Freitag , 19 April 2024
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Occupy-Bewegung: Für ein neues Weltbild als Grundlage von Politik und Wirtschaft

occupy_frankfurt_ezbVorgestern brachte der Deutschlandfunk eine einstündige Reportage zur Occupy-Bewegung und es hat mich sehr beeindruckt, wie eine Gruppe junger Teilnehmer des Camps auf dem Frankfurter Börsengelände dem Versuch des Reporters widerstand, sie zu abwertenden Äußerungen über „die Banker“ zu provozieren. Sie seien gegen die bestehenden Strukturen aber sie wollten niemanden persönlich verunglimpfen, sie seien gewillt, mit jedem, auch mit den Repräsentanten dieser Strukturen, zu reden, so der standhaft beibehaltene Tenor ihrer Aussagen. Wenn sich diese Haltung in der neuen Protestbewegung durchsetzt, dann wäre das tatsächlich ein Heraustreten aus dem bestehenden System der Spaltung in gute und schlechte Menschen, die bislang alle Versuche der Veränderung und des Erhalts bestehender Verhältnisse prägt.

Es wird immer wieder kritisiert, dass die Occupy-Bewegung keine politischen und wirtschaftlichen Alternativen aufzeige und diese wehrt sich, indem sie entgegnet, dass sie sich in ihrem Protest nicht unter Leistungsdruck setzen lasse und sich von keiner bestehenden Richtung vereinnahmen lassen wolle. Diese Szene spiegelt die allgemeine Ratlosigkeit sowohl aufseiten der Bewegung, wie auch auf der ihrer Kritiker wieder und es ist die besondere Tugend der Aktivisten, dass sie diesbezüglich ehrlich sind. Ich denke, dass es tatsächlich nicht mehr um das Aufzeigen von politischen und wirtschaftlichen Alternativen gehen kann, weil diese die bestehenden Strukturen nicht grundsätzlich infrage stellen. Ich glaube, dass das Unwohlsein, dass derzeit viele Menschen verspüren, nicht mit dem Versagen von Politik und Wirtschaft zu tun hat, sondern mit dem Weltbild, das diesem Versagen zugrunde liegt.

In diesem Weltbild sind wir isolierte Wesen, isolierte Staaten, isolierte „Währungsunionen“ ohne tieferen Sinn, die zwar in fataler Abhängigkeit voneinander stehen aber letztlich doch Konkurrenten sind und gegeneinander kämpfen müssen, um nicht vom anderen gefressen oder entwertet und ausgestoßen zu werden. Und die richtige Politik und die richtige Wirtschaft sollen das verhindern. Sie sollen dafür sorgen, dass wir genügend haben (Geld, Güter, Arbeit, Bevölkerung, Wachstum, umweltfreundliche Energie und Mobilität), damit wir den Konkurrenzkampf in einer feindlichen Umwelt bestehen können und uns nicht wert- und sinnlos fühlen. Es ist dieses Weltbild, dass die gegenwärtigen Krisen hervorruft, die Ausbeutung der Erde, die Zerstörung der Umwelt, die Hungerkatastrophen und die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Reich und Arm.

Langsam wird deutlich, dass sämtliche bestehenden politischen und wirtschaftlichen Systeme für die derzeitige krisenhafte Entwicklung keine Lösungen haben. Es gibt weder in linken noch in rechten noch in mittleren „Lagern“ wirkungsvolle Konzepte gegen die globale Krise. (Vor Kurzem ging die Meldung durch die Medien, dass das Ausmaß des Anstiegs des globalen CO2-Ausstosses trotz der weltweiten Bemühungen um Reduktion selbst die pessimistischsten Prognostiker überrascht habe.) Und auch die Rezepte der bestehenden Umweltbewegung haben letztlich fatale Auswirkungen, wenn etwa die Forderung nach erneuerbaren Energien dazu führt, dass die Industrie solche tatsächlich herstellt und dadurch über die Abholzung von Urwäldern und die Umnutzung landwirtschaftlicher Flächen die Umweltprobleme noch vergrößert, und wenn mit diesen Energien ein die Erde ausbeutendes Wachstum vorangetrieben wird, um die allseits beschworene „Konkurrenzfähigkeit“ zu erhalten.

Auch wenn ich mich in diesem Blog wiederhole: Ich hoffe, dass es der neuen globalen Bewegung gelingt, für etwas einzutreten, nämlich für ein neues Weltbild als Grundlage unseres politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Handelns:

– für ein Weltbild, in dem die Güter der Erde für alle reichen
– für ein wahrhaft ökologisches Weltbild, in dem Lebewesen und Dinge nicht isoliert voneinander existieren, sondern alles mit allem zusammenhängt
– für ein Weltbild, in dem klar ist, dass ich das, was ich dem anderen zufüge, mir selbst zufüge
– für ein Weltbild, in dem die Würde aller Lebewesen als gegeben gilt
– für ein Weltbild, in dem Wachstum vor allem als geistiges Wachstum gesehen wird
– für ein Weltbild, in dem die Erkenntnisse der Physik über das Raum-Zeit-Kontinuum und über die Äquivalenz und die Unzerstörbarkeit von Energie und Materie in unsere Lebenspraxis einfließen und uns die Angst vor dem Tod nehmen, und in dem es deshalb Sinn macht, sich so zu verhalten, als würden wir ewig leben, statt zu glauben, dass nach uns ruhig die Sintflut kommen kann.
– für ein Weltbild, in dem klar ist, dass wir Leben nicht machen können, sondern nur als Wunder verstehen können
– für ein Weltbild, in dem alles einen Sinn hat, auch wenn wir ihn nur annäherungsweise erkennen können, und in dem es deshalb nichts Wertloses gibt.

Albert Einstein schrieb 1932: „Das Schönste und Tiefste, was der Mensch erleben kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen. Es liegt der Religion sowie allem tieferen Streben in Kunst und Wissenschaft zugrunde. Wer dies nicht erlebt hat, erscheint mir, wenn nicht wie ein Toter, so doch wie ein Blinder. Zu empfinden, dass hinter dem Erlebbaren ein für unseren Geist Unerreichbares verborgen sei, dessen Schönheit und Erhabenheit uns nur mittelbar und in schwachem Widerschein erreicht, das ist Religiosität. In diesem Sinne bin ich religiös. Es ist mir genug, diese Geheimnisse staunend zu ahnen und zu versuchen, von der erhabenen Struktur des Seienden in Demut ein mattes Abbild geistig zu erfassen.“

Wir brauchen ein Weltbild, in dem dieses „Gefühl des Geheimnisvollen“ den Platz einnimmt, den derzeit der Glaube an die Sinnlosigkeit unseres Lebens innehat – mit all seinen fatalen Folgen.

 

Dieser Beitrag ist urprünglich auf http://manfrededinger.wordpress.com erschienen.

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