivile Opfer gab es selten, wenn überhaupt. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sind bei den innerlibyschen Konflikten auch Unbeteiligte ums Leben gekommen. Doch mit welchem moralischen Recht stellen sich ausländische Armeen auf die Seite der Aufständischen, werfen Massen von Bomben ab, töten Menschen und das alles, um die libysche Bevölkerung vor den Aggressionen Gaddafis zu schützen?
Ich weiß, dass viele der Leser meine Meinung nicht teilen. Denn Gaddafi wurde von der Öffentlichkeit schuldig gesprochen, noch bevor bekannt war, was in diesem Land überhaupt passiert. Vermutlich glauben die meisten immer noch, dass das Volk nach Demokratie verlangt. Doch das ist überhaupt nicht der Fall. Die Rebellen schwenken die Flagge der libyschen Monarchie, die vor 41 Jahren einem Putsch zum Opfer fiel. Die Aufständischen wollen wieder einen König – und zwar aus ihrem eigenen Stamm.
Werfen wir einen kurzen Blick auf die jüngere Vergangenheit. Auch wenn Saddam Hussein über keine Massenvernichtungswaffen verfügte, so gilt er doch unumstritten als Bösewicht. Auch ihm wurde vorgeworfen, auf sein eigenes Volk zu schießen. Mit einer durch Lügen erschlichenen Ermächtigung des Weltsicherheitsrates griffen die Vereinigten Staaten im Jahr 2003 an. Und nicht nur Saddam Hussein ist tot, sondern auch eine nur grob schätzbare Zahl von irakischen Zivilisten. Auch wenn noch so selten über Opferzahlen geschrieben wird, die niedrigsten Schätzungen liegen knapp über 100.000. Basierend auf Befragungen der Haushalte, wie viele Familienmitglieder dem Krieg zum Opfer fielen, errechnete eine unabhängige Agentur mehr als eine Million toter Zivilisten. Dazu kommt, dass vor einigen Monaten von mehreren Zeitungen berichtet wurde, dass im Irak eine Million Frauen verwitwet sind. Und da gibt es wirklich noch Menschen, die glauben, dass der Angriff aus humanitären Gründen erfolgte. Das Volk musste vor Saddam gerettet werden.
Und wie viele Menschen starben in Afghanistan beim Versuch, sie vor der Taliban-Regierung zu schützen? Der offizielle Anlass, Osama Bin Laden zu ergreifen, hat ja vollends fehlgeschlagen.
Was in den Medien natürlich ebenfalls keinerlei Beachtung findet, ist die – aller Wahrscheinlichkeit nach – eingesetzte DU-Munition zum Zerstören von Panzern und Bunkeranlagen. Depleated Uranium. Abgereichertes Uran. Ähnlich wie in Faludscha, wo die Bewohner unter mehr Strahlenbelastung leiden als die Japaner nach den Bombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki.
Wie viele Zivilisten bei der Bombardierung Libyens durch amerikanische, britische und französische Militäreinheiten – überheblich als „internationale Gemeinschaft“ bezeichnet, ums Leben gekommen sind, ist unklar. Von libyscher Seite soll die Zahl 64 erwähnt worden sein. Manche Schätzungen liegen höher. Die Angreifer sind sich, wie wäre es anders zu erwarten, keiner zivilen Opfer bewusst.
Dass die Russen plötzlich gegen die massiven Attacken protestieren, klingt eher nach einem Scherz. Was haben die Herren in Moskau denn erwartet? Ihr Veto-Recht haben sie nicht in Anspruch genommen. Und nachträglich zu sagen, dass man zu weit gegangen sei? Aus wessen Feder stammt diese Komödie?
Wir wissen nicht, wie sich dieser Konflikt weiter entwickeln wird. Wir wissen nicht, welche Ziele sich jene Kreise gesteckt haben, von denen derartige Aktionen eingefädelt werden. Aber, wenn uns auch unsere sogenannten Qualitätsmedien immer wieder vorzugaukeln versuchen, Kriege unserer Tage würden „humanitären Zwecken“ dienen, wo steckt die Logik im Abschießen von Menschen, um sie vor ihrer eigenen Regierung zu retten?