Er gilt als „streitbarer“, aber hervorragender investigativer Journalist: Jürgen Roth ist bekannt als Autor zahlreicher Bücher und Fernseh-Dokumentationen, die sich mit den Themen Korruption, Mafiastrukturen und Organisierte Kriminalität sowie mit der neuen Kriminalität aus dem Osten befassen. Sein letztes Buch ist gerade erschienen: „Gangsterwirtschaft – wie uns die organisierte Kriminalität aufkauft.“ Derzeit recherchiert er über Sport und Organisierte Kriminalität im Kosovo. Erst im Juli war er wieder vor Ort und kennt die kriminellen Strukturen des Landes und der Region wie nur wenige Insider. Ein Gespräch über den aktuellen Stand der Dinge im Krisenherd:
TI: Herr Roth, das Kosovo gilt mittlerweile als „Drehscheibe der Organisierten Kriminalität“ in Europa, wie aus einem Dokument des Bundesnachrichtendienstes aus dem Jahr 2005 hervorgeht (1). Dies haben Sie journalistisch vor einiger Zeit dargelegt. Warum hat sich die Organisierte Kriminalität ausgerechnet im Kosovo dermaßen etabliert?
Jürgen Roth: Das ist nicht weiter verwunderlich. Die alten Drogen-Seilschaften der ehemaligen UCK-Führungselite wurden nicht zerschlagen, diese sitzen vielmehr heute sowohl an der Staatsspitze als auch in allen einflussreichen Positionen des Kosovo. Doch ebenso wichtig sind die entsprechenden Beziehungen zu anderen Nachbarstaaten. Die Regierung des Kosovo unterhält zum Beispiel hervorragende Kontakte zum Ministerpräsidenten von Montenegro und zwar nicht nur politische. Der derzeitige Ministerpräsident Milo Djukanovi? beispielsweise war lange Dreh- und Angelpunkt der Zigarettenmafia in der Region. Heute ist der Zigarettenschmuggel durch den Drogenschmuggel ersetzt worden. Die Kanäle sind die gleichen geblieben, genauso wie die Profiteure. Milo Djukanovi? gilt ja auch als der Noriega (2) des Balkans. In Bari ruht derzeit ein Verfahren gegen ihn, aber nur aufgrund seiner Immunität als Amtsinhaber. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Zusammenarbeit mit der Camorra. Trotzdem tun die europäischen Staaten alles, um Montenegro in die EU aufzunehmen. Der Grund: Die geostrategische Lage. Auch die Politik der USA ist aus genau diesem Motiv heraus hilfreich für die Strukturen der Organisierten Kriminalität in dieser Region. Ermittler dürfen oft nicht eingreifen, weil dies politisch von den Amerikanern nicht gewollt ist. Das zeigt das Beispiel Ramush Haradinaj (3), diesem Kriegsverbrecher und Mafiafürsten aus dem Kosovo. An die oberen Köpfe im Kosovo wollen die Verantwortlichen nicht heran. Die sind untouchable.
TI: Inwiefern stehen die traditionellen Strukturen in Verbindung mit der grassierenden Kriminalität? Albaner leben bekanntlich in Großfamilien und Clans.
Jürgen Roth: Ich glaube nicht, dass das viel mit den sozialen und ethnischen Strukturen zu tun hat. Ich denke, dass die heutigen kriminellen Strukturen im Kosovo eher mit den klassischen albanischen kriminellen Strukturen zu tun haben. Wenn man sich beispielsweise den Clan von Xhavit Haliti (4), Haradinaj oder Hashim Thaci (5), dem ersten Premierminister des Kosovo und Vorsitzenden der PDK, anschaut, werden diese Verbindungen sehr deutlich.
TI: Was sind heute die Schwerpunkte der Kriminalität im Kosovo?
Jürgen Roth: Drogen- und Waffenhandel, außerdem Menschenhandel, das sind die Schwerpunkte in Albanien und dem Kosovo. Das Kosovo ist ein ideales Land für den Drogenhandel, einmal als klassische Zwischenstation für Kokain und vor allem für Heroin aus Afghanistan, um es dann nach Europa zu schleusen, zum anderen weil die notwendigen Kontakte in die Regierungsebene sowie in die Polizei hierfür vorhanden sind. Wichtig ist dabei die Transitroute über Montenegro, hier wird nicht nur geschmuggelt, es werden auch Gelder gewaschen. Ohne diese kriminellen Geschäfte wären weder das Kosovo noch Montenegro überlebensfähig.
TI: Stimmen die Gerüchte, es gäbe Massenbordelle und Massenlager im Kosovo, in denen Frauen regelrecht für die Prostitution abgerichtet werden?
Jürgen Roth: Diese Lager gab es noch vor fünf, sechs Jahren. Die waren hauptsächlich für Zehntausende von Soldaten und internationale Hilfskräfte gedacht, allerdings betraf dies nicht alleine die Kosovarinnen, sondern ebenso Frauen aus Bulgarien, Albanien – hier die Roma – Rumänien, usw.
TI: Woran liegt das, dass es die Lager nicht mehr gibt? Die Soldaten sind immer noch da.
Jürgen Roth: Die europäische Polizei hat, aufgrund internationaler Proteste, viel zerschlagen. Natürlich gibt es noch den Sex-Sklavenhandel und Bordelle, aber das meiste spielt sich nicht mehr in der Öffentlichkeit ab, sondern beispielsweise in primitiven Wohnungen, Bars. Zumindest gilt das für Priština.
TI: Da das Kosovo zum zentralen Drehpunkt der Organisierten Kriminalität geworden ist mit Auswirkungen auf Westeuropa, warum unterstützen westliche Staaten dann Ihrer Meinung nach dieses System?
Jürgen Roth: Zum einen ist dazu zu sagen, dass die Positionen, als der Konflikt um den Kosovo ausgebrochen ist, sehr unterschiedlich waren. Frankreich war beispielsweise wesentlich zurückhaltender als Deutschland. Wobei hier bemerkt werden muss, dass zum Beispiel die Beziehungen des PDK-Vorsitzenden Thaci zur Bundesregierung immer hervorragend waren, zumindest zu Zeiten der rot-grünen Koalition. Und jeder konnte wissen, in welche Machenschaften Thaci verstrickt war. Interessierte jedoch niemanden. Für die Nato ist das Kosovo außerdem ein wichtiger geostrategischer Stützpunkt, um auf dem Balkan präsent zu sein. Bei der Unterstützung des Kosovo geht es natürlich auch darum, das „Schmuddelkind“ Europas, Serbien, in die Schranken zu weisen und Serbien nachhaltig politisch und ökonomisch zu schädigen.
TI: Wie sieht es mit den serbischen und Roma-Minderheiten im Krisengebiet aus?
Jürgen Roth: Die Roma sind allgemein nicht beliebt, sie sind verhasst, werden auf dem ganzen Balkan diskriminiert und gelten aufgrund ihrer ethnischen Strukturen und damit verbundener sozialer Deklassierung als Paria. Das ist ein generelles Problem, das im Kosovo nicht anders ist als in Serbien oder Bulgarien. Im Norden des Kosovo hingegen, wo die Serben siedeln, ist es derzeit relativ ruhig. Die Enklaven werden von UN-Soldaten und Polizei geschützt. Aber es ist ein permanenter Brandherd. Die Serben fühlen sich bedroht, zum Teil auch zu Recht, weil es Übergriffe von Seiten der Albaner gab. Aber zumindest der serbische Außenminister hat nun Verhandlungsbereitschaft in dieser Frage signalisiert. Es ändert sich also ein bisschen etwas. Wobei der extreme Nationalismus in Serbien in der politischen Elite sehr ausgeprägt ist.
TI: Warum erfahren Leser oder Zuschauer in den Medien kaum etwas über die wahren Verhältnisse im Kosovo?
Jürgen Roth: Ganz einfach, die Medien und die Öffentlichkeit hier interessieren sich nicht dafür. Alle Repräsentanten der Zivilgesellschaft auf dem Balkan beklagen sich darüber, dass niemand an ihnen Interesse zeigt, es sei denn es gibt wieder Krieg oder es passiert ein Mord oder eine Entführung. Sie suchen Unterstützung und Hilfe im Westen, der reagiert jedoch, abgesehen von wenigen Ausnahmen, fast immer mit der kalten Schulter.
TI: Wie sehen Sie die Entwicklung des Kosovo perspektivisch?
Jürgen Roth: Ich wage zu bezweifeln, dass da etwas Gutes im Sinne der zivilen Bürgergesellschaft kommt. Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse sind katastrophal. Von den vielen Hilfsgeldern wurde praktisch nichts in die notwendige Infrastruktur und in soziale Belange investiert. Das Geld verschwindet in den Kanälen der Clans, und da wo investiert wird, profitieren auch nur die kriminellen Seilschaften und ihre politischen Wasserträger, nicht die Bevölkerung. Die Verhältnisse sind mit dem benachbarten Montenegro vergleichbar. Fakt ist: Das Kosovo kann ohne westliche Hilfe nicht existieren. Sicher, es gibt viele Tankstellen, aber die sind nun nicht gerade ein Wirtschaftsmotor. Und die Freiheit der Medien existiert praktisch überhaupt nicht. Journalisten fürchten teilweise um ihr Leben. All dies sind natürlich Umstände, die die Organisierte Kriminalität begünstigen, die wiederum mit dem derzeitigen Status Quo zufrieden ist.
TI: Wenn Sie durch das Land fahren, was ist Ihr subjektiver Eindruck?
Jürgen Roth: Ich sehe ein geschundenes Land.
TI: Haben Sie keine Sicherheitsbedenken, wenn Sie vor Ort recherchieren?
Jürgen Roth: Ich reise unerkannt, die wissen gar nicht, dass ich unterwegs bin. Treffen mit Journalisten sind aber ausnahmslos konspirativ. Es gibt natürlich Bereiche, in denen man vorsichtig sein muss, aber die kenne ich.
TI: Kritik an der Kosovo-Politik gilt zum einen als unpopulär. Andererseits, wenn Sie frei Ihre Meinung äußern: Angeblich haben sogar die Richter in Den Haag Angst vor den Albaner-Clans.
Jürgen Roth: Ich auch. Sicher, es leben in Deutschland und der Schweiz viele Albaner in der Diaspora, und es gibt den Kelmendi-Clan und die Osmanis in Hamburg, die meiner Meinung nach deswegen so gefährlich sind, weil sie auch vor Gewalt nicht zurückschrecken und wirtschaftlich nicht ohne Einfluss sind. Aber in Deutschland kann man seine Meinung, sieht man von Sachsen ab, ungefährdet äußern. Das ist im Kosovo anders. Die Kollegen und Kolleginnen dort, die es überhaupt wagen, kritisch zu berichten, befinden sich in ständiger Gefahr.
Herr Roth, vielen Dank für das Gespräch!
(1) Das BND-Dokument, ursprünglich als streng vertraulich angedacht, ist unter http://file.wikileaks.org/file/bnd-kosovo-feb-2005.pdf zu finden.
(2) Manuela Noriega (vermutlich geb. 11. Februar 1938 in Panama), seit dem 15. Dezember 1989 Regierungschef in Panama. Als einstiger Verbündeter der US-Amerikaner geriet er Mitte der 1980er Jahre in die Schlagzeilen in Verbindung mit Drogen und dem organisierten Verbrechen. 2010 wurde er in Frankreich wegen Geldwäsche zu sieben Jahren Haft verurteilt.
(3) Ramush Haradinaj (geb. 3. Juli 1968 in Glo?ane), vom 3. Dezember 2004 bis 8. März 2005 Premierminister des Kosovo. Einer der Hauptorganisatoren der UCK und ist kriminell, politisch und militärisch in alle Fragen involviert, die die Sicherheitsstrukturen betreffen.
(4) Xhavit Haliti (geb. 8. März 1956 in Novo Selo), als Schlüsselfigur der PDK, wird mit Geldwäsche, Drogen-, Waffen-, Menschen- und Treibstoffschmuggel, Frauenhandel und Prostitutionsgeschäft in Verbindung gebracht. Der BND rechnet ihn dem inneren Kreis der albanischen Mafia zu.
(5) Hashim Thaci (geb. 24. April 1968 in Bro?na/Srbica) wird unter anderem mit dem Kelmendi-Clan in Hamburg (Drogen- und Waffenhandel) in Verbindung gebracht.
Fakten & Zahlen
Die ethnische Verteilung im Kosovo gestaltete sich 2006 wie folgt: 92 Prozent Albaner, 5 Prozent Serben (vor allem im Norden), 3 Prozent Sonstige (vor allem Roma, auch Bosniaken, Türken, Goranen, Aschkali und Ägypter). Noch 1948: 68,5 Prozent Albaner, 23,6 Prozent Serben, 8 Prozent Andere. Bereits in den 1980er Jahren wies das Kosovo eine Geburtenrate von 27% auf, gilt daher als klassisches Emigrationsland (vor allem in die Schweiz und Deutschland). 33 Prozent der Bevölkerung sind aktuell unter 15 Jahren alt. Die Arbeitslosigkeit lag 2008 bei 43 Prozent, besonders betroffen ist die Altersgruppe zwischen 16 und 25 Jahren. Weitere Probleme sind das Außenhandelsdefizit, das 2005 bei 1,1 Milliarden Euro lag und die schon zu Zeiten der Republik Jugoslawien bestehende hohe Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen von außen (Transfers von Emigranten, Hilfsgelder). Fast 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
Interview und ergänzende Informationen von Marijana Babic