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Das entscheidende Meeting über die Loslösung der alten Werbekampagne und der Entscheidung zum neuen Etat findet im 16. Stock des Time-Towers statt. Hier hat die Werbeagentur “Straight & Strong“ für die Deutschland-Filiale repräsentative Geschäftsräume angemietet. Die Adresse gehört zu den Exklusivsten und Gefragtesten der Finanzmetropole Frankfurt am Main. Der Blick vom Tower auf die Stadt und die anderen Bürotürme ist imposant, erhaben und natürlich auch ein Beweis des Erfolges, des Geldes und der Macht. In diesem Fall zeichnet sich die Werbeagentur als eines der führenden deutschen Unternehmen im Bereich Werbung und Finanzmarketing aus.
Wenn in wenigen Minuten der Geschäftsführer des Kunden die Empfangshalle betritt, muss bereits hier alles stimmen: Keine langen Wartezeiten am Kundencounter, bei der Begrüßung und vor allem hier am Aufzug. Der Transport in die Höhe ist ein nicht zu unterschätzender Faktor des geschäftlichen Wohlbefindens, denn der begrenzte Raum des Aufzuges kann beengend und zeitraubend wirken, besonders dann, wenn andere Leute einsteigen oder aussteigen müssen. Andererseits ist es auch möglich, dass ein Aufzug einen privilegierten Bereich darstellt. Die dezente Beleuchtung, glasklare Spiegelflächen und der Klang von klassischer Musik beschreiben eine exklusive Umgebung mit VIP-Charakter.
Der Kunde ist inzwischen eingetroffen und auf dem Weg zu den Aufzügen, dort angekommen, wird er von der Geschäftsassistentin begrüßt und weiter geleitet. Anstatt den Aufzug über den Knopf zu bestellen und sich in die Reihe der wartenden Fahrgäste einzugliedern, zückt die adrett gekleidete Frau ihr Smartphone und hält es gegen eine, mit getöntem Glas besetzte Fläche. Sie tippt einen Code zu Bestätigung und wenig später erscheint der leere Aufzug. Der Kunde steigt mit einem leichten Lächeln in den sauberen und frisch klimatisierten Aufzug ein. In dem Moment, als er sich der geräuschlos schließenden Türen zuwendet, sieht er eben noch, die wartenden Personen, vor dem Aufzug. Innerhalb von wenigen Sekunden rauscht der exklusiv belegte Aufzug in das Stockwerk wo “Straight & Strong“ einen zufriedenen und aufgeschlossenen Geschäftspartner begrüßen darf.
Beschleunigung – ein zeitliches Problem
Dieser Zeitausschnitt ist vergleichbar oder zumindest ähnlich dem Bewusstsein beim Autofahren, bei der Wahl des Transportmittels bei geschäftlichen Anlässen oder bei der Begeisterung für Sportanlässe mit Geschwindigkeitsaspekt. Wer am schnellsten ist, wird Sieger, kommt als Erstes an das Ziel, kann andere hinter sich lassen, fühlt sich im Einfluss auf den Faktor Zeit. Die Zeit ist relativ, Beschleunigung ist alles. Wer bremst, hat verloren. Die Entwicklungskurve von Wachstum geht unabdingbar mit dem Multiplikator Beschleunigung überein. Fehlt das Gaspedal, ist der Reisende zum Stillstand verdammt – Verlierer.
Dieses Wahrzeichen des Erfolges ist in vielen Bereichen auf dem Vormarsch und keineswegs ein Unding der modernen Gesellschaft. Schon im Jahr 1845 deklarierte der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau in seinem Werk “Or life in the Woods“, den rasanten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt. Er kritisierte dabei den immer wichtiger werdenden Aspekt der Zeit, der Eile und der Hast. Die Eisenbahn galt als Unheilsbringer materialistischer Werte, die zunehmend an Bedeutung gewannen. Er hegte dagegen ein einfaches und zurückgezogenes Leben, wie hätte Thoreau wohl unserer Zeit gegenübergestanden?
Das Streben nach der Kontrolle über die Zeit
Sicher, das Streben der Menschen ist aus zeitlicher Perspektive unabdingbar mit der Evolution verknüpft und ist daher auch ein Gesetz der Natur und der Physik. Sich diesem Gesetz unterzuordnen scheint ein Teil der Menschheit nicht gewillt. Das große Ziel der Unsterblichkeit ist die Macht über die Zeit. Der eigene Einfluss auf die Geschwindigkeit kommt dem schon recht nahe und wird als wichtiges Instrument verstanden. Die Werte unserer Kapitalistischen Ordnung sind daher nicht verwunderlich aber alles andere als natürlich, denn im Resultat ist es Fakt, dass der Mensch sich seiner Lebenszeit nicht entziehen kann. In unserer Vergangenheit bedeutete die Zeit einen wichtigen Einfluss auf das Überleben der Sippschaft. Gab es in einem bestimmten Zeitraum nicht genügend Nahrung, war die Existenz der Menschen bedroht. Bereits hier entwickelte unsere Spezies die Effizienz: Warum in einer Woche nur ein Mammut erlegen, wenn es möglich war eine ganze Horde, in derselben Zeitspanne zu töten. Alles, was nötig dazu nötig war, äußerte sich im Plan ehrgeiziger Jäger, die Herde an einen Abgrund zu treiben und über die Klippe springen zu lassen. Diese mörderische Effizienz beschreibt nicht unbedingt der Anfang des menschlichen Willen, sich zu behaupten, sondern vielleicht, die menschliche Arroganz sich über alles dieser Welt zu stellen. Die Zeit gilt es immer noch, zu überwinden.
In welcher Weise es dem Menschen aber bereits gelingt, die Zeit zumindest zu interpretieren oder Einfluss zu nehmen, zeigt das Beispiel einer Reise in einem Flugzeug im Vergleich zur Wegüberbrückung in einem PKW. Während die Fahrt im Auto sich auch geologischen Aspekten unterordnet – der Fahrer bekommt die vegetative Umgebungsveränderung mit, ist die Flugreise fast schon ein zeitliches Paradox, zumindest was die Variable Mensch angeht. Ohne äußere Anhaltspunkte kann eine Person in kürzester Zeit Strecken überwinden. Ob oder wie diese Umgebungsveränderung letztendlich verarbeitet wird, ist aus menschlicher Prämisse aber unnatürlich, wir widersetzen uns bestimmten Gesetzen, vielleicht ist auch aus diesem Grund der Jetlag eine akzeptierte Begleiterscheinung, ein Privileg mancher Zeitreisender.
Chaos bestimmt die Ordnung
Ein weiteres Beispiel unseres “Just in time – Konzeptes“ beschreibt der moderne Marktplatz, der online abgerufen wird. Auf der einen Seite klicken die Konsumenten, das gewünschte Produkt in den virtuellen Einkaufswagen und haben eine bestimme Erwartungshaltung, was Preis und Versandzeit betrifft. Dem gegenüber steht der Händler, der die vom Kunden gewünschten Waren so schnell und so günstig wie möglich ausliefern möchte. Auch hier zählt: Ohne Beschleunigung kein Wachstum. Amazon ist wohl das bekannteste Unternehmen des heutigen Online-Shoppings. Das Vertriebs- und Lagerwesen gilt ebenfalls als Inbegriff des modernen Versandhandels. Was im Hintergrund der Bestellmasken auf unserem, PC, Laptop oder Tablet PC passiert, ist an Effizienz nicht zu überbieten. Im Gegensatz zu allen herkömmlichen Lagerungskriterien wird bei Amazon kein bestimmter Lagerplatz für die jeweiligen Produkte reserviert. Die Lageristen und Kommissionierer wählen einfach irgendeinen freien Platz in den riesigen Regalflächen und Stockwerken für den einzulagernden Artikel aus. Was für Menschen Chaos bedeutet, ist für Roboter kein Problem, sie beherrschen dieses Lagersystem und führen die Warenwirtschaft mit absoluter Sicherheit. Roboter beherrschen dieses menschliche Chaos. Deren Effizienz nutzt das Unternehmen um Kosten zu sparen, Gewinne zu erwirtschaften aber auch die menschliche Arbeitskraft zu minimieren. Auch hier gilt, der menschliche Drang zur Maximierung führt irgendwann dazu, dass der Mensch die Kontrolle über dieses System und letztlich über sich selbst verliert.
Kommt der Knall und gibt es einen Hall?
Die Liste dieser Entwicklungsveranschaulichungen lässt sich weiter lesen. Menschen benutzen Google, um möglichst schnell die Antworten auf immer mehr Fragen zu finden. Dabei wird die eigene Kreativität oder unser angeborenes Vermögen zur Lösungsfindung verfälscht und verstümmelt. Neue Mobilfunkstandards wie LTE werden uns zukünftig Liveübertragungen vom Erlebnis zum Zuschauer ermöglichen. So können Großeltern von irgendwo auf der Welt direkt dabei sein, wenn deren Kinder, das Laufen lernen der Enkel über LTE streamen. Ja, bereits die Kinder sitzen in dieser Zeitfalle, sie dürfen nicht mehr erleben, keine Strecken überwinden. Die Terminkalender der Kinder sind nahtlos an die Zeitkapazitäten der Eltern gebunden.
Wann kommt es zur Kollision der Parameter: Beschleunigung und Entwicklung? Wird der Mensch diesen Zusammenstoß überleben und wenn ja werden wir zu Roboter, oder stehen die Roboter dann über uns? Beginnt das Spiel vielleicht wieder ganz von vorne? Oder gibt es doch Gesellschaftsalternativen?
Foto ©Arno Kuss