Sympathisch, fesch und angepasst – „Er wird niemals nehmen können, was uns wichtig ist: Toleranz gegenüber Andersdenkenden“. Die Attentate in Oslo und Utoya lassen Wirklichkeit werden, was viele von uns verdrängen: die Radikalität in den eigenen Reihen. Ein nach außen hin adretter Mensch, mit Fotos im Internet, die einer Datenbank für Schauspieler entspringen könnten, wurde zum Massenmörder. Und die Öffentlichkeit reagiert darauf, indem Sie diesem jungen Mann einen Angriff auf die Demokratie in den Mund legt. Schließlich explodierte die Autobombe in Oslo vor dem Regierungsgebäude und die Jugendlichen nahmen an einem Ferienlager der sozialistischen Partei teil. Dem Täter selbst wird ein rechtsradikales, fundamentalistisches Gedankengut bescheinigt.
Schon zu Beginn der Meldungen über das Bombenattentat im Zentrum Oslos ging man von islamisch-fundamentalistischem Täterhintergrund aus. Dann folgte eine neue Wahrheit: Der Attentäter gehört keiner Gruppierung an, ist selbst Norweger und Rechtsextremist. Die Welt scheint sich auf ein Täterprofil seit dem 11. September 2001 geeinigt zu haben: Attentate verüben nur muslimische Fundamentalisten. Anders Bering Breivik hat dieses Täterprofil gehörig ins Wanken gebracht. Er ist einer von ihnen, der sich optisch äußerst sympathisch präsentiert und mit seinen Aktivitäten wohl auch gut ins Umfeld passt. Jagen, Gewaltspiele – die im übrigen von der US-amerikanischen Armee zu Übungszwecken benützt werden – mit einem Anflug an Intellektualität. Nur Intellektuelle schreiben ein 1.500-seitiges Manifest, oder ist das nur die Tat eines Verrückten?
Die Suche nach den Gründen zu dieser Wahnsinnstat verschweigt dezent die Systemfrage. Man ordnet den Täter einem Milieu zu, von dem sich die regierende Mehrheit (noch) deutlich distanziert. Der Rechtsruck in den europäischen Staaten hat aber seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise deutlich zugenommen. Rechtsextremistische Inhalte haben sich im vergangenen Jahr auf Youtube, Twitter, Facebook usw. sogar verdoppelt. Darf man angesichts dieser Begleiterscheinung einer in wirtschaftliche Unsicherheit geratenen Welt die Systemfrage stellen? Die Antwort lautet: Man muss sie stellen. Man muss fragen, welches System (auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer Ebene) solche Attentäter hervorbringt, die ihre Mission darin sehen, gegen das bestehende System zu kämpfen! [Zur Erinnerung, der RAF-Terrorismus war auch gegen das bestehende (kapitalistische) System gerichtet.]
Die Friedensforschung definiert Frieden als „Abwesenheit von struktureller Gewalt“. Wird eine solche ausgeübt, können die Menschen in einer Gesellschaft ihre Talente nicht mehr leben und müssen ihren Alltag auf vorgegebene Strukturen lebensentscheidend anpassen. Die Dominanz eines Wirtschaftsmonopols beispielsweise ist eine solche strukturelle Gewalt oder auch eine politisch radikale Meinungsbildung. Ein System, das von der Mehrheit akzeptiert wird, kann also Gewalt ausüben. Dem steht aber das individuelle Bedürfnis nach dem „Wer bin ich“ gegenüber. Der Mensch versteht sich nicht als globales, den ausschließlich wirtschaftlichen Prämissen ausgeliefertes Wesen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir errichten uns ideologisch definierte Lebensumfelder, Vorstellungen von Welt und dem Sein und werden diese nach außen hin auch zur Schau stellen. Je größer die Welt wird (Globalisierung) umso stärker wird die Sehnsucht nach überschaubaren Definitionseinheiten. Deshalb müssen wir die Frage stellen, welche Ideologien und Lebensumfelder die westliche Welt erschafft. Eine Welt, so nebenbei gesagt, die mit War-Games ihre Armeen trainiert, ein klar definiertes Bild von Terrorismus propagiert und Andersdenkende zunehmend ausgrenzt, die Meere mit Plastikmüll verseucht und Konzernen wie Monsanto erlaubt, das Saatgut ganzer Staaten zu kontrollieren. Man denke dabei an die Radikalisierung in rechten und linken Reihen Europas, an die Tea-Party in den USA, an Revolutionsberater wie die serbische Canvas mit weltweiten Kunden und generell an rücksichtslose wirtschaftskapitalistische Interessen.
Das Weltbild, welches wir gelernt haben, bestimmt unser Handeln. Es entsteht durch überlieferte Glaubenssätze und die Anwesenheit oder Abwesenheit von Ethik. Das Weltbild wirkt dabei wie ein Lobbyist, der beispielsweise Geisteswissenschaften als wirtschaftlich wertlos verdammt und MINT-Fächer (Mathematik, IT, Naturwissenschaften, Technik) propagiert; weil nur diese das dringend benötigte Wirtschaftswachstum gewährleisten können – angeblich. Dass dabei die Frage nach dem Menschsein, der Ethik einer Gesellschaft, Toleranz, Respekt, Liebe, Mitgefühl auf der Strecke bleibt, blendet dieser Lobbyist dezent aus. Der Grund: Derartige Fragen passen nicht in sein Weltbild.
Philosophische Schriften und Weissagungen der Hindu und Hopi bezeugen der gegenwärtigen Zeit einen Umbruch von weltweiter Bedeutung (Kali-Yuga – Das dunkle Zeitalter). Die Unvernunft der Herrscher dieser Welt zeigt sich am Festhalten eines Wirtschaftssystems, welches von Geisteswissenschaftlern als moderne Form des Kolonialismus einer Wirtschaftsdiktatur bezeichnet wird. Steuern werden von Wirtschaftskritikern als überflüssig erachtet, weil sie das Abhängigkeiten schaffende Geldsystem am Leben erhalten. Man wendet sich von geistigem Wissen ab und ermöglicht beispielsweise den Absolventen geisteswissenschaftlicher Studienrichtungen exakt 0,02% freie Stellen (in Österreich) – es gibt also keine Arbeit für Menschen mit geistigem Wissen (siehe die oben beschriebene MINT-Problematik). Einer von sieben Menschen hungert auf dieser Welt und diesen Hunger nimmt man zum Anlass, wirtschaftliche Entwicklung in solchen Ländern des Hungers bzw. die Gentechnik voranzutreiben. Der Wutbürger richtet seinen Zorn gegen die Regierungen (aktuell Norwegen, im Frühjahr die arabischen Länder, vergangenes Jahr Stuttgart21 und die Demos in Athen). Eine Wirtschaftsethik fehlt unserer Gesellschaft völlig und wird zunehmend von Protestlern eingefordert. Der norwegische Attentäter ist auf seine Tat stolz, ebenso wie die Attentäter vom 11. September. Tugendhaftes geht in den Unternehmen und im zwischenmenschlichen Umgang verloren – derjenige ist Sieger, der den Konkurrenten im Beruf auszuschalten vermag. Alkohol ist ein „Nahrungsmittel“ geworden (man denke an die Art der Vermarktung von Wein und Bier) und die Rate an Tablettensüchtigen erreicht bereits die 50-Prozentmarke; Kokain ist die Designerdroge der Reichen, Mächtigen und Schönen. Die USA sind der größte Pornoproduzent weltweit – eine Leitwährung der anderen Art. Spirituell lebende Menschen und Vorbilder werden ins Lächerliche gezogen, außer, man wittert darin ein Geschäft für den spirituellen Tourismus, dem auf der ITB, der größten internationalen Tourismusmesse in Berlin seit 2008 enorme Wachstumszahlen prognostiziert werden. Die sozialen Schichten lösen sich auf und unterliegen ebenfalls einer Globalisierung. So beginnt man der Illusion nachzulaufen, jederzeit reich, schön, sexy und erfolgreich werden zu können, gepusht von einer Erfolgstrainerindustrie, die Gehirnwäsche vermarktet. Dieses Trugbild wird von Medien verbreitet, die wiederum dafür sorgen, die stereotypen Feindbilder eines solchen Systems in die Wohnzimmer zu transportieren und damit den kollektiven Boden zum Rufmord Andersdenkender zu bereiten.
Am Ende der Ereignisse von Oslo steht die Forderung nach einer menschlichen Gesellschaft der Liebe. Denn auch Mitgefühl, Toleranz, Liebe, Anerkennung, Respekt sind Wesenszüge des Menschen. Es liegt also an unserem Weltbild, welches wir konsequent tagtäglich hervorbringen und was wir daraus erschaffen. Es liegt an uns, ob wir uns für die Kunst, die Menschlichkeit und Toleranz entscheiden, oder den Ausgrenzungen (jede Partei, jedes auf Sieg und Dominanz strebende System) Platz machen. Wir müssen zuerst wissen, woher wir kommen, um zu erkennen, wohin wir zu gehen imstande sind. Wer die Schatten des eigenen Handelns nicht anzusehen vermag, wird sein Heil in der Flucht sehen. Einer Flucht, die Identitäten, Ideologien, Feindbilder, Abgrenzungen, eine Gewinnergesellschaft, Konkurrenzdenken, Neid, Gier und Hass erzeugt.
Wer liebt und tolerant ist bedarf keiner Abgrenzung. Wer respektvoll lebt, dem ist Konkurrenzdenken fremd. Wer mitfühlt, dem ist es unmöglich, anderen Leid zuzufügen und der wird sich um das Wohlergehen des anderen kümmern. Wer die Leistungen anderer anerkennt, dem ist es ethisch unmöglich, das Handeln anderer zu verniedlichen und schlecht zu machen. Wir müssen uns angesichts des Attentats in Norwegen die Frage stellen, ob wir als Hervorbringer einer Neid- und Konkurrenzgesellschaft, als Kreatoren von Krieg und Hass aus ideologischen Gründen nicht die Mitschuld an solchen Attentaten tragen. Denn wer jetzt die Schuld in einer Ideologie oder einem bestimmten Gedankengut sucht, der vergisst, das System infrage zu stellen, welches gerade eine solche Haltung hervorbringt.