Donnerstag , 18 April 2024
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Eine Reise ins Herz von Occupy

shaking hands skyIn Frankfurt angekommen sehen wir uns mit Sascha und Thomas zunächst einmal das sich im Bau befindliche neue Hochhaus der EZB an, das momentan schon eine stolze Höhe von 175 Metern aufweisen kann. Es befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Großmarkthalle, eine der größten Backsteinziegelhallen, die jemals gebaut wurden. Im Moment steht am Main vor dieser Konstruktion ein Aufbau eines Sommertheaterfestivals. Eine weitere Art Camp im Sinne der Geschenkkultur.

Thomas war eigentlich einst ein professioneller Unternehmer gewesen, der ein Restaurant betrieb, in dem man nur frischen Tropenfisch bestellen konnte, bevor er zu Occupy stieß. Sascha wiederum sagt mir, er war erst Student der Biologie, dann Buchhändler. Nun aber entdeckt er sich seit einiger Zeit, seinem Herzen folgend, als Fotograf und Moderator von Radio 99 Prozent und auch als Teil von etwas, für das es eigentlich noch keine wirklich treffende Beschreibung gibt. Über Monate so wie er an einem sozialen Experiment teilzunehmen mitten im öffentlichen Raum, und dabei jederzeit mit allen inneren und äußeren Konflikten einer Gesellschaft gleichzeitig konfrontiert zu sein, was macht das mit einem?

Thomas sprüht im Gespräch nur so vor lebendigem Wissen, welches sich komplex in alle möglichen Gebiete verzweigt. Seltene Bücher und Expeditionen in unerschlossene Gebiete, so sagt er, haben ihn schon immer fasziniert. Nachdrucke von Hobbes‘ „Leviathan“, Band 3 und 4, suche er seit Jahren. In diesen quasi nicht aufzutreibenden Büchern könne man, wie er Charles Eisenstein und mir bei unserer Fahrt vom Bahnhof zum Camp erklärt, möglicherweise die Lösung dafür finden, wieso eine bestimmte Ausrichtung der Politik von Seiten des Klerus unser soziales Zusammenleben bis heute nachhaltig negativ beeinflusst. Hobbes hält in diesen selten gelesenen Bänden dem offenbarungsbasierten Dogmenglauben die Fehlbarkeit der Überlieferung vor.

Im Camp angekommen treffen wir auf Jan. Er trat aus Protest gegen die angekündigte Campräumung bereits vor etlichen Tagen in den Hungerstreik. Der 38-Jährige wirkt bei unserem Gespräch fast schwebend. Wo ich ihn darauf anspreche, weist er mich mit etwas heiserer Stimme darauf hin, dass er viele Stunden am Tag meditierend verbringe.

Sascha, der seit dem ersten Tag des Camps hier in Frankfurt dabei ist und den ich zuvor auch schon öfters in Berlin bei der Occupy Biennale getroffen habe, erzählt Geschichten über die Unterstützung, die sie hier alle aus der Bürgerschaft erfahren. Da gibt es zum Beispiel diese 87-jährige Oma, die täglich vorbeikommt und dafür sorgt, dass alle immer genug Kuchen zu essen haben. Sascha scheint mir emotional extrem stabil zu sein, wohl auch, weil er bereits Überlebenstraining durchgeführt hat in allen Teilen der Welt, als eine Art Urlaub von allem nur möglichen Urlaub.

Mit Sascha und mir sitzen später in einem Mövenpick Cafe am Mainufer, während ich mir Notizen für diesen Text hier mache, Geschäftsleute aus Dänemark und Holland, die mit uns darüber diskutieren, wie wir gemeinsam dazu übergehen könnten, dem sprichwörtlichen einen Prozent eine Win-Win Situation anzubieten. Jonkel, der Holländer, erwähnt in diesem Zusammenhang die Emotional Body Language, eine von der Kognitionsforschung und Neurobiologie entdeckte symbolische Sprache, die aus seiner Sicht nun wie prädestiniert dafür sei, eine neue Kultur jenseits der Trennung mit vorzubereiten. Diese neue Sprache könnte einfach und schnell Lehrern beigebracht werden, die sich dafür als geeignet erweisen. Von dort aus könne sich diese Sprache dann auf Schüler, Eltern und schließlich auf unsere gesamte Art des Zusammenlebens positiv auswirken. Zunächst geht es darum, erst einmal zu erkennen, auf welche Art die unbewusst durch die Körpersprache beständig mit ausgedrückten Gefühle ansteckend wirken.

Ergibt dies alles nun ein Bild davon, wie es um die Occupy-Bewegung in Deutschland während der momentan zu beobachtenden fortschreitenden Entdemokratisierung steht, bei der, wie Kalle Lasn sagt, „überall junge Leute auf der Welt ihre Zukunft in die Hand nehmen, weil sie wissen, dass sie sonst keine haben“?

Ein strahlender Tag Ende Juli, der unvermeidlich sich fortsetzende Beginn des endlich ausgebrochenen Sommers. Seit circa 100 Stunden versuchen einige von Occupy-München mit mir ein öffentliches Gespräch mit Margrit Kennedy, Charles Eisenstein und Christian Felber vorzubereiten. Margrit und Charles sollen zuvor noch bei einem Kongress nächstes Wochenende in München an einem anderen Ort sprechen und wir haben vor, anschließend noch etwas zusammen durch Deutschland zu reisen. Mit den Leuten von Occupy-München geht es gewisser Maßen darum, einen Rhythmus zu bekommen, um bei weiteren Aktionen noch spontaner und effektiver handeln zu können. Im Kontext der fortschreitenden globalen Wirtschaftskrise kommen wir einfach durch den Druck der Umstände zusammen, wie momentan weltweit unzählige andere Menschen auch, um über den Austausch in sozialen Netzwerken Widerstand zu organisieren und uns gegen die zunehmende Verschlechterung unserer Lebensbedingungen zu wehren. Aber über einen solchen Widerstand hinaus fordern wir mit Aktionen auch alle Anderen dazu auf, sich selbst und ihre Gesellschaft in jedweder Richtung so zu erneuern, dass wir nun friedlich in eine geeinte und nachhaltig globale Gesellschaft übergehen können. Manche sprechen in diesem Zusammenhang auch von einem Übergang zur absichtsvollen Evolution auf unserer Erde. Denn bislang gestalteten wir Menschen ja noch nicht bewusst gemeinsam unsere Evolution, sondern mehr oder weniger blind nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. Wenn wir jetzt aber lernen, wirklich gemeinsam miteinander und mit der Evolution zu kooperieren, können wir in eine neue Phase einer intelligenten Evolution übergehen. Denn nichts Geringeres scheint nun notwendig als eben zunehmende Kooperation. Nur so können wir aus den gegebenen Umständen heraus die Sache auf diesem Planeten für uns alle noch zum Positiven wenden.

Die Gründe für die Protest-Camps und Arbeitsgemeinschaften, die aus solchem Austausch entstehen, haben sich seit Beginn dieser globalen Bewegung vor fast einem Jahr nicht verändert, sondern sind lediglich in den letzten Monaten wesentlich dramatischer geworden. Die Camps in Deutschland die noch verblieben sind, wie die in Frankfurt, Hamburg, Kiel, Münster, oder Düsseldorf, gelten inzwischen alle als von Räumung bedroht. Wie ich von Jonkel erfahre, haben Forscher an der NYU und Fordham University vor kurzen eine über acht Monate lang durchgeführte Studie veröffentlicht, die bestätigt, was Teilnehmer an friedlichen Protesten seit Anfang der Bewegung in den USA im Herbst 2011 immer wieder betont hatten: Mindestens in über 130 Fällen kam es zu Gewaltakten von Seiten der New Yorker Polizei gegenüber Demonstranten. Dabei wurden vor allem Schlagstöcke, Fahrzeuge, Pferde und Metallbarrikaden so eingesetzt, dass es zu rechtswidriger Gewalt und Einschüchterung gegen Occupy-Teilnehmern kam.

Das Camp in Frankfurt schrieb passend dazu in einer aktuellen Presseerklärung zur drohenden angekündigten Räumung:

„Auf der einen Seite zeigt sich eine tendenzielle Ignoranz der Politik, die soziale Verantwortung auf unserer Welt wahrzunehmen. Im Gegensatz zu dieser geben gewählte Volksvertreter rücksichtslos unzählige Milliarden u. a. für Bankenrettung und Rüstungswahnsinn aus. Damit wird die Zukunft unserer Nachkommen jetzt schon verpfändet, falls das gegenwärtige Finanzsystem nicht vorher implodiert.“

Was verbindet die unterschiedlichsten Menschen dieser so vielseitigen Bewegung miteinander? Was im Biennale Camp in Berlin, wo beständig Occupy-Unterstützer aus aller Welt auftauchten, als Übereinstimmung hervortrat, war vor allem eine dezidierte Kritik an sozialer Ungleichheit, an der Schuldengesellschaft und an der momentanen öffentlichen Repräsentation, die nur die Illusion einer Verbindung zwischen den Menschen und Völkern schafft. Dagegen steht die Forderung nach echter Demokratie, für die es gilt gemeinsame Formen der Zusammenarbeit zu erfinden, bei der wir nicht mehr als Verschuldete, Mediatisierte oder Repräsentierte subjektiviert sind, sondern so, dass wir in wirkliche Beziehungen miteinander treten können. Das Ziel wäre dann Gemeinsamkeit in gegenseitigem Vertrauen, statt Angst innerhalb von Mechanismen eines Sicherheitsregimes, welches nur damit beschäftigt ist, einen bestimmten status quo aufrecht zu erhaltenen, der eigentlich nur einem kleinen Prozentsatz der Weltbevölkerung in ihrer grenzenlosen ruinösen Gier zugutekommt.

Von Charles Eisenstein ist vor Jahren frei zugänglich im Netz ein großartiges Buch unter dem Titel „The Ascent of Humanity“ erschienen, welches seit einiger Zeit auch als „Die Renaissance der Menschheit“ auf Deutsch vorliegt. Die deutsche Version dieses Buches ist zustande gekommen, weil einige Universitätsprofessoren in Deutschland, wie zuvor auch schon in anderen Ländern, dieses Buch unentgeltlich übersetzt haben, und so das Geschenk des Buches weitergegeben haben. „Wenn wir schließlich feststellen werden, wie sinnlos all unsere Versuche sind, die Realität kontrollieren zu wollen, wenn wir merken werden, dass das künstlich aufrechterhaltene Selbstbild, durch das wir uns von der Natur getrennt fühlen, einfach eine Last geworden ist, die wir nicht länger schultern können, und wenn uns letztendlich bewusst wird, dass unser Reichtum uns in den Bankrott geführt hat, dann werden eine Millionen kleine Revolutionen zu einem planetaren Wandel zusammenfinden und zu einem schnellen Phasen-Wechsel hin in ein neues Seinsverständnis“, schreibt Charles in diesem Buch und führt unter anderem aus, dass eben eine größtmögliche Umwandlung unsere Lebensweise unvermeidlich ist und unmittelbar bevorsteht, weil die Überführung von allem in Geld längst seinen Zenit überschritten hat. Das Besondere an Charles‘ Ansatz ist dabei sein tiefer intuitiver Sinn für die Transformation, in der wir als Menschheit uns momentan befinden, einen Sinn, der ausgehend von einem neuen ungewöhnlichen Forschungsansatz in der Lage ist, interdisziplinäre Wissenschaft und direkte Erfahrung miteinander zu verbinden. Charles beschreibt den bevorstehenden fundamentalen Wandel in der Lebenseinstellung der Menschen, der sich seit 1970 bereits abzeichnet und 2030 abgeschlossen sein könnte, wo wir uns dann nicht mehr über Statussymbole oder allgemeine Lebensstandards definieren werden, sondern eher über völlig individuelle Ziele, die dann verbunden sind mit dem Streben nach echter Lebensqualität.

Das neue Buch von Charles heißt
„Sacred Economics“ (auf Deutsch ab Frühjahr 2013 erhältlich), welches kurz vor dem Ausbruch der Occupy-Bewegung in den USA erstmals erschien. In diesem Buch zeichnet er nicht nur in groben Zügen unser Geldsystem nach und zeigt auf, wie es unsere Zivilisation an den Abgrund gebracht hat, sondern er liefert auch den Schlüssel für eine neue Art des Zusammenlebens. Die Lösung sieht er darin, die Dinge aus dem Reich der Waren und Dienstleistungen zu holen und sie in das Reich der Gaben, der Gegenseitigkeit und der Gemeinschaftlichkeit zurückzubringen. Unsere momentane Art zu wirtschaften und unser Geldsystem trennt uns voneinander, so führt er dort aus. Sie trennt uns auch von der Gesamtheit des Lebens. Die Sonne gibt unentgeltlich Licht, Wärme, Farben, Wärme. Wieso empfinden die Ökonomen zumeist so einen Horror vor dem kostenlos Gegebenen? Alles hat seinen Preis, sagen sie. Aber das, nach dem wir wirklich verlangen, kann man das überhaupt jemals kaufen?

Charles zeigt eindrücklich auf, dass wir eigentlich aus einer Gabenkultur kommen und das Geld in seiner heutigen Verfassung unmenschlich und widernatürlich ist. Uns unserer Herkunft so bewusst zu werden, bedeutet nicht in archaische Modelle zurückzuverfallen, sondern uns der Gestaltbarkeit des Geldsystems erstmals kollektiv bewusst zu werden. Geld hat unsere natürlichen Beziehungen zueinander ersetzt. In einer Geschenkkultur dagegen ist Reichtum eine Frage davon, wie viel jemand gibt, nicht wie viel jemand besitzt. In dieser Richtung liegt irgendwo das bedingungslose Grundeinkommen, denn es würde den Menschen den Übergang in eine Gabenkultur erleichtern und gleichzeitig die Möglichkeiten geben, damit jeder das Beste aus sich heraus an den Tag bringen kann.

Ein Ökosystem ist ein Geschenkkreislauf. Wir können diesem Zirkel der Ökologie beitreten. Wir brauchen dann nicht mehr so viel konsumieren, weil wir andere Arten der Erfüllung erfahren, und haben dann viel mehr Zeit dafür, die Sachen zu machen, die wir wirklich machen wollen. Verträge sind ein Ersatz für den Druck der Gemeinschaft, der normalerweise in der Gesellschaft das Gleichgewicht des Geschenkkreislaufs aufrecht erhält. Die Hauptarena der Geschenkkreisläufe in Ländern, die noch nicht von westlichen Einflüssen überrollt wurden, ist die Kultur.

Charles erzählt mir, er sehe, starke Widerstandsbewegungen werden sehr entscheidend sein für den Übergang in eine Lebensweise, die nicht vom Geldsystem mehr beherrscht wird. Der Widerstand gegen Sparmaßnahmen des jetzigen Systems ist noch nicht überall so stark wie in Island, aber dieser wird sich überall in eine solche Richtung entwickeln. Die USA werden dabei auf kurz oder lang noch härter getroffen werden als Europa; die Schnur spannt sich nun immer schneller an, sie ist inzwischen schon so angespannt, dass sie durch jedes noch so kleine Ereignis nun zu reißen droht.

Die beste Art sich auf diesen globalen Zusammenbruch der momentanen Wirtschaftsordnung vorzubereiten, so führt Charles weiter aus, sei, sich auf die Welt der Geschenkwirtschaft einzustellen. Es würde inzwischen ja auch gar nicht mehr funktionieren, seine persönliche Sicherheit schützen zu wollen. Im Gegenteil, durch jedes Sicherheitsstreben verstärken wir bloß das alte Denken der Trennung auf illusionäre Weise noch etwas weiter. Gemeinschaft und finanzielle Unabhängigkeit sind Widersprüche. Die Idee, unabhängig sein zu wollen, kommt aus der Logik einer Weltsicht, wo alle deine Gegner sind. Unabhängigkeit ist aber nur eine Illusion. Dass wir durch Geld unabhängig sind, ist gerade jene Illusion, die jetzt auseinanderbricht. Das Zinssystem täuscht über unsere Einheit hinweg, weil es auf das Wachstum des getrennten Ichs abzielt, und zwar zulasten von etwas Externem. Die Notwendigkeit des Wachstums, die eingebaute Knappheit des modernen Geldes, das Phänomen des Zinses und der allgegenwärtige, fortwährende Wettbewerb in der modernen Wirtschaft sind alle miteinander verbunden. Wo immer das momentane Geldsystem angekommen ist, sind traditionelle, geschenkbasierte Wirtschaftsweisen zusammengebrochen, da der Wettbewerb das Teilen als Basis wirtschaftlichen Austauschs zu verdrängen begann.

An diesem Punkte stimmt er natürlich mit einer der deutschen Vordenkerinnen der Occupy-Bewegung überein, Margrit Kennedy, Autorin des Buches „Occupy Money“ und seit Jahrzehnten Forscherin nach einer nachhaltigen Wirtschaftsordnung und einem Geldsystem, welches uns von dem irrsinnigen Wachstumszwang und der organisierten Knappheit entkoppeln würde. Sie stellt vehement klar, dass es nicht zufällig ist, dass die Wirtschaftsexperten ihr Handeln hinter einer Fachsprache verstecken, die niemand verstehen kann, sonst würden die Leute ja zu 100% auf die Straße gehen, weil es dermaßen offensichtlich nachteilig für fast alle gestaltet ist.

Alternativen gäbe es noch und noch, sagt Margrit Kennedy. Etwa das seit 1995 etablierte japanische Pflegeticketmodell auszuweiten (ein Stundenwährungssystem, welches in verschiedener Form inzwischen schon überall auf der Welt existiert) oder mit Regionalwährungen zu experimentieren, oder auch Modelle dafür, Geld in Bewegung durch natürliche Entwertung zu halten, so dass sich Zinseszins und das Horten von Geld nicht mehr lohnen würden und es stattdessen beständig zu Reinvestitionen käme. Bargeldlose Verrechnungssysteme gibt es auch schon als Alternativmodelle, wie etwa das Global Exchange Trading System. Die Einführung eines Umlaufimpulses für Geld befreit bei diesem System von der Logik der Inflation. Einnahmen gehören dann allen. Der Zins wäre auf ein Prozent festgelegt. Wer Geld hortet, müsste dafür zahlen. Notenbanken geben dann Regionalwährungen wie etwa den Chiemgauer heraus. Es gibt inzwischen 25 Vorschläge, auch einen von einem hohen Vertreter der Deutschen Bank, so ein transparentes, gemeinschaftsförderndes System einzuführen, welches ein Gewinn für alle wäre, nicht nur für die „ein Prozent“, und welches auf Vielfalt und Verbindung basiert und nicht auf Rationalisierung. Es tut sich inzwischen was, das man vor zehn Jahren noch für absolut utopisch eingeschätzt hätte, so ist sie überzeugt.

Eine Nebenwirkung unsere Geld- und Finanzsystems: Die Schulden der einen sind immer die Guthaben der anderen. Vom Zinseszinseffekt profitieren dabei nur die mit Kapitalguthaben. Benachteiligt sind in einem solchen System all jene, die diese Zinsen erwirtschaften müssen. So werden die Reichen stets reicher, und immer größere Teile der Gesellschaft versinken tief in Schulden.

Margrit spricht auf einem Kongress in München davon, dass Sie vor vielen Jahren einst einen Traum hatte, in dem sie vor den Vereinten Nationen über ein neues Geldsystem spricht. Kurze Zeit später kam es dann auch so. Sie betont in dieser Rede, inzwischen gäbe es nur noch eine Lösung, und zwar eine Entschuldung der ganzen Welt. Das, was sie zur Zeit ihres UN-Traums vor 30 Jahren ein erstes mal begriffen hätte, war eben, dass es ein ernstes Missverständnis gibt, demzufolge Geld und Zins kontinuierlich wachsen könnten. Dagegen sei natürliches Wachstum alleine die Lösung. Also weg vom linearen oder exponentiellen Wachstum. Sie schlägt in diesem Zusammenhang vor, dass die Staaten ihre eigenen Banken gründen und zinslose Kredite vergeben. Ein zweites Missverständnis: Jeder wird in unserem jetzigen System gleich behandelt. Richtig ist, 80 Prozent der Menschen zahlen mehr als doppelt soviel an Zinsen, wie sie einnehmen. Zehn Prozent bekommen diese Zinsen als Einkommen, ohne dafür arbeiten zu müssen. Was nutzt uns also die Gleichheit vor dem Gesetz, wenn es in dem jetzigen System keine Gleichheit vor dem Geld gibt?

Sie schlägt als ersten Schritt hin zu einer Lösung dieses Dilemmas die Einführung von Komplementärwährungen auf verschiedenen Ebenen wirtschaftlichen Handels vor.

Neben Margrit und Charles treffe ich auch den Österreicher Christian Felber. Christian, der letztens mit David Graeber bei „Bloccupy-Frankfurt“ eine denkwürdige Diskussion führte, bei der einem klarwerden konnte, dass Graeber mit seinem Buch „Schulden, die ersten 5000 Jahre“ die Anthropologie der Ungerechtigkeit in der Gesellschaft mit durchschlagenden Wirkungen durchaus so fortzuschreiben in der Lage ist, wie sie von Rousseau vor mehr als 250 Jahren bereits einmal begonnen wurde. Denn mit dem Thema Schulden scheint Graeber den Kern des Prinzips der Ideologie gefunden zu haben, die uns alle gegen unsere besseren Absichten tatsächlich seit Zeiten in einem selbstzerstörerischen System beharren lässt, also den roten Faden, der die 99% miteinander verbindet. Denn Schuldner sind wir auf die ein oder andere Art nach der bestehenden Logik ja alle. Offiziell heißt es im Moment, ein Zusammenbruch des Euros würde zu drei bis vier Billionen zusätzlichen Schulden führen, aber die einzige angebotene Lösung der Politik, der Fiskalpakt, zwingt die Staaten eindeutig dazu, ihre Haushalte kaputt zu sparen. So die heikle immer auswegslosere Lage, solange man im Volk nicht bereit ist, die Systemfrage zu stellen.

Felber selbst stellt als Aktivist und mit seinen Büchern zur Gemeinwohlökonomie in Frage, wieso wirtschaftlicher Erfolg überhaupt mit Finanzgewinn gleichgesetzt werden muss. Denn dieser sagt doch eigentlich genauso wenig über Achtung der Menschenwürde, gesellschaftliche Verantwortung oder Steuerehrlichkeit aus wie das BIP über Glück. Wieso messen wir nicht die gesellschaftlichen Leistungen eines Unternehmens (ökologische Effizienz, Sinnstiftung, Arbeitsplatzqualität, faire Verteilung, Mitbestimmung) und bewerten danach seinen Erfolg? In einer humanen Gesellschaft darf nach Felber jedenfalls das Urteil, welche Leistung wie viel wert ist, nicht nur dem Markt überlassen werden.

Felber, Graeber und immer mehr Menschen weltweit entdecken so im Grunde nun das menschliche Potenzial des Teilens. Das Potential einer „baseline sociality” oder „human economy”. Schon Karl Polanyi sah ja in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, dass das Wirtschaftsleben der Menschen von unzähligen kleinen Handlungen bestimmt würde und dass die Rolle des Marktes dabei nicht übermächtig werden sollte innerhalb dieses natürlichen Gefüges des Füreinanderdaseins.

Mit solchen Ansätzen steht aber auch ein jetzt gerade weltweit immer mehr an die Oberflächliche tretender alles prägender Trend in Resonanz: „Peer to Peer“. P2P bezeichnet das auf allen Lebensgebieten nun gleichermaßen stattfindende Hervortreten einer Zivilisation, deren Hauptantriebsquelle nicht mehr das erwirtschafteten von Profit innerhalb zentralistischer Strukturen ist. Statt dem Profitstreben tritt die Freude an Kreativität und das Erlangen von Wissen und Weisheit als Motivationsquelle in den Vordergrund. Dies geschieht aufgrund der neuartigen sozialen Sphäre, die sich aus der zunehmenden Vernetzung zwischen Individuen und Gruppen ergibt, die vor allem durch das Internet vorangetrieben wird. Diese neuartige soziokulturelle Sphäre steht auch in Resonanz zu den in den letzten Jahrzehnten aufkommenden integralen Theorien und deren tiefreichenden Erkenntnissen über das Sein, die uns wieder an die Quellen des Wissens einer zeitlosen Weisheit heranführen. Eines Wissens, das fähig ist, die Phänomene der Wirklichkeit umfassender zu beschreiben als bisher, weil es in die Lage versetzt, nicht nur reduktionistisch sich jeweiligen Themen anzunähern.

Eine solche integrale oder holistische Herangehensweise zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass mit ihr nicht Symptome bekämpft werden, sondern Ursachen aufgedeckt und angegangen werden können.

Ein integraler Ansatz ist einer der erkannt hat, dass die nichtmaterialistischen Bedürfnisse nicht auf der Ebene von Besitz und Konsum befriedigt werden können.

Charles sagt bei seinem Eröffnungsvortrag bei dem Kongress in München, dass wir gerade durch eine kollektive Krise gehen, die wie ein Einweihungsritual funktioniert, welches den Übergang ermöglicht zum Erwachsenwerden der Menschheit. Wir können dann in den Stamm alles Lebenden zurückkehren: „Selbst die Elite dieser Welt glaubt nicht mehr an ihre eigene Propaganda. Die Kolonialisierung der Gedanken, so könnte man die Geschichte der Menschheit beschreiben. Diese Kolonialisierung gab uns eine bestimmte Lösung vor auf die Frage: wer bis du? Die Antwort darauf lautete bisher: Du bist ein abgetrenntes Wesen in einer Welt, die von dir getrennt ist. Was du bist, ist das Ergebnis deiner Gene die dich programmieren den maximalen Profit für dich zu erstreben. Diese Geschichte sagt im Grunde, du bist ein Fleischroboter. Aber diese Geschichte ist nun obsolet geworden, denn wir verstehen jetzt, dass wir nicht getrennte Wesen mehr sind. In der Welt der Trennung bedeutete mehr für dich weniger für mich. Die Logik des Verstandes ist die Logik der Trennung, weil unser Verstand uns bis jetzt in der Geschichte der Trennung festhielt. Wir gehen jetzt aber über in eine andere Logik und Geschichte, in der unsere Gefühle nicht mehr als irrational abgetan werden. Wir können jetzt diesen Übergang machen, aber dafür werden wir viele Wunder benötigen. Damit es zu diesen Wundern kommen kann, müssen wir aufhören, aus der alten Logik heraus zu agieren, denn jedes Handeln aus der Trennung erzeugt nur mehr Trennung. Aus der Logik der Verbindung heraus können wir aber diese Wunder leicht gemeinsam vollbringen.“

Mystica TV, der Veranstalter dieses Kongresses in München, auf dem Margrit und Charles zusammentreffen, ist eine Internetplattform, die dabei ist, eine neuartige Medienkultur zu entwickeln, die jenseits des gängigen Mainstreams Themen wagt aufzugreifen, die sonst nicht in den Fokus gerückt werden. Inzwischen expandiert dieses Format von einem reinen Onlineforum hin in den Bereich der Präsentation von Treffen, wo Menschen zusammenkommen, die sich umfassend mit neuen Ideen befassen, um diese auf vielfältige Art in die Gesellschaft einfließen lassen zu können. Zurzeit gibt es für Mystica TV noch einige Schwierigkeiten, die darauf zurückzuführen sind, dass der Bereich Mystik von anderen öffentlichen Strukturen als angeblich unseriös geradezu bekämpft wird. Wir haben es hier also zunächst noch mit einem Angebot zu tun, das angeblich nur eine bestimmte Gemeinschaft von Menschen ansprechen kann. Wohlmöglich zunächst einmal jene Menschen, die sich schon im eigenen Leben aktiv damit beschäftigen, den Wandel, der in unserer Zeit stattfindet, wirklich auch bewusst zu leben.

Das Motto dieses ersten Kongresses von Mystica TV heißt dementsprechend auch „Wandel des Einzelnen – Wandel in der Gesellschaft“. Mystica können wir also durchaus als ein Modellexperiment für eine mögliche neue Medienkultur beschreiben, die offen ist für den Wandel, diesen begrüßt, ihn umarmt und ihn nicht länger bekämpft. Entsprechend ausgerichtet wirken dann auch Veranstalter, Redner und Gäste: Man stärkt sich gegenseitig beim Loslassen des Alten und innerlichen Vorbereiten aufs Neue. Dieses Neue scheint das Große Unbekannte zu sein, welches niemand wagt, schon genauer zu beschreiben, aber alle tauschen das schon mal miteinander aus, was sie von diesem Neuen bereits erahnen können und welche Erkenntnisse sie daraus für ihr Leben ziehen.

Das Chiemgauer-Experiment, welches Margrit, ihr Mann Declan, Charles und ich, am Tag nach dem Kongress bei einem Besuch in Rosenheim kennenlernen, gilt als Modell für einen möglichen kleinen Neuanfang, nachdem der Crash unser jetziges System zu Fall gebracht hat. Declan, ein gebürtiger Ire, ist vor allem im Bereich der Permakultur ein Pionier. Er ist aber auch geistiger Heiler und kann endlos Geschichten erzählen mit wundersamen Erfahrungen von Treffen mit den unterschiedlichsten Menschen aus aller Welt. Die Kennedys sind, wie ich während unserer Bahnfahrt von München nach Frankfurt feststelle, in so gut wie allen Belangen in Bezug auf den sozialen Wandel bestens informiert. Sie scheinen ein grenzenloses Interesse zu haben für fortschrittliche alternative Methoden aus sämtlichen Lebenswissenschaften, die momentan auf diesem Planeten erforscht werden. So kann es einem zumindest zuweilen vorkommen, wenn man sich mit ihnen unterhält, denn sie haben sich mit einer schier unglaublichen Anzahl von anderen gesellschaftlichen Pionieren innerhalb der letzten Jahrzehnte ausgetauscht. Auf unserer gemeinsamen Reise entwickelt sich eine erstaunliche Synergie zwischen Charles und den Kennedys und es ist eine große Freude, das aus nächster Nähe miterleben zu dürfen.

Margrit kennt und unterstützt das Chiemgauer-Projekt seit vielen Jahren. So ein Modell, meint sie, könne tatsächlich nach einem unausweichlichen Crash gut als Übergangswährung funktionieren.

Etwa mit dreißig Menschen sitzen wir für drei Stunden in einem Kreis und es kommt zu einem Austausch mit Benutzern des Chiemgauers über deren Erfahrungen, seitdem dieser vor zehn Jahren gemeinsam von sieben jungen Frauen bei einem Waldorfschul-Projekt eingeführt wurde. Der Lehrer dieser Schülerinnen ist heute noch derjenige, der den Verein des Chiemgauer ehrenamtlich leitet. Der Chiemgauer ist eine Komplementärwährung, die vom Euro gedeckt ist und durch deren Umlauf regionale Produkte und Projekte unterstützt werden.

Ein weiteres Projekt, welches wir uns gemeinsam anschauen, ist das bereits am Anfang erwähnte Occupy-Camp in Frankfurt. Wir kommen dort am Mittag den 30. Juli an, genau einen Tag vor der drohenden Räumung. Margit kennt hier in Frankfurt Hajo, der dabei ist mit einer Initiative den gesamten deutschen Mittelstand dazu zu bringen, sich der Occupy-Bewegung anzuschließen. Die Veranstaltung der Abendvorträge in Frankfurt mit Margrit und Charles hatte eine von ihm gegründete Organisation übernommen, bestehend aus fünf Arbeitsgruppen mit dem Titel „Occupy Money“. Diese Organisation hat sich vor einiger Zeit spontan beim Erscheinen des letzten Buches von Margrit gebildet. So wächst die ganze Sache organisch aus den verschiedensten Richtungen immer mehr zusammen.

Während Charles am Abend in Frankfurt spricht, trifft sich der in dieselbe Stadt eingeflogene Timothy Geithner mit Mario Draghi. Wir wissen, worüber diese beiden miteinander diskutieren, flüstert mir Thomas zum Abschied von dieser Reise hier ins Ohr. Was wir nicht wissen ist bloß, welche Worte sie dabei benutzen.

Nachbemerkung: Das Camp der Occupy-Bewegung in Frankfurt am Main hat die im Artikel erwähnte für Dienstag angekündigte Räumung durch gerichtliches Vorgehen kurzfristig abwenden können. Das Occupy-Camp in Düsseldorf ist dagegen inzwischen nach 291 Tagen der Besetzung geräumt worden. An die 30 Aktivisten, die bis zuletzt regelmäßig in den Zelten lebten, wurden am Mittwoch früh von der Polizei vom Platz in der Innenstadt getragen. Ein völlig unproportionales riesiges Polizeiaufgebot hatte zuvor das Zeltlager umstellt und abgeschirmt.

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