Freitag , 19 April 2024
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Ein Tag bei “Occupy Wallstreet”

occupy_wallstreet_1Seit 45 Tagen harren nun einige Hundert Personen auf einem Platz in der Nähe der Wallstreet aus, um gegen das Finanzsystem zu demonstrieren. Die Besetzer haben sich als hartnäckiger erwiesen als von vielen prophezeit. Davon wollte ich mir persönlich ein Bild machen. Die Motive und individuellen Forderungen sind unterschiedlich, aber eines haben die Anwesenden gemein: eine tiefe Unzufriedenheit mit dem bestehenden System.

Trotz Kälte gute Stimmung im Camp

Der 30.10 ist ein sonniger Tag, doch es ist bitterkalt. Dank der Sonne ist es heute aber deutlich angenehmer als gestern. Höchst ungewöhnlich für diese Jahreszeit, fegte ein Schneesturm über die Metropole hinweg, hat Flughäfen teilweise lahmgelegt und den Verkehr zum Erliegen gebracht. Die “Besetzer der Wallstreet” im Zuccotti-Park konnte er jedoch nicht vertreiben. Etwas mitgenommen sieht das Lager und mancher Bewohner noch aus, aber die Stimmung ist mit dem neuen Tag wieder prächtig, trotz der Kälte und der Tatsache, dass aufgrund der umliegenden Hochhäuser, nur wenige Sonnenstrahlen ihren Weg zu den Ausharrenden finden.

Buntes Treiben

Es ist ein buntes und geschäftiges Treiben im Park, der diesen Namen eigentlich nicht verdient, ist er doch vollständig asphaltiert und nicht viel größer als 50 auf 100 Meter. Die Menschen drängen sich förmlich zwischen den Zelten hindurch, schauen, staunen, fotografieren, fragen und diskutieren. Viele sind in farbenfrohe Kostüme gekleidet, geschminkt oder haben eine Guy-Fawkes-Maske über das Gesicht gezogen. Es gibt Musik – sogar eigens hierfür komponierte Protestlieder werden vorgetragen –, es wird getanzt und gebreakdanced. Manche malen Portraits, sprayen Protestbanner, kochen oder genießen einfach die Sonnenstrahlen. Es gibt eine Bücherei, ein Organisationszelt, eine Volksküche und was man sonst noch eben so alles braucht um während dieser kalten Jahreszeit im Freien zu campieren, zu debattieren und zu gestalten. Nur Toiletten durften die Besetzer bislang nicht aufstellen, zum Leidwesen der umliegenden Lokalitäten.

Botschaft: Es muss sich was ändern

Der Platz erinnert an ein Kultur- und Musik-Festival mit karnevalesken Zügen aber mit dem großen Unterschied, dass hier wirklich eine Botschaft und das Gespräch im Mittelpunkt stehen. An jeder Ecke wird aufgeklärt, wird vorgetragen, wird interviewt oder einfach nur mit Freunden geplaudert und diskutiert. So habe auch ich schnell verschiedenste Zettel, Zeitungen Anstecker oder Sticker in der Hand. Die Botschaft, wenn man sie denn zusammenfassen müsste, wäre wohl: So kann es nicht weitergehen! Egal, in welcher Hinsicht man die derzeitige Gesellschaft analysiert, sei es im Bereich Finanzen, bei der Energiegewinnung, der Nahrungsmittelproduktion, der Moral oder bei dem gemeinsamen Miteinander, es muss sich etwas ändern!

Es sind die 99%

So vielfältig die Probleme sind, so verschieden sind auch die individuellen Motivationen und Forderungen der Protestanten. Selbstverständlich prangert die Mehrheit den Kapitalismus mit seinem ungerechten Geldsystem an, andere jedoch konzentrieren sich mit ihrem Einsatz erst einmal auf die Abschaffung der Atomkraft und die Nächsten sind gegen Gasbohrungen und Pipelines oder kritisieren den so genannten „Krieg gegen den Terror“. Jeder versucht mobil zu machen, sammelt Unterschriften, verteilt Flugblätter oder eine Protestzeitung. Gemäß der Diversität ihrer Anliegen sind die Menschen auch als Gruppe – erfreulicherweise – keinesfalls homogen. Es sind wohl wirklich annähernd „die 99%“ wie sie immer wieder gerne behaupten und dazu gehören eben Menschen verschiedensten Alters aus allen möglichen Schichten. Es ist schön zu sehen, dass sich hier viele Menschen Gedanken machen, in ebenso vielen Bereichen.

Unterstützung von der restlichen Bevölkerung scheint vorhanden

Für die Aufrechterhaltung der Protestbewegung werden Spenden gesammelt, hauptsächlich Geld aber auch Nahrung, sogar für Vierbeiner. Kleider werden mittlerweile schon abgelehnt, zu groß sind die vorhandenen Kleidersackberge. Stattdessen scheinen die Camper jetzt weiterzudenken: Es wird nach Laptops gefragt oder Dinge, mit denen man die Zelte winterfest machen kann, Planen und Klebeband zum Beispiel. Die unzureichende Wintertauglickeit des Camps hatten die Anwesenden gestern schmerzvoll zu spüren bekommen. Anhand des Zuspruchs in der Bevölkerung kann man aber vermuten, dass es auch zukünftig an Mitteln nicht mangeln wird. Die Volksküche scheint gut ausgestattet, auch Hygieneartikel sind ausreichend vorhanden. Dies mag eben daher rühren, dass ein Großteil hier nur kurz vorbeischaut, aber trotzdem versucht zu unterstützen, eben mit Geld oder Nahrung und bei einigen sieht es so aus, als könnte das ihr Portemonnaie gut verkraften.

Camp schon Touristenattraktion

Doch nicht nur die New Yorker Bevölkerung hat das Camp an diesem Sonntag aufgesucht, sondern auch Scharen von Touristen. Die Nähe zu „Ground Zero“ mag hierfür der Hauptgrund sein. Für die Bewegung ist dies natürlich von Vorteil, erreicht sie hierdurch doch schnell das internationale Bewusstsein. Touristen, die vorbeischlendern, werden von den Protestanten aufgefordert sich Zeit zu nehmen, zu fotografieren und zuzuhören. Die Polizei hingegen versucht den Gehsteig freizuhalten und drängt die Fußgänger deshalb weiterzugehen. Die meisten bleiben hiervon jedoch unbeeindruckt, was umgekehrt ebenso für das Verhalten der Ordnungshüter gilt, die ihre Weitergehparolen mit stoischer Gelassenheit wiederholen.

Selbst Touristenbusse fahren im Schritttempo am Camp vorbei und sobald sich einer nähert, werden Schilder in die Höhe gereckt und Parolen gerufen – je mehr Aufmerksamkeit, desto besser. Die Sightseeing Tour hat eine Attraktion mehr, die Touristen zusätzliche Motive, die Protestanten ein Medium – Win-win-win-Situation

Was will Occupy the Wall Strreet?

Es wäre unfair von „der Bewegung“ zu diesem Zeitpunkt konkrete Ziele und Lösungen zu fordern. Dies ist kein Protest mit einem eindeutigen Ziel. Vielmehr sollte dieser nicht als eigenständige Bewegung, sondern wohl eher im Kontext des weltweiten Aufstehens für mehr Demokratie, für mehr soziale Gerechtigkeit, gegen das ungerechte Finanzsystem usw. gesehen werden. Überall auf der Welt sind die Menschen unzufrieden und bringen dies zum Ausdruck. Am Anfang steht die Erkenntnis, dass etwas schief läuft, es folgt die Konkretisierung eines Problems. Lösungen werden immer erst auf dem Weg zum Besseren erarbeitet. Der nötige Diskurs hat begonnen. Dies war der erste Schritt, und ich habe den Eindruck, dass weitere schon folgen.

Es wird Abend – der Platz ist noch voll

Der Platz ist im Laufe des Tages immer voller geworden. Aber ziemlich sicher wird sich das jetzt mit dem Verschwinden der Sonne schlagartig ändern. Auch ich bin zugegebenermaßen froh, dass ich in nun in ein warmes Zimmer verschwinden kann, eine Toilette haben werde, Internet und was man sonst noch alles als selbstverständlich ansieht. Ich bewundere das Durchhaltevermögen, den Willen und die Tapferkeit und will diesen Menschen durch diesen Bericht ein wenig von der Aufmerksamkeit, die sie verdient haben, zuteilwerden lassen. Vielleicht kann das auch einen Beitrag leisten, auf dem Weg in eine bessere Zukunft. In diesem Sinne: Occupy World`s all streets!

Anmerkung der Redaktion:

Auch in Deutschland verbreiten sich derzeit wieder Demoaufrufe. Die nächsten größeren Aktionen sind für den 11.11.11 und für den 15.01.12 geplant.

Dieser Artikel ist ursprünglich bei erschienen.

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