Samstag , 20 April 2024
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Sagen – müssen – dürfen: Wirbel um Grass-Gedicht

Wäre es nicht Günter Grass gewesen, der diese 382 Worte verfasste, wären sie wohl niemandem zu Ohren gekommen. Doch wenn ein Nobelpreisträger sich aufs politische Glatteis begibt, dann löst dies Wellen aus. Und weil nicht gesagt werden darf, von dem Grass glaubt, dass es gesagt werden muss, fällt die Masse der Medien über ihn her. „Ein seltsames Verhältnis zu Fakten“ wird ihm vorgeworfen. Und – wie könnte es anders sein – Erinnerungen an seine SS-Vergangenheit bleiben nicht aus.

Ob sich Grass‘ Text als Gedicht bezeichnen lässt oder ob es sich schlicht um eine Botschaft in Prosaform handelt, tut wenig zur Sache. Die Regeln der Kunst unterliegen Veränderungen, auch Gedichte verzichten seit langem auf Reim und Versmaß, denn Kunst genießt schließlich das Privileg der Freiheit, zumindest solange, bis sie sich an ein Thema wagt, an dem sich schon viele die Finger und mehr verbrannten.

Dem kurzen Text liegt folgende tatsächlich gegebene Situation zugrunde, die mittlerweile eigentlich jedem bekannt sein müsste: Dem Iran wird vorgeworfen, er baue an einer Atombombe. Die diesbezüglich lautesten Vorwürfe werden von Israel erhoben, einem Land, das zweifellos über ein Arsenal an Atomwaffen verfügt. Inspektoren der IAEA wird Zugang zu den iranischen Forschungsanlagen gewährt. Über geheimgehaltene Forschungen wird spekuliert. Israel hingegen hat es unterlassen, jemals den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen, und ist somit frei von jeder internationalen Kontrolle. Und auch frei von jeder Kritik seitens der westlichen Welt. Welche Folgen öffentlich geäußerte Hinweise auf die Verfügbarkeit von Atomwaffen in Israel nach sich ziehen, zeigt sich an den Reaktionen auf Grass‘ Gedicht mehr als deutlich.

Was internationales Recht betrifft, so mag der Laie bloß den Kopf schütteln. Sobald sich ein Land in die internationale Gemeinschaft einbindet und den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet, untersteht es internationaler Kontrolle. Grenzt sich ein Land aus dieser Gemeinschaft aus, dürfen Atomwaffen unkontrolliert hergestellt werden.

Die Strategie, die von der westlichen Welt bezüglich der israelischen Atomfrage verfolgt wird, lautet: „Don’t ask, don’t tell“ (Frage nicht, sage nichts). Der letzte US-Präsident, der sich bemühte, die Herstellung von Atomwaffen in Israel zu unterbinden, war John F. Kennedy. In einem Brief an Ben-Gurion forderte er im Mai 1963 internationale Kontrolle über die Atomanlage von Dimona, was von Israel jedoch verwehrt wurde. Der israelische Nuklearforscher Mordechai Vanunu, der Unterlagen über die tatsächlich in Israel hergestellten Atomwaffen im Jahr 1986 der Sunday Times zur Veröffentlichung übergeben hatte, wurde vom israelischen Geheimdienst aus Rom entführt und zu 18 Jahren Haft verurteilt. Auch heute, nach Abbüßen der vollen Strafe, ist es Vanunu weder gestattet, Israel zu verlassen, noch mit Ausländern Kontakt aufzunehmen. Don’t ask, don‘ tell.

Im März vergangenen Jahres veröffentlichte der Playboy ein Interview mit Helen Thomas, die als Korrespondentin für Hearst ein halbes Jahrhundert lang im Weißen Haus aus und ein ging. Beim Playboy wurde die Seite gelöscht! The Intelligence hat darüber berichtet. Als Helen Thomas Präsident Barack Obama fragte, ob es im Nahen Osten ein Land gebe, das über Atomwaffen verfüge, redete er um den Brei herum und meinte, er wolle nicht spekulieren. Außenministerin Hillary Clinton soll auf die gleiche Frage mit den Worten reagiert haben: „Helen, Sie sind aber süß“, lachte, und damit war das Thema zu Ende. Don’t ask, don’t tell!

Der 84-jährige Nobelpreisträger Günter Grass ist weder Politiker noch Diplomat. Er ist Künstler. Und er hat sich die Freiheit genommen, auf diesen Umstand, auf Israels Atomwaffen – in Gedichtform – zu verweisen.

In Blitzesschnelle erschienen Hunderte Artikel, die sich fast ausnahmslos gegen Grass richten. Wie kann er nur? Was weiß denn der schon? Und in welcher Art und Weise? Ist ja gar kein Gedicht, ist ja bloß Prosa? Und außerdem, der war doch bei der Waffen-SS!

Wann wurde Grass geboren? Am 16. Oktober 1927! Wie alt war er somit, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging? 17 Jahre! Was ließe sich dazu noch erwähnen? Gut, vielleicht häte er schon früher davon erzählen sollen. Doch wer berichtet schon gerne von seinen eigenen Jugendsünden.

So ziemlich die schwersten Vorwürfe finden sich bei der Welt, wo von einem „Grass’schen Machwerk“ gesprochen wird. Man bemüht sich, jeden einzelnen Satz, den Grass schrieb, als falsch zu erklären. Unverblümt wird er sogar des Lügens bezichtigt. Warum? Wieso? Was ist an Grass‘ Äußerungen wirklich so grundfalsch?

Grass schreibt: „Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag“ (von Seiten Israels)

Die Welt schreibt: „Der Begriff des „Erstschlages“ stammt aus der Atomkonfrontation des Kalten Krieges und meint einen atomaren Erstschlag. Und weiter wird erklärt, dass Israel keine Atomdoktrin hätte, ja auch gar nicht haben kann, weil es offiziell über keine Atomwaffen verfügt. Don’t ask, don’t tell.

Jeder der Zeitung liest weiß, dass in Israel ein Erstschlag gegen den Iran in Vorbereitung steht. Lässt sich ausschließen, dass dort vorhandene Atomwaffen eingesetzt werden könnten? Wie sollte es sich ausschließen lassen? Und dass von Deutschland gelieferte und zumindest zum Teil von Deutschland finanzierte U-Boote für den Abschuss von Massenvernichtungswaffen vorbereitet sind, dabei handelt es sich um eine Tatsache. Und dazu schreibt Die Welt: „Auch hier hat Grass den Sinn der U-Boote nicht verstanden. Sie dienen Israel zur Aufrechterhaltung einer Zweitschlagkapazität im Falle eines iranischen Atomschlages gegen Israel.“ Woher weiß Die Welt das so genau? Die Drohungen, die insbesondere in israelischen Zeitungen immer wieder geäußert werden, lassen durchaus Schlimmeres befürchten.

Grass verweist in seinem Gedicht darauf, dass „jenes andere Land“ über ein „wachsend nukleares Potential“ verfügt. Die Welt kontert: „Wie Günter Grass wissen kann, dass das israelische Atomarsenal seit Jahren wächst, bleibt sein Geheimnis.“ Auch wenn es nicht mehr wachsen sollte, der verfügbare Bestand reicht bereits für einen Overkill aus. Und weiter wird erklärt: „Dass die israelischen Waffen ‚keiner Prüfung zugänglich‘ sind, hat einen einfachen Grund: Israel hat, anders als der Iran, den Atomwaffensperrvertrag nicht unterschrieben und ist demnach nicht an seine Regeln gebunden, gegen die Teheran mehrfach und anhaltend verstoßen hat. Don’t ask, don‘ tell.

Grass schreibt vom „allgemeinen Verschweigen dieses Tatbestandes“, empfindet es als „belastende Lüge“, dass er sich selbst „Schweigen untergeordnet hat“ – und nennt den allgemein gefürchteten Grund, der vor jeder Kritik an der Politik des Staates Israel zurückscheuen lässt, beim Namen: „Das Verdikt ‚Antisemitismus’“

Und gleich danach schreibt Die Welt, sogar in fetten Lettern: „Schlicht gelogen“. Mit den Worten, „es gehört inzwischen zum guten Ton einer gewissen deutschen Auseinandersetzung über das iranische Atomprogramm, auf den israelischen Besitz der Bombe zu verweisen …“ Grass lüge also, weil das israelische Atomprogramm ja doch zu Sprache käme, aber eben nur in einer „gewissen deutschen Auseinandersetzung“.

Grass verweist darauf, dass es weder die westliche Presse noch die westliche Politik wagt, den israelischen Besitz von Atomwaffen zur Sprache zu bringen. Er erinnert dabei an die Furcht, des „Antisemitismus’“ beschuldigt zu werden. Und Die Welt schlägt zurück, bezeichnet ihn deswegen als Lügner, weil unverbesserlich Rechtsdenkende sehr wohl offen darüber sprechen. Schießt sich Die Welt damit nicht ein Eigentor?

Dass die „israelischen Waffen“ – und gemeint sind Atomwaffen – keineswegs „außer Kontrolle“ seien, erklärt Die Welt damit, dass es sich bei Israel um eine „standfeste Demokratie“ handle, „die über sehr ausgefeilte technische wie politische Kontrollmechanismen in Sachen Nuklearwaffen verfügt“. Soll es sich bei diesen Mechanismen tatsächlich um einen Schutz handeln? Wenn auch ohne Atomwaffen, doch welche Länder waren es, die unter erlogenen Behauptungen über den Irak herfielen? Allen voran waren es die USA und Großbritannien. Sind das nicht auch „standfeste Demokratien“? Und gab es nicht damals, im demokratischen Sinne, Massendemonstrationen gegen diesen Krieg, und trotzdem wurde er begonnen?

Am Ende des Gedichtes schreibt Grass:

Warum sage ich jetzt erst,

gealtert und mit letzter Tinte:

Die Atommacht Israel gefährdet

den ohnehin brüchigen Weltfrieden?

Weil gesagt werden muß,

was schon morgen zu spät sein könnte;

und weil wir – als Deutsche belastet genug –

Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,

das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld

durch keine der üblichen Ausreden

zu tilgen wäre.“

Dass Grass es erst in seinem hohen Alter, „am Rande des Grabes“, wagt, diese Worte von sich zugeben, bezeichnet Die Welt als „auf klebrige Art pathetisch“. Doch dieser letzte Abschnitt, in Zusammenhang mit den massiven Reaktionen auf dieses Gedicht, verweist mehr als nur deutlich auf die gegebene Situation:

Eine Atommacht, die sich internationaler Kontrolle entzieht, und noch dazu völlig ohne Kritik, bedroht einen souveränen Staat, weil sich dieser jener Art von Waffen bemächtigen könnte, über die Israel schon seit Jahrzehnten verfügt. Und nur wenige Menschen wagen es, auf diesen Umstand hinzuweisen, weil sie befürchten, als „rechtsdenkend“ missverstanden zu werden. Günter Grass wagt es erst heute, im Alter von 84 Jahren, weil er weiß, dass er nichts mehr zu verlieren hat. Es kann ihm nicht mehr schaden, wenn er plötzlich keinen Verleger mehr findet. Denn er ist alt genug, keinen mehr zu brauchen. Und vielleicht lässt sich seine altersbedingte Offenheit mit jener von Helen Thomas vergleichen, die über 90 war, als sie es endlich wagte, ihre Meinung offen auszusprechen. Und beiden, Günter Grass und Helen Thomas, kann nicht vorgeworfen werden, dass es ihnen an Erfahrung fehlt. Was über die meisten der Lohnschreiber, die sich dem Strom der Kritik anschließen, nicht behauptet werden kann.

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