Nun hat die Armee freie Hand. Der Deutsche Bundestag hat heute mit Mehrheit zugestimmt, dass deutsche Soldaten an der beabsichtigen Offensive der Allianz in Afghanistan beteiligt sein können. Das ist neu. Deshalb muss man sich den 28. Januar 2011 merken. Seit etlichen Wochen haben diejenigen, die dieses Mandat erreichen wollten, an diesem Ziel gearbeitet. Es war eine sehr genau kalkulierte Kampagne über drei Monate. Noch gestern, unmittelbar vor der Entscheidung im Parlament, wurde Bildmaterial der Bundeswehr in nie gekanntem Umfang veröffentlicht.
Bildmaterial, dass den „Einsatz“, der in der Sache ein Krieg ist, begründen soll. Die Kampagne hatte schon vor Weihnachten begonnen. Mit jenem Besuch des Kriegsministers in Begleitung seiner Ehefrau. Ein Journalist war auch dabei. Nun also hat sich die militärische Logik des Krieges durchgesetzt. Das Parlament folgt dem Militär. Von einer „Parlamentsarmee“ kann keine Rede sein. Es ist ein Militär-Parlament.
Obwohl kein klares Datum für den Beginn des Abzugs der Truppen im Text des Mandates definiert ist, hat ein Teil der Sozialdemokratie dem Mandat zugestimmt. Ich bedaure das. Denn der SPD-Vorstand hatte noch Anfang des Jahres in Potsdam ein genaues Datum zu Bedingung für eine Zustimmung gemacht. Die Formulierung „…soweit die Sicherheitslage es zulässt“, die auf Intervention der Kanzlerin in den Text des Mandates geschrieben wurde, gibt jedoch dem Militärbündnis freie Hand. Denn die militärische Führung des Allianz kann nun entscheiden, ab wann ein Abzug „möglich“ wird.
Seit Wochen ist öffentlich, dass die Allianz unter Führung von General Petraeus eine Offensive plant. Man beabsichtigt, in einer groß angelegten militärischen „Aktion“ die „letzten Taliban“ zu „zerschlagen“. Dann wolle man abziehen. Der amerikanische Präsident hat vorgestern klar gemacht: die Amerikaner beginnen mit dem Abzug im Juli 2011. Von einem solchen konkreten Datum liest man im Mandatstext des Deutschen Bundestages nichts. Dennoch hat die Mehrheit des deutschen Parlaments diesem windelweichen Text zugestimmt.
Bedrückend fand ich, dass die Abstimmung über dieses Mandat von einem kleinlichen Hickhack der Fraktionen gegeneinander überlagert war. Man warf sich gegenseitig frühere Entscheidungen vor. Man taktierte. Zum vermeintlichen Vorteil der eigenen Fraktion. Das ist „normal“ im Parlament. Aber, da gibt es noch die andere Seite: Ich habe mir für einen Moment eine afghanische Bauernfamilie vorgestellt, wie ich sie gesehen habe, als ich dort zu Gast war. Bei afghanischen Bauern. Diese Familie weiß nichts von der Entscheidung im deutschen Parlament. Noch nicht.
Wenn der Vater – sofern er noch lebt – am Morgen gegen drei oder vier Uhr die große Hacke auf die Schulter nimmt, um zwei oder gar drei Stunden zum kleinen, oft verminten Feld zu gehen, um es – unter Lebensgefahr – zu bestellen, damit seine Kinder etwas zu essen haben, werden sich in den Führungszentralen der Militärs die Offiziere zusammensetzen, um „die Lage“ zu besprechen und letzte Einsatzpläne für die Offensive abzustimmen. Dann wird jener Vater vielleicht erleben, dass plötzlich Hubschrauber über ihn hinwegfliegen. Vielleicht erlebt er, das aus dem Feldlager der Armee am Rande des Dorfes plötzlich Panzer ausrücken. Es ist anders als sonst. Nicht die übliche Patrouille. Er wird hören, wie geschossen wird. Er wird Panzer hören.
Später, wenn er, vielleicht, gesund wieder nach Hause kommt, spät abends wird es sein, denn er hat ja noch den langen Heimweg nach der Feldarbeit, wird ihn seine Frau vielleicht im Hof des kleinen Hauses empfangen. Sie wird ihm berichten, vielleicht, dass seine Angehörigen aus dem Nachbardorf ums Leben gekommen seien. Die Jungen aus dem Dorf seien gelaufen gekommen und hätten es erzählt. Es habe plötzlich viele Panzer im Ort gegeben. Und dann habe man Schüsse gehört. Viele Schüsse. Und dann habe ein Panzer die Kanone auf das Haus gerichtet und das einfache, aus Lehm gebaute Haus einfach platt gemacht.
Später wird der Mann vielleicht hören, die Armee habe in jenem Nachbardorf „Taliban“ gejagt. Er weiß aber, dass seine Verwandten im Nachbardorf keine Taliban sind. Er weiß auch, dass sich die Taliban, die in jenem Dorf versucht hatten, Unterschlupf zu finden, schon seit einigen Wochen nicht mehr im Dorf sind. Sie hatten sich in die Berge zurückgezogen. Denn sie hatten von der geplanten Offensive der Allianz erfahren. Es kam ja über’s Radio.
Nun höre ich wieder einem Abgeordneten im deutschen Parlament zu. Ich höre ihn sagen, der „Einsatz der Armee“ sei „erfolgreich“ gewesen. Und ich sehe jenen Bauern vor mir, dessen Verwandte grade im Angriff der Allianz gestorben sind. Ich kann den Wahnsinn sehen. Mit roten, glasigen Augen starrt er über das zerstörte Haus hinweg in die staubigen Weiten des Landes, das nun schon seit über dreißig Jahren Krieg hat.
Es gab eine kurze Hoffnung, damals, in den Jahren 2002 und 2003. Nach dem Abzug der Russen. Die Familie hatte die Hoffnung, dass der ewige Krieg nun endlich vorbei sein könnte. Zwei gute Ernten hatte es gegeben. Die Menschen fingen wieder an aufzuräumen. Sie wollten nur noch Frieden. Ihre dreißigjährigen Söhne waren im Krieg aufgewachsen. Sie kannten nur den Krieg. Das sollte endlich aufhören.
Man hatte damals die Schafsherde über den Acker geführt, um die Minen zu finden. Ein hoher Verlust für die Familie. Aber sie hatte keine andere Wahl. Minenräumer gab es nicht ausreichend. Die Menschen mussten sich ernähren. Was sollte man tun? Man schickte die Viehherden über den Acker, damit die versteckten Minen explodierten. Dann erst betrat der Bauer wieder sein Feld.
Oft genug ist es geschehen, dass ein solcher Mann dennoch auf eine Mine trat, die noch nicht explodiert war. Denn: Afghanistan gehört zu den am meisten verminten Ländern der Welt. Es hat seit über dreißig Jahren Krieg. Ich hab es selbst gesehen, wie die Menschen dort, häufig nur mit einer Kehrschaufel und einem Handbesen als Werkzeug, versuchen, diese Minen im Acker freizulegen. Sie haben, wenn sie ihn haben, nur einen einfachen Schutzhelm auf dem Kopf, mit einem Plastikvisier. Ich habe Fotos von solchen „Räumkommandos“. Und ich habe in dieser Familie der afghanischen Freunde in der Nähe von Kundus, bei denen ich zu Gast sein durfte, auch erfahren, dass die Bauern ihre Tiere auf’s Feld schicken. Zuerst. Damit sie es danach bestellen können.
„Wir verstehen Euch nicht.“ höre ich den Bauern sagen. „Ihr baut die Wasserleitung im Ort neu. Das ist gut und hilft uns sehr. Aber dann kommen eure Panzer und zerschießen das Haus meiner Verwandten. Weil die Soldaten glauben, meine Verwandten seien gefährliche Taliban. Man redet nicht mit uns. Man fragt uns nicht. Wir hätten euch sagen können, dass unsere Verwandten nicht zu den Taliban gehören. Die Taliban sind längst in den Bergen. Wir hätten euch das sagen können. Wir verstehen Euch nicht. Wir wollen, dass ihr nach Hause geht. Denn ihr versteht nicht, was wir wirklich brauchen.“
Ich stelle mir für einen Moment den deutschen Soldaten vor, der in jenem Panzer den Befehl gab, das Haus zu zerstören. Ich stelle ihn mir in dem Moment vor, in dem er erfährt, dass er sich geirrt hat. Da waren keine Taliban. Da war eine afghanische Bauernfamilie.
Ich kann mir vorstellen, dass dieser junge Soldat in schwere Nöte kommt. Man einer seiner Kameraden ist an solchen Vorfällen innerlich zerbrochen. Er kam als traumatisierter Mann nach Deutschland zurück. Es sind viele hundert solche Männer mittlerweile. Und wieder höre ich den Abgeordneten davon sprechen, der Einsatz sei „ein Erfolg“ gewesen. Dieser unwissende Abgeordnete wird wohl erst aufhören von einem „Erfolg“ zu reden, wenn einer seiner eigenen Verwandten aus dem Krieg zurückkommt und offen erzählt, was tatsächlich vor sich geht.
Politisch ist der Beschluss vom 28. Januar 2011 eine Zäsur. Denn: besondere Einheiten der Bundeswehr werden sich nun an der neuen geplanten Offensive der Allianz beteiligen. Das ist keine Verteidigung mehr, wie immer behauptet wird. Das ist ein Angriff. Das ein Angriff die beste Verteidigung sei, behaupten Militärs schon seit Jahrhunderten. Wenn das Parlament nun solchem Angriff das Mandat erteilt, sieht man, was sich am Selbstverständnis des Parlaments geändert hat: Es ist ein Armee-Parlament geworden.
Wir werden in den kommenden Wochen von Opfern erfahren. Von toten Soldaten und vielen toten Zivilisten. Man wird behaupten, die Zivilisten seien ja „Taliban“ gewesen. So, als sei es erlaubt, Taliban zu töten. Wir haben dieses Argumentationsmuster bei jenem verhängnisvollen Angriff im September 2009 erlebt, bei dem ein deutscher Offizier, sogar gegen den Rat der Amerikaner, den Angriff auf einen Tanklaster befahl, bei dem über 140 Menschen ums Leben kamen. „Überwiegend Zivilisten“.
Ich hatte damals noch einer Mandatsverlängerung zugestimmt. Aber ich wusste nicht, was dieses Mandat tatsächlich im militärischen Alltag ermöglichen würde. Wir haben mit unserem Mandat ermöglicht, dass dieser Angriff auf den entführten Tanklastzug überhaupt möglich wurde. Deshalb trage ich mit meinen Kollegen die Verantwortung für diese 140 Menschen. Seither bin ich strikt gegen die weitere Verlängerung der militärischen Mandate. Helft im Lande mit allen Kräften, dass die Wasserleitungen gebaut werden, dass die Kinder zur Schule können. Helft, die Energieversorgung zu stabilisieren, baut und repariert die Straßen. Gebt den Leuten Balken und Ziegel und Lehm, damit sie ihre Häuser reparieren können. Helft ihnen, die ungeheure Zahl von Minen wieder aus dem Land zu räumen. Alles dies tut. Aber hört auf, mit Panzerhaubitzen den Frieden herbeischiessen zu wollen.
Jeder weiß, sogar die Militärs sagen es, dass man diesen Krieg nicht mit militärischen Mitteln „gewinnen“ kann. Weshalb die „Doppelstrategie“ beschworen wird: militärischer „Einsatz“ und „ziviler Aufbau“. Aber: mein Freund versteht das nicht. Er kann nicht verstehen, weshalb seine Familie im Nachbardorf nun nicht mehr am Leben ist. Er will es auch nicht verstehen. Er fühlt nur eine ohnmächtige Trauer in sich wachsen. Und einen großen Zorn. Er wird sich vielleicht in seiner Wut und Trauer heimlich bei dem Gedanken ertappen: na, dann doch lieber die Taliban.
Es ist ja nicht zufällig, dass die Stimmung in der afghanischen Bevölkerung gekippt ist. Anfangs wurde die Allianz gefeiert für ihren Kampf gegen das verhasste System der Taliban. Aber das hat sich geändert.
Der 28. Januar 2011 ist auch insofern eine Zäsur, weil er eine Wegmarke kennzeichnet, die den Prozess des Umbaus der deutschen Armee beschreibt. Aus einer Armee, die zur Verteidigung gebildet worden war in Zeiten des Kalten Krieges, wird eine Truppe, die in Auslands“einsätzen“ auch in Offensiven einsetzbar wird. Mit „Verteidigung“ hat das nichts mehr zu tun. Mit der Verteidigung von Interessen wohl.
Das heutige erneute Mandat wird nicht mehr Sicherheit bringen. Die geplante Offensive wird nicht mehr Sicherheit bringen. Dennoch hat das Parlament zugestimmt, den Krieg fortzusetzen.
Es wird viele Opfer geben. Denen gilt mein Nachruf. Ich will meinem Freund Tadsh heute sagen: „Lieber Tadsh. Wenn Angehörige deiner Familie und deines Volkes nun in dieser Offensive ums Leben kommen oder schwer verletzt werden; wenn Kinder ihre Väter und Mütter ihre Töchter verlieren; wenn Kinder ohne Eltern aufwachsen müssen: Vergib uns nicht. Denn wir wussten, was wir tun….“