Kriegsverbrechen sollten auch dann aufgedeckt werden, wenn sie vom (vermeintlichen) Sieger begangen werden. In demokratischen Ländern sollte sowohl das Recht auf Pressefreiheit als auch das Recht auf Information vorrangig behandelt werden. Vorausgesetzt, dass es sich bei Julian Assange und seinem Team wirklich um Idealisten handelt, und vieles spricht dafür, sollte ihnen jede Unterstützung zuteil werden. Lange genug haben wir uns belügen lassen. Wenn Kriege, die weder moralisch noch rechtlich rechtfertigbar sind, weiter geführt werden, wenn wir es zulassen, dann müssen wir damit rechnen, eines Tages selbst zu Opfern zu werden.
Die Vereinigten Staaten setzten Wikileaks auf ihre berüchtigte Watch-List. Australien, Assanges Heimatland, schloss sich an. Schweden, aufgrund der dort rechtlich besser abgesicherten Pressefreiheit, Wahlheimat für Assange und Wikileaks, scheint sich dem Druck Amerikas zu beugen. Wie nun bekannt wurde, verweigerte Schweden die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, scheinbar wegen der fadenscheinigen Behauptung zweier Frauen, Julian Assange hätte sie belästigt oder gar vergewaltigt. Moneybookers sperrte das Konto. Und, wie eine Meldung der Prawda wissen lässt, das Pentagon fordert die internationalen Medien auf, über Wikileaks nicht mehr zu berichten.
Was wird vom Bürger eines Rechtsstaates erwartet, wenn er über Informationen oder sogar Dokumente verfügt, die helfen, ein Verbrechen aufzuklären? Vermutlich, dass er die Behörden in Kenntnis setzt? Und wenn sich diese, was immer der Grund dafür sein mag, weigern, die Angelegenheit zu verfolgen? Dann stehen ihm zwei Möglichkeiten zur Wahl. Er mag schweigen und sich sein Leben lang Feigheit vorwerfen. Oder er kann sich an die Medien wenden, in der Hoffnung, dass diese die Öffentlichkeit informieren und die korrupten Behörden dadurch unter Druck gesetzt werden. Dies hat Bradley Manning, Informant von Wikileaks, getan. Dafür wurde er von der US-Militärpolizei verhaftet und sitzt seit Monaten im Gefängnis. Der US-Abgeordnete Mike Rogers, der eigentlich die Interessen seiner Wähler, die Ideale von Freiheit und Demokratie vertreten sollte, forderte für ihn sogar die Todesstrafe.
Seit mehreren Tagen ist die Webseite von Wikileaks wegen Wartungsarbeiten unzugänglich. Nicht bekannt ist, ob es sich um einen Cyber-Angriff handelt oder ob die Mitarbeiter gerade damit beschäftigt sind, die angekündigten 400.000 neuen Dokumente hochzuladen. Diese sollen sich auf den Irak-Krieg beziehen, einen Krieg, der von Anfang an unter falschen, unter erlogenen Voraussetzungen begonnen wurde. Die irakische Regierung unter Präsident Saddam Hussein verfügte über keine Massenvernichtungswaffen. Die irakische Regierung unter Saddam Hussein unterhielt keine Kontakte zu Terroristen, die für die Angriffe vom 11. September 2001 verantwortlich sein könnten. Irak stellte weder eine Bedrohung für Amerika noch für irgend ein anderes Land dar. Colin Powell, Viersterne-General und ehemaliger Außenminister der Vereinigten Staaten, trat aus dieser Position zurück, nachdem er unwissentlich vor den Vereinten Nationen die Unwahrheit präsentiert hatte. Genau diese Unwahrheit, die Lüge über Iraks Massenvernichtungswaffen, führte zum Einmarsch durch US-Truppen, dem sich Großbritannien, Australien, Polen, Dänemark, Italien, Georgien, die Ukraine, die Niederlande und Spanien anschlossen.
Lobend sei erwähnt, dass sich Deutschland, zusammen mit Frankreich und Kanada, Bündnispartner im Afghanistan-Krieg, geweigert hatten, sich am Irak-Feldzug zu beteiligen, was US-Medien damals dazu bewegt hatte, negative Stimmung gegen diese Länder zu provozieren.
Die Zahl der Todesopfer im Irak, die meisten davon Zivilisten, reicht in die Hunderttausende, wenn sie nicht sogar über einer Million liegt. Der offizielle Truppenabzug ändert nichts an der Situation, nachdem Soldaten schlicht durch Söldner ersetzt werden. Wie würde man einen Angriffskrieg, der unter erlogenen Voraussetzungen begonnen wurde, im Sinne internationalen Kriegsrechts bezeichnen?
Wie sollte sich ein demokratisches Land verhalten, wenn sich herausstellt, dass ein Bündnispartner unter dem Verdacht steht, sich eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht zu haben?
In aller Deutlichkeit möchte ich feststellen, dass ich als Autor dieses Artikels hiermit kein Land eines Verbrechens beschuldige, sondern eine Frage aufwerfe, deren Beantwortung Gerichten und Rechtsexperten obliegt. Gleichzeitig liegt mir aber auch daran, die Bürger demokratischer Länder dazu zu bewegen, von ihren Vertretern, gemeiniglich Politiker genannt, zu fordern, Ermittlungen einzuleiten. Sollte sich nämlich eines Tages herausstellen, dass Deutschland ein Bündnis mit kriegführenden Ländern pflegt, die eines Tages vor einem Gericht für schuldig befunden werden könnten, so ließe sich eine Mitverantwortung nur schwer leugnen.
In Deutschland, in Europa, in den USA und im Rest der Welt wurden vor Beginn des Irak-Krieges massive Demonstrationen organisiert, um diesen ungerechtfertigten Konflikt zu verhindern. Die vielen Millionen von Menschen, die durch die Straßen zogen, wurden von den Entscheidungsträgern schlichtweg ignoriert. Selten werden wir daran erinnert.
Die Aktionen von Wikileaks, das Aufdecken von Dokumenten, die als weiteres Belastungsmaterial dienen könnten, soll und muss auf breite Unterstützung treffen. Die Rechtmäßigkeit des Vorgehens Amerikas und seiner Bündnispartner muss hinterfragt werden. Dass sich dies letztendlich auch auf den Afghanistan-Konflikt auszudehnen hat, bei dem es noch immer weitgehend unklar ist, wessen Interessen dieser dient, wäre eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Die Rechtmäßigkeit des Vorgehens Amerikas zu bezweifeln, mag vieler Menschen Weltbild auf den Kopf stellen. Vieles von dem, an das wir glauben, könnte sich als grundfalsch erweisen. Doch, sollte sich eines Tages herausstellen, dass die derzeitige Politik der westlichen Länder nicht mit den Interessen der Bevölkerung einhergeht, was könnte die Zukunft für die Betroffenen noch mit sich bringen?
Es mag bloß ein Hoffnungsfunken sein, darauf zu warten, dass Wikileaks Veränderungen bewirken könnte. Doch, zum gegebenen Zeitpunkt, bietet sich keine andere Organisation an, die gleichzeitig über brisante Dokumente und den erforderlichen Bekanntheitsgrad verfügt. Es könnte sein, dass Wikileaks uns die größte – und vielleicht auch letzte – Chance bietet, einer Entwicklung Einhalt zu gebieten, die unser alle Zukunft in Frage stellt.