Freitag , 19 April 2024
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Lebendiges versus totes Wissen

book plantWie selbstverständlich gehen wir von der Haltung aus, wenn wir Wissen aufnehmen und uns aneignen, es ist zu unserer eigenen Erbauung, zum Zeitvertreib und zum Verbleib. Der Selbstbezug erscheint uns die natürlichste Sache der Welt. Aber ist dieser wirklich etwas Natürliches? Oder haben wir uns daran gewöhnt etwas Künstliches als natürlich anzusehen? Ist die Art und Weise, wie wir Wissen speichern, verwahren, horten, sei es in einem Notizblock, PC, in unserem Gehirn oder im Bücherschrank so normal, wie wir Besitz anhäufen und Waren konsumieren? Oder auch, wie wir uns über erworbenes Wissen identifizieren, als das, was wir sind, was uns Macht und Einfluss gibt? Worauf hier hingewiesen werden soll, ist die Selbstverständlichkeit dieser Haltung und die innere Beziehung zwischen Waren- und Nahrungskonsum und Wissenskonsum. Und damit soll der Blick auf die Folgen gelenkt werden: Wenn Wissen nicht zirkuliert, wenn Ungleichgewichte in der Wissensverteilung entstehen, wenn Menschen mehr Wissen aufnehmen, wie gut für sie ist, und wenn das tiefere Verständnis für Wissen fehlt.

Wenn die Welt eine Einheit ist und nur dadurch bestehen kann, indem die Teile sich fortlaufend auf andere Teile und die Einheit beziehen, dann kann es Wissen als abgespaltenen, losgelösten Teil des Ganzen nicht geben. Wer also Wissen um seiner selbst willen sich aneignet, schließt sich und das Wissen von anderen ab. In der Haltung, es um seiner selbst zu erwerben, steckt ein Todesurteil. Für sich selbst angeeignetes Wissen stirbt ab. Zwar bleibt die Form des Wissens erhalten, es ist aber nicht lebendiger als ein ausgestopftes Tier. Alles Lebendige ist gewichen.

 

Als These formuliert: Nur Wissen, das aus einem gemeinsamen Verständnis der Teilhabe erworben wird, bleibt lebendig. Daher lässt sich sagen: Geteiltes Wissen schließt auf, nicht geteiltes Wissen schließt ab. Wissen bleibt nur insoweit lebendig, als es sich im Umlauf befindet, fortwährend aktiviert und transformiert wird. Wissen unterliegt derselben Vergänglichkeit wie alle materiellen Formen. Die Buchstaben altern natürlich nie, es ist der in den Worten eingeschlossene Sinn als geistige Energie, der der Vergänglichkeit anheimfällt. Anders formuliert: Nur dort wo Wissen fortwährend erneuert wird, bleibt es lebendig, bewahrt es seine energetisierende, vitalisierende Wirkung. Das ist auch der Grund, weshalb wir uns immer wieder aufs Neue mit altem Wissen auseinandersetzen müssen. Damit bleibt es aber niemals dasselbe, was es einst war. Genau dieses Wissen als etwas sich Entwickelndes, Lebendiges fehlt uns in unserer Gesellschaft. Unser Wissensbegriff ist statisch, formverhaftet, quantitativ und egozentrisch. Wir betreiben in der Art, wie wir Wissen dehydrieren und konservieren, eine Art „Leichenkult“. Überall tritt uns der Geschmack des Abgestorbenen, des Verwesenden entgegen. Dass wir ihn nicht als solchen erkennen, hängt damit zusammen, dass wir aus der Not eine Tugend gemacht haben: Ergebnis ist die künstliche Stilisierung, die Reduktion auf die Form als Verpackung, als Etikett. Was uns fehlt, ist der Bezug zur Innerlichkeit, zur Lebendigkeit, zum richtigen Teilen von Wissen, denn Leben heißt teilen.

Dazu eine Analogie: Die meisten Menschen haben ein Verhältnis zum Wissen wie zum Essen: Es reicht ihnen, wenn das Essen gut aussieht. Beim Essen haben die Bestandteile der Nahrung, die für unsere Gesundheit wichtig sind, wenig Beziehung zum äußeren Aussehen und noch weniger zur Verpackung eines Gerichts oder eines Nahrungsmittels. Gleichwohl verlassen sich die meisten beim Essen auf den Sehsinn. Ebenso verhält es sich bei der Wissensaufnahme: Wird es in handlichen Portionen dargereicht? Liest es sich leicht und flüssig? Kommt es schnell zu einem Punkt, der einen interessiert?

Wer den Wert dessen erkennen will, was er isst, muss seinen Geschmacksinn trainieren, verfeinern. Dann ist es möglich, Gesundes von Ungesundem, Frisches von Verdorbenem zu unterscheiden. Tiere besitzen hier noch mehr Unterscheidungskraft als Menschen. Was bedeutet es, Wissen zu schmecken? Man muss seine Reaktionen auf das, was man liest, registrieren. Wer glaubt, auf diese Phase der Wissensaufnahme verzichten zu können, verschlingt Wissen, zieht es ein wie ein Staubsauger, ungefiltert, ungereinigt. Es fehlt an einer Vorsortierung und das behindert die Verdauung des Aufgenommenen. Die erste gefühlsmäßige Reaktion auf das Gelesene, die immer im Hintergrund da ist, ist für diejenigen, für die Wissensaufnahme mehr als Zeitvertreib ist, unentbehrlich.

Man muss hinter die Worte, an ihre eigentliche Energie herankommen, wie wenn man eine Nuss aufknackt. Und man muss offen, das heißt frei von Vorurteilen sein. Ähnlich wie bei der Nahrungsaufnahme ein großer Unterschied zwischen dem Essen und dem Verdauen besteht, besteht er auch bei der Aufnahme und bei der Verarbeitung von Wissen. Essen entspricht dem in Kontakt kommen mit dem Wissen, Verdauen dem integrieren in die eigene Wissensstruktur. Worauf es ankommt, ist nicht nur das, was das Wissen an automatischen Reaktionen z.B. an Emotionen auslöst, sondern das In-Beziehung-setzen, das Weiterdenken. Dieses Weiterdenken ist das eigentlich belebende Element allen Wissens. Dies geht über das oberflächliche Verstehen weit hinaus. Durch das Weiterdenken tritt man in einen inneren Dialog mit der Schreibperson, selbst wenn diese davon bewusst nichts mitbekommt. Dieser innere Dialog beinhaltet ein Würdigen des Geschriebenen. Niemals kann man einem Text, ob wissenschaftlich oder belletristisch, einen tieferen Sinn abgewinnen, ohne gleichzeitig die Arbeit, die sich jemand gemacht hat, all dies zu verfassen, zu würdigen. In dem Würdigen, dem Anerkennen treten wir mit der Schreibperson in eine Gedanken-Verbindung. Dies ist die natürliche Form etwas Erhaltenes in Gedanken und Worten zurück zu erstatten. Im Grunde ist es ein Ritual, mit dem wir die Einheit von Geben und Nehmen bezeugen. Dieses Ritual kennen wir in unserer Gesellschaft nicht mehr, denn wir haben es kollektiv vergessen. Überspitzt formuliert inhalieren wir gierig Informationen mit derselben Selbstverständlichkeit wie ein Kettenraucher den Qualm seiner Zigarette.

Aus der gleichen Selbstverständlichkeit üben wir Kritik. Immer dann, wenn wir uns anschicken, Kritik zu üben, sollten wir innehalten und fragen, ob unsere Kritik dem gesamten Anliegen gerecht wird. Und uns ehrlich die Frage vorlegen: Würde ich es im Gesamten besser machen? Etwas in Teilen besser zu machen ist immer leicht, aber im Gesamten viel weniger. In der Kritik stürzt man sich leicht auf ein Detail und stülpt es über das Ganze. Kann ein Kritiker je liebevoll zu sich selbst sein? Ja, wenn er sich in seinen eigenen Schwächen angenommen hat. Doch dann wird aus jeder Kritik ein Verbesserungsvorschlag, eine Ergänzung, die aber niemals das Ganze des Vorgelegten herabsetzt. Viele Kritiker merken nicht, wie sie in der Kritik auf sich selbst einschlagen und das Gelesene als Projektionsfläche, als Spiegel ihrer eigenen Unzulänglichkeiten, ihrer unterdrückten Gefühle, ihrer überhöhten Forderungen an sich verwenden. Kritik steht immer in der Gefahr, Wissen bildlich zu ersticken, das heißt, dem im Wissen enthaltenden Geistigen die Luft zum Atmen zu nehmen. Die Entsprechung von Atmen und Geist ist viel größer als es scheint. Und so fühlt sich geistloses Wissen an, es ist eine Ansammlung von Worthülsen. Der Geist ist das, was eine Person von ihrem Innersten und zugleich von ihrem Besten hineinlegt und nur dort, wo dies geschieht, ist Wissen wahrhaft geistvoll. Würde man aber dies zum Grundsatz erheben, würde es viel weniger zu lesen geben. So aber gibt es viel zu lesen und eben viel Oberflächliches.

Lebendiges Wissen steht in einer innigen Verbindung zur Kreativität, zum Neuen, Offenen, Unverständlichen. Jedes Erkennen besteht in der Überführung in etwas Ähnliches; zeigt sich bei einem Wiederfinden von etwas relativ Bekanntem. Wenn das Neue absolut unbekannt ist, gelingt das Erkennen nicht. Wenn es dagegen völlig bekannt ist, interessiert es nicht. Wissen erweitert sich, indem man immer tiefer in Ähnlichkeitsbeziehungen eintritt. Wissen endet im Identischwerden. Der größte Wert von Wissen besteht für uns darin, dass wir etwas nicht oder noch nicht verstehen. Oder auch im Wissen, das uns aufregt, das uns anrührt, denn hier gibt es viel zu lernen. Hier zeigt sich eine Wissensschwelle. Der Höhepunkt im Verstehensprozess ist der Aha-Effekt, der mit der Auflösung eines ungeklärten Zusammenhanges einhergeht. Dies ist der beste Zeitpunkt Wissen mit anderen zu teilen, hier enthält Wissen bildlich gesprochen noch die meisten Vitamine. Bestätigtes Wissen verliert zunehmend an Bedeutung, es erstarrt, kristallisiert. Nur Wissen, dass im Umlauf gehalten wird, kann lebendig bleiben. Daher ist das Teilen von Wissen so wichtig, alleine, um es überhaupt am Leben zu erhalten.

Bei der Aufnahme von Wissen gibt es so etwas wie einen Wächter im Hintergrund, das eigene Selbstbild. Dieser Wächter springt an, sobald man sich mit dem, was man liest oder aufnimmt, identifiziert. Allgemein gilt: Wir nehmen Dinge auf, die unser Selbstbild bestätigen, es bestärken und wir lehnen das ab, was ihm widerspricht und es zu schwächen droht. Man kann den Wächter vergleichen mit dem Immunsystem im Körper. Das Selbstbild schützt das psychische Immunsystem. Und so wie es beim körperlichen Immunsystem Einschränkungen geben kann, z.B. Allergien, gibt es sie auch auf der Ebene des Psychischen. Es sind dies Empfindlichkeiten, Reizthemen, Tabuthemen. Das Selbstbild hat eine stabilisierende Funktion und doch schränkt es das Lernen wesentlich ein. Es tötet Wissen ab, das Veränderung, Besserung bringen könnte. Mit anderen Worten: Dort wo Wissen uns am meisten nutzen würde, wo es die größte Wirkung entfalten könnte, genau dort wird es abgewiesen, zurückgedrängt, getötet. Dieser Sachverhalt gilt individuell wie kollektiv und in diesem Sinne lässt sich sagen: Wir sind zur Aufnahme mancher Wahrheit noch nicht bereit.

Das macht auch den Wert von Krisen aus

Je stärker wir uns – wiederum individuell wie kollektiv – mit dem Selbstbild identifizieren, umso mehr schränken wir das Lernen und die Entwicklung ein. Den Lehren der zeitlosen Weisheit zufolge ist das auf das eigene Ich bezogene Selbstbild ein Energie regulierendes System im Dienst eines Höheren, der vollbewussten Seele. Wenn dem Selbstbild ein Eigenwert zuerkannt wird, und das ist gesellschaftlich heute der Normalfall, dann bildet es eine Grenze: Das Höhere kann sich nicht in Niedrigeren zeigen. Der Schlüssel dazu, den einengenden Fesseln des eigenen Selbstbildes zu entkommen, sind einmal mehr Ehrlichkeit im Denken, Aufrichtigkeit im Sein und Gelassenheit im Umgang mit allem.

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir insgesamt aus dem, was über die Jahrtausende an wundervollen Werken und einer Fülle an Informationen zusammengetragen wurde, eher wenig für unsere Entwicklung herausziehen, sei es individuell wie kollektiv. Uns fehlt es an Verdauungsenzymen und an der richtigen Regulierung, um mit dem Wissen effektiver und nutzvoller umzugehen. Die Umwandlung der im Wissen enthaltenen Nährstoffe in die eigene geistige Entfaltung ist noch erschwert. Zu viel von dem, was wir über Augen und Ohren an Wissen aufnehmen, muss unverdaut, oder halb durchgekaut wieder ausgeschieden werden. Was wären diese Verdauungsenzyme und worin bestünde die richtige Regulierung? Sie bestünde in der Haltung, Wissen nur insofern aufzunehmen, als man bereit ist, die daraus gezogenen Erkenntnisse mit Anderen zu teilen. So dass derjenige, der Wissen aufnimmt, zum Wissensgeber für Andere wird. Und sich vornimmt, nur das weiter zu geben, was ihn oder sie bereichert hat.

Würden wir diesem Grundsatz folgen, müssten wir auf jegliches Geschwätz und tötende Kritik verzichten und unsere Kommunikation auf Wesentliches konzentrieren. Wir müssten uns in unserer Informationsaufnahme entschleunigen und eher wenig und intensiv aufnehmen, als extensiv und oberflächlich. Und wie bei der Nahrung müssten wir unsere Gewohnheiten umstellen, viel wählerischer, viel anspruchsvoller werden.

Vor allem müssten wir den Fängen der Berieselung entkommen, wie sie tagaus, tagein von den Massenmedien angeboten wird. Die Berieselung lebt von der Vorstellung des Neuen, der abwechslungsreichen Verpackung, der Kurzweiligkeit und dem geringen Anspruch. Sie entspricht dem vermischten Bedürfnis nach Ruhe und Anregung. Berieselung strukturiert inzwischen den Alltag von vielen Individuen, Familien und Paaren. Der Medienkonsum wirkt gleichermaßen sättigend und sedierend, er vertreibt Langeweile. Die Beliebtheit eines Portals, einer Sendung, die Klicks und die Einschaltquote bei Werbekunden, macht zugleich deren Marktwert aus. Dementsprechend werden auch keine Inhalte oder Sendungen verkauft, sondern „Augen“, gemessen je tausend. Berieselung beraubt Menschen ihrer inneren Tatkraft, beraubt ihren Willen zur Gestaltung, zum Wagnis. Wo Berieselung zum Dauerzustand wird, verkümmert die Seele, verliert der Mensch an Spannkraft und Lebendigkeit. Die Berieselung gleicht einem Zustand zwischen Leben und Sterben. Das Leben dient dann nur noch der Aufrechterhaltung des Lebens, der Gewohnheit, das innere Feuer jedoch ist erloschen. In diesem Zustand fällt es auch nicht mehr auf, ob Wissen lebendig oder tot ist.

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Für belebende Zugänge, die Wissen integrieren und in Weisheit überführen, eignen sich solche, die in der Entwicklung des Individuums erworben werden. Beispiele dafür sind: Einfühlung, Spiel, Ritual, Symbolverstehen, Naturanalogien. Bergen diese Zugänge vielleicht das Potential, uns einfacher und sicherer zu Erkenntnissen zu führen als viele der hochtechnisierten Instrumente und systematischen Analyseverfahren? Dieser Frage geht ein weiterer Auszug aus dem Buch „Dare to Share/Wage zu teilen“ (von Thomas Weis und Thorsten Wiesmann) nach, der demnächst unter dem Titel „Wissen integrieren und Wesenserkenntnisse ermöglichen“ auf The Intelligence zu lesen sein wird.

Ein erster Auszug aus dem Buch findet sich unter folgendem Link: Die soziale Logik der Kreaktivität – Pussy Riot und deren Vorläufer in der Kunstgeschichte

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