Freitag , 19 April 2024
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Eine Meinung, die dem Zeitgeist widerspricht

thilo_sarrazinWas denken wir über Thilo Sarrazin? Nach all den Schlagzeilen, Vorwürfen, Zerpflückungen scheinbar widerlegbarer Statistiken, ist unsere eigene Meinung über ihn – zumindest in den meisten Fällen – bereits fest geformt. Wie konnte er nur? In seiner Position. Das muss Konsequenzen nach sich ziehen! Und diese sind auch schon eingeleitet. Seine Abberufung wurde beantragt. Kann die Reaktion der Medien für Sarrazin eine Überraschung sein? Wohl kaum. Die Linie der vorangetriebenen gesellschaftlichen Evolution ist klar gezeichnet, und wehe dem, der sich dagegen stellt.

Wer seine Meinung in Form eines Buches ausdrückt, diese auf Hunderten von Seiten in allen Details ausführt, nimmt einerseits die Möglichkeit in Anspruch, seinen Standpunkt weitgehend zu untermauern, bietet seinen Gegnern aber gleichzeitig ein weites Spektrum von Angriffsflächen. Eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Je deutlicher eine These dem Zeitgeist widerspricht desto mehr Augenmerk wird den schwächsten der Ausführungen geschenkt. Findet sich unter einer Unzahl von angeführten Argumenten eine Schwachstelle, vielleicht gar noch eine zweite oder dritte, so lässt sich rasch das gesamte Konzept als unhaltbar beiseite schieben.

Das Medientribunal hat Gericht gehalten und das Urteil scheint gefällt. Derartige Ansichten, Einwanderung als Problem zu erachten, die Zukunft des deutschen Volkes gefährdet zu sehen, sich gegen jene armen Verfolgten zu stellen, deren einzige Hoffnung die Flucht ins Ausland scheint und die dies durch Fleiß und Bereicherung der Kultur danken, werden mehrheitlich abgelehnt.

Und wer sind jene Menschen, die das Buch „Deutschland schafft sich ab“ zu Massen erwerben? Bei Amazon thront das Werk an erster Stelle in der Liste der Verkaufserfolge. Von, zu diesem Zeitpunkt abgegebenen, 188 Kundenrezensionen sind es nicht weniger als 144, die es mit fünf Sternen auszeichnen. Das Lesen der Kommentare, die negativen selbstverständlich eingeschlossen, zeigt sehr deutlich, dass Thilo Sarrazin sehr wohl ein Thema aufgegriffen hat, das sehr viele Menschen beschäftigt. Und ein großer Teil von ihnen scheint, dem Zeitgeist widersprechend, Sarrazins Sorgen zu teilen.

Auch wenn er sich nicht kampflos geschlagen geben wird, so dürfte seine Position in der Deutschen Bundesbank zu einem Ende gekommen zu sein. Thilo Sarrazin wurde im Februar 65 Jahre alt. Seit 1975 war er im öffentlichen Dienst tätig. Er könnte sich den Ruhestand gewiss auch ohne die Einnahmen durch sein Buch leisten. Wir können davon ausgehen, dass er mit dieser Entwicklung gerechnet hat. Was wollte er also mit der Veröffentlichung dieses umstrittenen Buches bezwecken? Mit Sicherheit war es nicht der verzweifelte Versuch, durch das Verfassen eines Bestsellers seinen Lebensabend finanziell zu sichern. Auch ein Hang zur Popularität kann ihm nicht vorgeworfen werden, denn die ist letztendlich eher abgesunken. Was konnte diesen Mann, lebenserfahren und bislang erfolgreich, dazu bewegt haben, die Situation der Zuwanderung als Problem darzustellen?

Der hochaktuelle Begriff der „politischen Korrektheit“ muss in diesem Zusammenhang in Betracht gezogen werden. Einiges von dem, was wir denken, wagen wir nicht auszusprechen. Wir könnten Menschen damit verletzen, wir könnten in den Verdacht geraten, die neuesten Veränderungen abzulehnen, wir könnten als vergangenheitsbehaftet abgeurteilt werden, wir könnten ins rechte Lager gedrängt werden, kurz gesagt, wir schweigen über manche unserer Ansichten. Und, nachdem dies die meisten von uns ähnlich handhaben, glauben diejenigen, deren persönliche Meinung als „politisch unkorrekt“ gelten würde, einer Minderheit anzugehören. Zu erwarten, dass jemand, der über eine in der Öffentlichkeit gehörte Stimme verfügt, gegen den Zeitgeist spricht oder schreibt, ist ebenfalls weitestgehend auszuschließen. Wer, vom Journalisten bis zum Politiker, wagt es, seine berufliche Zukunft aufs Spiel zu setzen? Wer kann es sich wirklich leisten?

Wir wissen nicht, wie andere Menschen denken. Wir wissen nur, was sie von sich geben.

Gelegentlich, wenn auch nicht oft, findet sich aber trotzdem ein Mann in guter Position, entsprechendes Ansehen genießend, der sich traut, seine provokanten Ideen zu äußern. Ohne jetzt Thilo Sarrazin direkt als Beispiel zu nehmen, was passiert, wenn ein Mensch, der eine ansehnliche Position bekleidet, den Ruf einer integren Persönlichkeit genießt, plötzlich eine Äußerung von sich gibt, die den modernen Entwicklungen zweifelnd gegenüber stehen? Regt dies zum Überdenken der Situation an? Wird die Frage aufgerollt, ob die Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens der Neuzeit eigentlich wirklich willkommen sind? Reagieren wir in einer Art, wie etwa: „Wenn dieser Mann so denkt, dann wird schon was dran sein!“?

Nein, im Gegenteil. Ungeachtet der Jahre verdienten Respekts, den der Verfechter dieser revolutionären – oder besser: traditionsgemäßen – Thesen genossen haben könnte, unsere Reaktion würde eher lauten: „Das ist doch unglaublich. Das hätte ich von diesem Mann nie erwartet.“

Jedem Einzelnen steht das Recht offen, sich seine Meinung zu bilden, selbstverständlich auch über Thilo Sarrazin und seine Thesen. Was sind die Kriterien, die zur Meinungsbildung führen? Teils sind es gesammelte Erfahrungswerte, ergänzt durch Informationen, die durch andere Menschen in den verschiedensten Formen übermittelt werden. Ein wesentlicher Teil dieser Informationen entfällt nun auf den lauten Ruf der Medien, die Sarrazins Kopf rollen sehen möchten. Nur wenige wagen es, wie Joachim Fahrun von der Berliner Morgenpost, Thilo Sarrazin als Missionar, anstatt als Provokateur, zu bezeichnen. Die Mehrzeit der Journalisten, was immer der Grund dafür sein mag, spricht sich gegen ihn aus. Lassen wir uns von diesen lauten Rufen mitreißen, erlauben wir, dass diese Einfluss auf unsere eigene Meinung ausüben, so könnte es leicht der Fall sein, dass wir uns unkritisch dem Denken anderer anschließen. Ob Sarrazins Sorge um die Zukunft Deutschland berechtigt ist oder nicht, ist eine Frage, die sich in einem kurzen Artikel mit Sicherheit nicht beantworten lässt. Er selbst hat sich die Mühe gemacht, seine Ansichten auf mehr als 450 Seiten nieder zu schreiben. Und dieser Schritt alleine verdient Respekt. 65 Jahre Lebenserfahrung, 35 Jahre im öffentlichen Dienst, das Erzielen einer beachtenswerten Karriere, befähigt einen Menschen dazu, sich eine Meinung zu bilden. Er teilt sie mit uns. Wir haben die Möglichkeit, uns die Zeit zu nehmen, uns mit seiner Arbeit auseinander zu setzen. Wir können auch dem Ruf der Medien folgen und uns unkritisch gegen seine Konzepte stellen. So wie überzeugte Verfechter der Schöpfungstheorie des 19. Jahrhunderts sich kategorisch weigerten, Darwins Bücher auch nur die geringste Aufmerksamkeit entgegen zu bringen.

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