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Gerechtigkeit – Ein sehr weitläufiger Begriff

gerechtigkeitWenn man sich die im Bundestag vertretenen Berufsgruppen anschaut, so stechen in besonderem Maße die Juristen heraus. Etwa 22 Prozent der im Jahr 2009 gewählten Abgeordneten haben nach eigenen Angaben einen solchen beruflichen Hintergrund. Naiv betrachtet könnte man meinen, dass aus dem Vorhandensein so vieler Rechtskundiger auch ein hohes Ausmaß an gerechten Entscheidungen resultieren sollte. Vielleicht nicht ganz so naiv möchte ich mich mit diesem Beitrag aus meiner Perspektive als Psychologe dem Thema Gerechtigkeit widmen. Auch Psychologen haben ein wissenschaftliches Interesse an Gerechtigkeit. Dem Organisationspsychologen geht es z.B. um Gerechtigkeit und Gerechtigkeitserleben in Unternehmen. Was sich aber durchaus auf Politik und Gesellschaft übertragen lässt.

Dabei lassen sich unterschiedliche Arten von Gerechtigkeit unterscheiden:

Von Verteilungsgerechtigkeit spricht man, wenn vor allem die Ergebnisse betrachtet werden. Das, was man beispielsweise als Lohn erhält, wird dabei ins Verhältnis gesetzt mit der investierten Anstrengung und verglichen mit dem, was andere erhalten. Man erlebt sich dementsprechend als ungerecht behandelt, wenn man für gleiche Arbeit weniger erhält als eine Vergleichsperson. Bekommen alle Mitarbeiter das gleiche Gehalt plus Zulagen? Oder gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen, Deutschen und Ausländern, Stammpersonal und Leiharbeitern?

Davon abzugrenzen ist die Verfahrensgerechtigkeit. Hier geht es um die gerechte Gestaltung von Abläufen im Vorfeld von Entscheidungen zur Verteilung von Ressourcen. Prozedurale Gerechtigkeit ist dann gegeben, wenn bei der Verteilung von Ressourcen die Interessen aller Betroffenen berücksichtigt werden, klare Kriterien für Entscheidungen vorliegen und öffentlich gemacht wird, wie Entscheidungen zustande kommen. Sachverhalte, bei denen man selbst nicht mitentscheiden konnte, müssen den Betroffenen gegenüber zumindest sinnvoll und verständlich begründet werden. Des weiteren müssen Entscheidungen korrigierbar sein, für den Fall, dass sich die Bedingungen geändert haben.

Teilweise wird zusätzlich noch die interaktionale Gerechtigkeit unterschieden. Darunter versteht man die faire und respektvolle Behandlung von Beschäftigten durch Vorgesetzte. Man könnte das Ganze aber auch auf die Behandlung von Kunden oder Klienten durch Vertriebsmitarbeiter oder Staatsbedienstete übertragen.

Gerechtigkeit bei der Personalauswahl lässt sich beispielsweise durch strukturierte Einstellungsinterviews oder Assessment Center realisieren, bei denen mehrere Beobachter nach vorher festgelegten Kriterien eine Beurteilung des Bewerbers bzw. der Bewerberin vornehmen und eine gemeinsame Auswahlentscheidung vorgenommen wird. Die Kriterien für die Auswahl müssen dabei aus einer Analyse der Anforderungen des konkreten Arbeitsplatzes resultieren. Das Betriebsverfassungsgesetz schreibt für die Aufstellung und Anwendung solcher Beurteilungsgrundsätze und Auswahlrichtlinien auch die Mitbestimmung des Betriebsrates vor (§§ 94 und 95 BetrVG). Im Gegensatz dazu steht die Entscheidung eines einzelnen Vorgesetzten, der „aus dem Bauch heraus“ oder warum auch immer die hübsche junge Blondine als Sekretärin einstellt. Es ist dabei auch im Sinne des Arbeitgebers, von vornherein transparent zu machen und im Stellenprofil zu kommunizieren, auf welche Anforderungen es ankommt. Umso wahrscheinlicher ist es, dass sich genau diejenigen bewerben, die tatsächlich für die Stelle geeignet und an einem solchen Arbeitsplatz interessiert sind.

Neben gesetzlich vorgeschriebenen Formen der betrieblichen Mitbestimmung durch eine gewählte Arbeitnehmervertretung gibt es in Unternehmen weitere Möglichkeiten der Einbeziehung von Beschäftigten in Entscheidungsprozesse, beispielsweise im Rahmen von Qualitäts- und Gesundheitszirkeln. Partizipative Prozesse nehmen üblicherweise mehr Zeit in Anspruch als autoritäre Entscheidungen, allerdings ist dann auch eine bessere Qualität von Entscheidungen und eine höhere Akzeptanz zu erwarten.

Aus der organisationspsychologischen Forschung lässt sich ableiten, dass es vor allem auf die Verfahrensgerechtigkeit ankommt. Erlebte prozedurale Gerechtigkeit fördert die Identifikation mit dem Unternehmen und das Engagement der Mitarbeiter über das geforderte Maß hinaus. Umgekehrt fördert erlebte Ungerechtigkeit kontraproduktives Verhalten von Mitarbeitern. Die Folgen sind innere Kündigung, Leistungszurückhaltung („Dienst nach Vorschrift“) bis hin zu vermehrten Diebstählen.

Unter anderem führte der Psychologe Jerald Greenberg von der Ohio State University dazu eine Studie durch, die 1990 im Journal of Applied Psychology veröffentlicht wurde. Die Ausgangsbasis bestand darin, dass ein amerikanisches Unternehmen wichtige Aufträge verloren hatte und daraufhin beschloss, in zwei Fabriken den Lohn zeitweise um 15 Prozent zu kürzen. In der ersten Fabrik wurden die Lohnkürzungen im Rahmen einer Betriebsversammlung ausführlich begründet, diskutiert und bedauert. In der zweiten Fabrik erfolgte dagegen nur eine sehr kurze Information der Mitarbeiter ohne weitere Diskussion, Begründung oder auch nur ein Wort des Bedauerns. Im Anschluss daran wurde in diesen zwei Fabriken sowie einer weiteren Fabrik, in der keine Lohnkürzung stattfand, das Ausmaß einer „nicht anders erklärbarer Schrumpfung des Materialbestands“ erfasst (als Indikator der Diebstahlsrate). Lag dieser Indikator vorab in allen drei Fabriken bei etwa 3 Prozent und blieb in der dritten Fabrik auch konstant, so stieg er in der ersten Fabrik zeitweise auf 5 Prozent, in der zweiten Fabrik dagegen auf etwa 8 Prozent. Zudem kündigten im Untersuchungszeitraum in der zweiten Fabrik 23 Prozent der Beschäftigten, in den anderen beiden Fabriken taten dies jeweils weniger als 5 Prozent. Die in den beiden Fabriken erlebte Ungerechtigkeit im Hinblick auf die Entlohnung führte somit zumindest bei einigen Beschäftigten zu dem Bedürfnis, die Lohnkürzung durch andere „Einnahmen“ zu kompensieren. Das als gerecht erlebte, weil begründete Vorgehen der Geschäftsleitung und der respektvolle Umgang mit den Beschäftigten in der ersten Fabrik konnten diese negativen Folgen ungerechter Verteilung allerdings deutlich abschwächen.

Nun mag die Umsetzung von Verfahrensgerechtigkeit in Politik und Gesellschaft dem einen oder anderen vielleicht etwas utopisch anmuten. Insbesondere wenn man sich bestimmte Entscheidungsprozesse im Bereich der Bundes- oder gar Europa-Politik ansieht.

Verletzungen der Verfahrensgerechtigkeit liegen in Politik und Gesellschaft beispielsweise dann vor, wenn Begründungen für Behördenentscheidungen in unverständlichem Beamten- und Juristendeutsch formuliert werden. Oder wenn von Verwaltungsrechtlern argumentiert wird, dass bestimmte öffentliche Bauprojekte mehr gestoppt werden können. Begründet allenfalls mit allgemeinem Blabla von der Notwendigkeit von Veränderungen. Und nicht zuletzt, wenn Entscheidungskompetenzen, die bisher immerhin noch im Bereich der indirekten Mitbestimmung durch gewählte Parlamentarier lagen, immer weiter auf Gremien übertragen werden, auf die kein Einfluss mehr möglich ist. Als besonders kritisch sind allerdings wohl Abstimmungen einzustufen, bei denen gewählte Parlamentarier ein völlig anderes Abstimmungsverhalten zeigen, als aus dem Parteiprogramm und vorherigen Wahlversprechen zu erwarten wäre.

Man kann allerdings davon ausgehen, dass die Menschen es nicht einfach so hinnehmen, dass sie an wesentlichen Entscheidungen nicht hinreichend beteiligt werden, seien es Großbauprojekte, die Verlängerung von AKW-Laufzeiten, die Endlagerung von Atommüll oder auch Gesetze zur Medienregulierung. Insbesondere wenn sich abzeichnet, dass politische Arroganz zudem mit Nichtwissen oder Nichtwissenwollen verbunden ist. Mir ist gerade keine Studie dazu bekannt, aber auch hier sind wohl Zusammenhänge zwischen erlebter Gerechtigkeit und gesellschaftskonformem Verhalten zu erwarten.

Zum Abschluss dieses Beitrags möchte ich Ihnen zum nahenden Weihnachtsfest gerecht verteilte Geschenke wünschen, bei deren Auswahl auch Ihre persönlichen Interessen und Vorlieben berücksichtigt worden sind. Alternativ sollte der Kassenzettel beigefügt sein, so dass Sie auch die Möglichkeit haben, die eventuell nicht so glückliche Kaufentscheidung eines Geschenkgebers zu korrigieren. Bei gewählten Volksvertretern ist der Umtausch ja erst nach einigen Jahren möglich.

Beitrag von Falk Richter – http://www.falkrichter.de

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