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Paul Auster: Das Mögliche erfahren

auster paulIn seinen gerade auch auf deutsch erschienenen Roman „Sunset Park“ (2010), in dem der Niedergang Amerikas sich in lauter Portraits privater Verzweiflung spiegelt, fragt Paul Auster wieder danach, inwiefern wir wirklich Herr unseres eigenen Schicksals sind. Es ist eine Frage, die diesen Autor schon stets ruhelos voranzutreiben schien. Diesmal wird der Kontrollverlust von jungen Menschen über ihr eigenes Leben zum Spiegel für eine ganze Gesellschaft. Junge Menschen, die als Gruppe dabei sind eine mögliche Gegenwelt zu der des Konsums zu erforschen, werden von der Staatsmacht gnadenlos gestört. So ergibt sich für uns eine scharfe Beobachtung des aktuellen Amerika. Diese Menschen beginnen zu begreifen, dass sie sich außerhalb der kulturell bereits vorgegebenen Wege völlig neu entdecken müssen, wollen sie gemeinsam eine Zukunft haben. Wohlmöglich können wir uns klarer werden über das, was gerade auch mit uns kollektiv geschieht, wenn wir einmal einen Blick auf das gesamte Werk dieses amerikanischen Autors werfen, welches er im Laufe der letzten 30 Jahre geschaffen hat.

Liest man Auster, kann einem schlagartig gewahr werden, wie die einzelnen Wandlungen im Leben voller versteckter Anspielungen sind. Dass sich im Grunde alles, gegen die vordergründigen Erwartungen, jederzeit unter den eigenen Händen unbemerkt umdichtet, so als würde man ein Musikstück durch die Spielweise eines bislang unbekannten Interpreten völlig neu entdecken und feststellen, inwiefern man bisher nur dachte, es zu lieben, doch die Liebe ist natürlich viel geheimnisvoller und einfacher als man bisher zu ahnen sich traute.

Zu leben, dass bedeutet nichts anderes als Begegnungen – geteilt durch Geschichten.

Bei Auster geht es ganz in diesem Sinne im Grunde immer um die Frage, ob man die kohärente Geschichte, für die man sich entscheidet, als die einzig gültige bereit ist anzuerkennen. Tut man dies, reduziert man andere Menschen zwangsläufig auf allegorische Figuren. So geschieht es etwa dem Erzähler Peter Aaron in Austers Roman „Leviathan“ (1992) mit der Konzept-Künstlerin Maria, die für ihn zu einer Figur wird, die für ungebremste Freude am Risiko steht.

Was Austers Fiktion am Laufen hält, ist stets sein Sinn für die Tatsache, dass oft eine einzige begrenzende Interpretation einer Erfahrung ausreichen kann, ganze Lebensläufe zu verändern. Dadurch wird uns als Lesern deutlich, wieso es keine Kleinigkeiten gibt. Unsere Wahrnehmungen bestimmen, wer wir sind. Wir sehen eigentlich nicht mit den Augen allein, sondern mit dem Licht, welches wir fähig sind aus unserem Herzen heraus – durch unsere Augen – in die Welt zu projizieren.

Auster liebt es nicht nur die Dialektik zwischen Schein und Sein (die zwischen männlichem Kontrollwahn und weiblicher Neugier) durchzuspielen, sondern er offenbart uns gleichzeitig, wie wir dieser Dialektik entkommen können. Er zeigt uns, inwiefern Kunst allgemein dazu beitragen kann, uns dem Wechselspiel aus Fiktion und Wirklichkeit bewusst zu werden. Denn wie oft weisen wir zwanghaft anderen Menschen bestimmte Rollen in unseren Vorstellungen zu, die gar nicht der Wirklichkeit entsprechen und erzeugen so eben Fiktionen, rätselhafte Figuren eines angeblichen Zufalls? Wir können uns diesem zerstörerischen Spiel des Zufalls und der Fiktion nur entziehen, wenn wir, wie etwa die Heldin Maria Turner in Leviathan, uns selbst gegenüber ehrlich sind. Uns spielerisch unseren Wandlungen zwischen der Erfindung der Wahrheit und der Wahrheit der Erfindung stellen. Nur auf diesem Weg vermögen wir die Dialektik zu überwinden, die seit Jahrhunderten die Büchse der Pandora offen hält.

Auster ist es in dem Maße möglich diese Dialektik in seinem Werk aufzudecken, in dem er sich im realen Leben auf die Arbeit der französischen Konzept-Künstlerin Sophie Calle eingelassen hat. Insofern ist sein Werk ein Crossmapping zwischen weiblicher Performance-Kunst und männlichem Kunstschaffen.

Menschen, die man trifft, werden für einen zu Spiegeln. Diesen Spiegelraum aus anderen Menschen und Kunstwerken (Fotos, Gedichten, Filmen, etc.) erforscht Paul Auster als Erzähler. Dabei zeigt er inwiefern das, was wir oft Zufall nennen, nichts anderes ist, als ein gewisses sich Überschneiden dieser Spiegelräume. Doch damit nicht genug: Alles ist nur Teil unserer Vorstellungen von den Dingen, und diese unsere Vorstellungen erzeugen die Illusion, in der wir leben und die wir für die Wirklichkeit halten. Was der wahre Horror ist, lässt sich oft nicht einmal aus den Gedanken des scheinbar Wahnsinnigen ablesen, der in dem Roman „The Music of Change“ (1990) die Handlung zu gestalten scheint. 

Einem Auster-Leser kann deutlich werden, inwiefern die Vorstellung, die man vom eigenen Leben (und von dem Leben anderer) meint zu besitzen, zwangsläufig sich ergibt aus den Wechselbeziehungen von Kunst und Leben, aus der Art wie wir das, was wir erleben, in einzelne Geschichten zerlegen, da wir schließlich alle nichts anderes sind als die Autoren unseres Ich. So können wir schon in seiner „New York Trilogy“ (1987) darüber lesen, wie unmöglich es für einen Menschen ist, wirklich etwas zu wissen über die Charaktere in einem Buch.

Aber Auster wäre nicht der Autor, für den er sich selbst wohl hält, würde er nicht jederzeit bereit sein. diese Täuschungen der Selbstwahrnehmung als Motoren all der Labyrinthe offen zu legen, in die uns die Geschichten hineinziehen, denen jeder von uns unbewusst oder bewusst in seinem Leben Wirklichkeit gibt. Das Geheimnis des Gebens von Wirklichkeit steckt für uns zumeist verborgen in oft nur nicht genügend entschlüsselten Symbolen. In Austers Roman „Moon Palace“ (1989) findet der Held heraus jeweils nur derjenige zu sein, der Wörtern je nach gewissen Umständen einen bestimmten Sinn zu geben vermag.

Den Blick der Anderen wirklich zu erleben kann den eigenen Blick auf sich verändern. Darum geht es unter anderem auch in Austers Roman „Invisible“ (2009). Einem Text, der wie ein Dialog aufgebaut ist zwischen einem Autor und verschiedenen möglichen Leser. Wobei diese Leser praktischerweise gleich selbst als Hauptpersonen und Nebenpersonen in der Handlung auftauchen und diese auch jederzeit beeinflussen zu können scheinen. Die Handlung in diesem Roman, die im Jahre 1967 ansetzt, und in wenigen scharfen Strichen die damalige Bewusstseinssituation in den USA zeichnet, beschreibt die Bewältigung von Traumata durch den Akt des Erzählens. Die Spannung entsteht dabei daraus, dass wir als Leser scheinbar beobachten können, wie eine bestimmte Haltung des Erzählers sich in den von ihm durch das Erzählen evozierten Ereignissen reflektiert. So zieht ein vages Interesse für ein Thema eine jeweilige Situation erst an, in der dieses Interesse weitergehend hinterfragt werden kann.

Da haben wir sie, die Auster-Geste: Die Diskretion des Erzählers macht ihn beinahe unsichtbar (in der Tradition funktionaler Erzählkunst, die dabei ist sich von allem Sentimentalen zu befreien, man denke etwa an Hawthorne, Poe und Henry James). Trotzdem fühlt sich seine Prosa mehr intim an, als distanziert, obwohl sie dies eigentlich vom Wesen her ist.

Auster lässt uns oft eine tiefe menschliche Verzweiflung spüren, aber gleichzeitig strahlen die Erzähl-Stimmen, derer er sich bedient, eine menschliche Wärme aus, die diese Verzweiflung in das rechte Licht zu rücken vermag. Einen Roman von Auster zu lesen kann gleichermaßen eine zutiefst emotionale Erfahrung sein, wie auch ein Ausflug in eine Welt getragen von äußerster Diskretion, Zurückhaltung, ja Kälte. Einer gewissermaßen exquisiten Kälte. Der Leser hat bei dieser abstrakten Kälte oft gar das Gefühl, die Handlung erzähle sich irgendwie von selbst. Als würde der Erzähler sich gar nicht einmischen können in das von ihm Beschriebene. So als sei er zuweilen identisch mit dem Erzählten. Als wäre er Teil des Geheimnisses, welches weiß, was eine jeweilige Geschichte überhaupt ausmacht. Denn ist nicht jede mögliche Geschichte verbunden mit dem Geheimnis eines einzelnen Individuums?

In dem Roman Invisible können wir erfahren, wie der Held – ein im Jahre 1967 zwanzigjähriger Literaturstudent, der im Laufe seines Lebens einen Roman mit dem Titel „1967“ schreibt, und der ein mögliches Double von Auster selbst ist, da es bestimmte offensichtliche Überschneidungen der Biografien gibt – in dem Maße in einen Strudel traumatischer Ereignisse hineingezogen wird, in dem er in sich selbst, durch seine Art die Dinge um sich herum und in sich zu erleben, diesen Ereignissen auch die Türen öffnet. 20 Jahre alt sein, recht haben, sehen statt lesen. Seine offensichtlich naive Art ist für ihn potentiell genauso Chance wie Gefahr, denn er findet sich unvermittelt wieder inmitten von drei unterschiedlichen Frauentypen, die alle gleichermaßen ihren Einfluss auf ihn auszuüben beginnen. So tritt hier die bestimmende Dimension der inneren Erfahrung hervor, jenseits davon psychologisches Rätsel zu sein, denn so, wie wir wahrnehmen, so sind wir. Wenn der tiefere Sinn der Literatur darin besteht, den Zusammenhang zwischen subjektiven Wahrnehmen und erfahrener Wirklichkeit offen zu legen – diesen Zusammenhang, der aufzeigt, inwiefern unsere feinsten Reaktionen auf das, was uns begegnet, den weiteren Verlauf unserer Begegnungen entscheidend mitbestimmen, dann führt sie uns kollektiv auch ins Licht.

Die Strategie von Auster Geschichten innerhalb von Geschichten zu situieren, ist vor allem ein Spiel mit dissoziierten Charakteren. Besonders deutlich tritt dies in seinen Romanen „Oracle Night“ (2004) und „The Book of Illusions“ (2002) zutage, wo das Gebiet der literarischen Verschiebung immer wieder erneut betreten wird und sich so Erfahrungen mit Fiktionen in ständig neuen Variationen miteinander mischen. Diese Art des kontrollierten Verfolgens der kreativen Gespenster lässt uns erfahren, wie wir als Leser vom Autor mitgedacht werden. Und führt uns zu der Frage: Wollen wir als Leser tatsächlich auf die Dauer so von einem Autor überhaupt mitgedacht werden? Oder anders gefragt: Wie befreien wir unser Selbstbild von der Meinung die andere über uns haben? Wollen wir nicht alle insgeheim nur inneren Spaltungen entkommen, indem wir in der Kunst nach der Harmonie suchen, die uns das Leben noch verwehrt? Brauchen wir Fiktionen als Behausungen, um uns vor der Wirklichkeit zu schützen, die immer zu weit geht? Fiktionen sind falsche Behausungen, die uns nur scheinbar vor der Wirklichkeit schützen. Wir sind beständig dabei, unser Leben zu entwerfen und es uns so anzueignen. Und dabei fordert uns die Wirklichkeit immer mehr heraus, je direkter wir uns ihr stellen.

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