Oft wird der Begriff „Gesellschaft“ mit Gemeinschaft gleichgesetzt. Der markanteste Unterschied zeigt sich wohl in der gegebenen Situation: Anstatt gemeinsam auf etwas hinzuarbeiten, stehen Menschen in Wettbewerb zueinander. Auch bei der Jobsuche handelt es sich um einen Konkurrenzkampf. Wobei dem Einzelnen dabei keineswegs vorzuwerfen ist, dass er sich von egoistischen Motiven treiben ließe. In einer Gemeinschaft wäre dies zwar eine Schande, in der Gesellschaft steht der persönliche Vorteil aber nicht nur im Vordergrund, er wurde zur Bedingung des wirtschaftlichen Überlebens. Trotzdem, wäre die Zahl der Menschen größer, die sich weigerten, ihre Mitmenschen als Konkurrenten zu betrachten, stünde der Schaffung einer neuen Gemeinschaft nicht viel im Wege.
Menschen, die ausschließlich mit dem Leben in der Großstadt vertraut sind, wo der Einzelne in der Masse anonymer Wesen verschwindet, fehlt es leider oft an den angenehmen Erfahrungen, die gemeinschaftliches Leben mit sich bringen.
Natürlich bilden sich innerhalb einer Gesellschaft auch immer wieder einzelne Gemeinschaften, deren Mitglieder durch bestimmte Interessen, gemeinsame Projekte, Familienbande oder einfach räumliche Bedingungen verbunden sind. Dabei zeichnen sich die Erfahrungen, die innerhalb solcher Gruppen entstehen, durch weitgestreute Unterschiedlichkeit, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne, aus. Bemühe ich mich nun, eine Verbesserung der Allgemeinsituation durch gemeinschaftliches Denken zu beleuchten, wie ist es erklärbar, dass in vielen der angeführten Verbindungen keineswegs Harmonie vorherrscht? Mitglieder verschiedener Vereinigungen wissen wohl ein Lied davon singen, wie oft sich Projekte immer wieder in endlosen Diskussionen verlieren, weil die Bereitschaft zur Gemeinsamkeit scheinbar nicht mehr gegeben ist. Liegt ausgeprägter Egoismus tatsächlich in der Natur des Menschen?
Ich glaube wir können davon ausgehen, dass jeder Mensch bei seiner Geburt über ein Spektrum von Anlagen verfügt, das praktisch alle Möglichkeiten einschließt. Er ist sowohl dazu fähig, selbstlos zu handeln, als auch seinem eigenen Vorteil Vorrang einzuräumen. Er ist fähig, Menschen, die in Not sind, zu helfen, gleichzeitig aber auch, aus der Misslage Anderer Profit zu schlagen. Erziehung, persönliche Erfahrungen und insbesondere die gegebenen Voraussetzungen in der jeweiligen Gesellschaft zählen zu den wichtigsten Faktoren, die auf die Entwicklung dieser Anlagen ihren Einfluss nehmen.
Stellen wir uns kurz das Idealbild einer wirklichen Gemeinschaft vor, ein Dorf, in dem einige hundert Menschen zusammenleben. Das soll natürlich keineswegs bedeuten, dass in allen Dorfgemeinschaften überwiegend Harmonie herrscht, doch, wie erwähnt, wir behandeln den Idealfall. Und letztendlich geht es darum, herauszufiltrieren, woran Harmonie, die in überschaubaren Gruppen grundsätzlich vorherrschen sollte, so oft scheitert.
Zu den Grundelementen gemeinschaftlichen Zusammenlebens zählt, dass von jedem Einzelnen zwar erwartet wird, dass er seinen Beitrag leistet, er im Gegensatz aber auch jederzeit auf Unterstützung durch seine Mitmenschen zählen kann. In der Gemeinschaft bedarf es keiner Gesetze, die ins tägliche Handeln eingreifen. Zwar ließe es sich abwertend als „sozialer Druck“ bezeichnen, doch entscheidet die Einstellung der Mehrzahl der Mitglieder darüber, wie weit sich der Bogen der Individualität spannen darf. Wer übertreibt, zur Anpassung nicht fähig ist, mag durchaus unter Ausgrenzung leiden. In einer Diskussion könnte sich an diesem Punkt das ganze Thema bereits in Polemik verlieren. Konstruierte oder bekannte Beispiele lassen sich hernehmen, um gemeinschaftliches Zusammenleben zu entidealisieren.
Doch kommen wir zum Kern der Gemeinschaft zurück. Ungeachtet seinem sozialen Rang, von jedem Einzelnen wird erwartet, dass er dem Wohle der Gemeinschaft zumindest nicht schadet. Wohlstand soll nicht in Habgier ausarten und angebotene Hilfe nicht in Parasitentum. Wer sich entgegen dieser ungeschriebenen Regeln verhält, setzt besser seinen Fuß nicht mehr ins Dorfwirtshaus.
Wie würde die Gemeinschaft reagieren, wenn der einzige Wirt seine Monopolstellung ausnützt und seine Preise kräftig anhebt? Eine Mischung aus lauter Kritik und sinkenden Umsätzen wird ihn wohl rasch auf den Boden der Realität zurückbringen. Schließlich ist in diesem Fall der Verantwortliche zugegen. Würde die Gaststätte einem „internationalen Investor“ gehören, der aus weiter Ferne seine Order erteilt, richtet sich dessen Strategie ausschließlich nach Umsatz und Profit aus. Nachdem er mit den Gästen des Lokals nie zusammentrifft, kann ihm deren Meinung letztendlich auch restlos egal sein.
Wie würde es nun mit einem Mann aussehen, der in finanzielle Not geraten ist? Zweifellos wandern aus genau diesem Grund meist junge Menschen aus Dörfern ab, doch werden die Möglichkeiten des Teilens mit Sicherheit erst einmal ausgeschöpft. Nicht in dem Sinne, dass Geld gesammelt wird, um über Probleme hinweg zu helfen, sondern, dass Betätigungsbereiche gesucht werden. Der Bauer mag einen Knecht aufnehmen, obwohl er ihn gar nicht unbedingt braucht. Der Wirt mag einen Kellner anstellen oder der Tankstellenbesitzer einen Tankwart. Würde es die Dorfbewohner wirklich so sehr stören, wenn sie für den Liter Benzin um einen Cent mehr bezahlen und als Ausgleich doch wieder Service geboten wird? Noch dazu, wenn ihnen bewusst ist, dass sie einem Nachbarn damit aus der Patsche helfen?
Insbesondere in den Großstädten wurde während der vergangenen Jahrzehnte Service immer mehr abgebaut. Das Argument der Kosteneinsparung wiegt scheinbar wesentlich mehr als das der Arbeitsplatzbeschaffung. Und würde der Konsument bereit sein, für besseres Service zu bezahlen, würden diesbezügliche Verbesserungen wohl rasch um sich greifen.
Nicht bewusst ist dem Konsumenten dabei, dass der Abbau von Dienstleistungen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, dass Millionen von Deutschen von Unterstützungen abhängig sind. Das heißt, anstatt an der Tankstelle oder im Einkaufszentrum etwas mehr für besseren Service zu bezahlen, werden die Menschen, die einfach keine Arbeit finden, über den Umweg der Steuern und Hartz-IV von genau den Konsumenten unterstützt, die sich vehement weigern, den Extraeuro beim Tanken auszugeben.
Natürlich handelt es sich bei solchen Entwicklungen um einen der wesentlichen Unterschiede zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft. Was in der überschaubaren Gruppe offensichtlich ist, aufgrund der Vertrautheit mit der Situation Mitgefühl und Verständnis anregt, spiegelt sich in der großen Gesellschaft lediglich als Statistik wieder. Nachdem der Dorfbewohner vielleicht der fünfhundertste Teil der Gesamtheit ist, der Stadtbewohner hingegen der zweimillionste, schwindet damit gleichzeitig jedes Gefühl der Mitverantwortung.
Die Meinungsbildung im Dorf unterliegt einer gewissen Eigendynamik, zweifellos aber auch dem Einfluss durch anerkannte Persönlichkeiten. Dieser Einfluss, der von ausgewählten Personen gesteuert wird, ungeachtet ob in deren eigenem oder im Interesse der Allgemeinheit, gewinnt in der modernen Gesellschaft jedoch enorm an Bedeutung. Der Bürgermeister mag dem, was im Wirtshaus geredet wird, zuhören, bevor er sich selbst einer Rede widmet. Die Tonangeber in der Gesellschaft konsultieren eher Experten, die fachlich erläutern, was für die Menschen das Beste ist.
Sind die Mitglieder der Gemeinschaft nun wirklich hilflos dazu verdammt, ihr Leben jener Art von Zeitgeist anzupassen, der in erster Linie wirtschaftlichen, und nur in den seltensten Fällen, wenn überhaupt, menschlichen Interessen dient? Woran fehlt es, um im eigenen Land, in der eigenen Region, wieder zu einer Gemeinschaft zu werden; die gemeinschaftlichen Interessen zu respektieren, nämlich in Frieden und Harmonie ein Leben zu verbringen, das die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung einräumt?
Der erste Schritt wäre, dem verbreiteten Konkurrenzdenken ein Ende zu setzen. Es gibt zwar keinen Grund, warum ein Mensch, der es sich leisten kann, kein teueres Auto fahren soll, doch sind solche äußere Statussymbole wirklich notwendig, insbesondere innerhalb von Gesellschaftsschichten, denen die Anschaffung meist nicht einmal einfach fällt? Lassen wir uns nicht in zu vielen Belangen von außen her beeinflussen, berücksichtigen, was oder wie man über uns denken könnte? Ist es nicht offensichtlich, dass hinter diesem gesteuerten Informationsfluss, der uns zu begeisterten Konsumenten erzieht, ausschließlich wirtschaftliche Interessen stecken?
Wird der Wert eines Menschen vielleicht eines Tages nicht mehr mit seinem Vermögen in Zusammenhang gebracht, dann mag sich auch erkennen lassen, dass wirtschaftlicher Erfolg nicht unbedingt auf menschlichen Qualitäten beruht – und Misserfolg nicht auf Dummheit oder einem Mangel an Initiative. Initiative, die welchem Zweck dient? Seine Mitmenschen im Wettkampf ums Überleben zu schlagen?
Ändert sich die Einstellung der Bürger, dann bleibt auch deren Vertretern, den Politikern, nichts anderes übrig als sich auf diese Veränderungen einzustellen. Wenn endlich eines Tages mehr Menschen fordern, dass die Wirtschaft, der Geldfluss, die Erzeugung von Waren und ganz besonders die Regierungen dem Bürger zu dienen haben und nicht umgekehrt, dann bleibt der elitären Minderheit nichts anderes übrig als sich der Entwicklung anzupassen.
Eigentlich wäre alles ganz einfach. Voraussetzung ist bloß, den Mitmenschen auch als solchen zu respektieren. Die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu rücken, anstatt sich einem anonymen Inseldasein mitten in der Großstadt zu verschreiben. Und wenn wir genau darüber nachdenken, es gibt viel mehr, was uns verbindet, als es den Meisten überhaupt bewusst ist. Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal einen Menschen treffen.