Montag , 9 Dezember 2024
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Arbeitsmarkt, Konjunktur und Hartz IV – Ein Lügengespinst

jobs lupeIst es erstrebenswert, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein? Nun, mit den Bedingungen so mancher angebotener Stellen vergleichend, mag es Menschen geben, die Hartz IV als das geringere Übel einstufen. Um dieser Einstellung entgegenzuwirken, werden über Hartz-IV-Empfänger regelmäßig Strafsanktionen verhängt, 912.377 Mal im vergangenen Jahr. Wer im Rattenrennen nicht mithalten kann, muss leiden. Entweder unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen oder unter erniedrigender Behandlung. Nachdem das Volk aber bei Laune gehalten werden soll, finden sich gleichzeitig Sätze wie „Deutschlands Arbeitsmarkt steht glänzend da“ und sogar von einem „Jobwunder“ wird berichtet. Fürs nächste Jahr wird sogar ein Konjunkturaufschwung versprochen, ohne jedoch zu erläutern, wie dieser zustande kommen soll.

Berichte über die Wirtschafts-, Euro- und Schuldenkrise werden langsam ermüdend. Irgendwie geht es ja doch immer wieder weiter. Auf den Autobahnen bilden sich weiterhin Staus und Einkaufszentren sind mit Menschen ebenso gefüllt wie Fußballstadien. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung geht einer Erwerbstätigkeit nach. Und wer keinen Job findet, der wird ja wohl selbst Schuld tragen.

Die Arbeitslosenrate sei mit rund drei Millionen erfreulich niedrig. Ein Mangel an Facharbeitern zeichne sich sogar immer deutlicher ab. Auch wenn die Wirtschaft dieses Jahr noch schwächeln mag, ab 2013 soll es ja wieder bergauf gehen. Die Investoren müssen bloß wieder Vertrauen in uns gewinnen, auf dass sie neue Projekte ins Leben rufen, uns zinsgünstige Kredite zur Verfügung stellen. Die öffentlichen Schulden betragen doch nur unwesentlich mehr als lächerliche zwei Billionen Euro.

Wer denkt da schon an Millionen von Einzelschicksalen? Bei den statistisch erfassten Arbeitslosen handelt es sich um jene Menschen, denen noch die Leistungen der Arbeitslosenversicherung, für die sie regelmäßig bezahlt haben, zugutekommen. Doch es gibt einige Millionen, die auf Hartz IV angewiesen sind. Es gibt einige Millionen, die sich durch schlecht bezahlte Zeitarbeit über Wasser halten. Freiberufler, die Monat für Monat zittern, ob das Geld auch für die nächste Miete noch reichen wird. Menschen, die ihre Interessen, ihre Qualitäten und Fähigkeiten opfern, bloß um überhaupt irgendeinen Job zu haben. Die offiziellen Armutszahlen, die von rund zwölf Millionen berichten, sagen dabei ziemlich wenig aus. Die Menschwürde kommt dann zum Erliegen, wenn regelmäßig Anforderungen gestellt werden, mit denen sich der Betroffene einfach nicht identifizieren kann.

Von Hartz-IV-Empfängern wird erwartet, dass sie absolut jeden Job annehmen. Versteht es jemand und ist auch bereit dazu, das System strategisch zu nützen, dann kann er vielleicht mitspielen, die Zeitarbeit annehmen und einen raschen Rauswurf provozieren (wobei ich nicht wirklich weiß, ob dafür nicht auch Strafen verhängt werden können). Berichten zufolge, wurde jedenfalls im Vorjahr 912.377 Mal eine Reduktion der Zahlung um durchschnittlich € 115,99 verordnet. Dem Steuerzahler wurden somit € 105.826.608 „eingespart“. Denn wenn unsere Politiker über Jahrzehnte hinweg einer wirtschaftlichen Entwicklung zusehen, die zwangsweise Millionen ins Elend führt, dann werden am Ende diejenigen zur Kasse gebeten, denen es noch nicht ganz so schlecht geht. Die wahren Nutznießer des ungehemmten, internationalisierten Kapitalismus, der sich auf Englisch auch als „Corporatism“ (von Corporation/Konzern) bezeichnen lässt, zählen keineswegs zu den großen Steuerzahlern. Internationale Investoren müssen ja schließlich umworben werden, dass sie nicht abwandern.

Ein besonders augenfälliges Problem in den westlichen Industrienationen ist die Jugendarbeitslosigkeit, die von Welt-Online kürzlich als „Zeitbombe“ bezeichnet wurde. In Deutschland sei diese mit 8,5% zwar ausnehmend niedrig, im EU-Schnitt betrug sie im Vorjahr jedoch 21,4%, wobei Spanien mit 46,4% als Spitzenreiter aufscheint (Angaben: Statista.de). Während es älteren Menschen an entsprechender Leistungs- und Anpassungsfähigkeit fehlt, wirkt sich bei jungen Menschen der Mangel an Erfahrung bei der Jobsuche negativ aus. Und genau in diesen beiden Punkten zeigt sich das wahre Problem, das weder von unseren Politikern und schon gar nicht von den Drahtziehern im Wirtschaftsbereich berücksichtigt wird:

Unser bestehendes Wirtschaftssystem dient nämlich keineswegs in erster Linie dazu, die Menschen mit dem zu versorgen, was sie zum Leben brauchen. Menschen dienen der Wirtschaft, der Kapitalbildung und Wertschöpfung. Sie sind Teil des Weltvermögens und werden dementsprechend auch mit dem entwürdigenden Begriff „Humankapital“ betitelt.

Wir gehen von der völlig falschen Annahme aus, dass jeder Mensch, Mann und Frau, eine Vollzeitbeschäftigung braucht. Dass es sich beim Arbeitsplatz um eine Lebensgrundlage handelt. Dass das Arbeitspotential eines Volkes voll ausgeschöpft werden muss. Dies stellt nicht nur eine Unmöglichkeit und offensichtliche Sinnlosigkeit dar, letztendlich ist es eine unverzeihliche Entmenschlichung unseres Daseins.

Für die meiste Arbeit, die einst von Menschenhand erledigt wurde, stehen heute Maschinen zur Verfügung. Der Investoren erstes Interesse ist es natürlich, die Kapazität dieser Maschinen maximal, höchst gewinnbringend, auszulasten. Seit Jahrzehnten ist es kein Geheimnis, das Produkte bewusst mit begrenzter Lebensdauer erzeugt werden, um das Rad der Wirtschaft in Schwung zu halten. Modetorheiten wurden erschaffen, um im Volk den Wunsch nach regelmäßiger Erneuerung zu schüren. Endlos ließe sich über dieses Thema berichten, doch schon allein die massive Werbung, mit der wir bombardiert werden, verdeutlicht, wie gering der tatsächliche Bedarf eigentlich ist, ansonsten wir nicht ständig durch gezielte Manipulation zu mehr Konsum angeregt werden würden.

Und immer wieder taucht diese absurde Behauptung auf, dass all dies doch Arbeitsplätze schaffe. Der Mensch braucht ein Dach über dem Kopf und Kleidung, er braucht Essen und auch Unterhaltung. Und wenn es gelingt, all dies mit weniger Aufwand bereitzustellen, warum um Himmels willen soll dann jeder, Mann und Frau, wöchentlich 40 Stunden seiner Zeit opfern?

Unumstritten steht zu viel Arbeitskraft zur Verfügung. Doch, anstatt sich dem Fortschritt anzupassen, anstatt die Arbeitszeit des Einzelnen entsprechend zu reduzieren, wird Arbeitslosigkeit geschaffen, wodurch jede Forderung nach höheren Löhnen erstickt wird. Der Arbeitnehmer steht unter immer größerem Konkurrenzdruck. Immer mehr wird von ihm gefordert. Und wer in diesem Rattenrennen nicht mithalten kann, der wird ausgesondert, mit Hartz IV abgespeist, und dabei noch erniedrigt und schikaniert. Denn wäre es nicht so unangenehm, diese Leistungen in Anspruch zu nehmen, dann wären wohl weniger Menschen bereit, für ein paar Euro pro Stunde die unangenehmsten Arbeiten zu verrichten.

Doch diese Tatsache wird ignoriert. Welt-Online erklärt, dass der „Jobmotor Zeitarbeit nicht gefährdet“ werden dürfe, schreibt vom „Jobwunder“ und dass Deutschlands Arbeitsmarkt „glänzend“ dastehe.

Schließlich geht es in unserer Gesellschaft – ich betone: In unserer Gesellschaft – nicht darum, Menschen in Glück, Frieden und Harmonie leben zu lassen. Es geht darum, die Kapazität des Humankapitals auszuschöpfen. Sechs Millionen Deutsche – oder zumindest in Deutschland Lebende – erhalten Unterstützung, die überwiegend von den Menschen finanziert wird, die aufgrund dessen, weil es ein Überangebot an Arbeitskräften gibt, für geringeres Entgelt arbeiten, als es ihnen zustehen würde.

Wäre das Problem durch Auswanderung lösbar? In Kanada oder Australien mag schließlich noch etwas „Lebensraum“ verfügbar sein. Wäre es nicht empfehlenswert, den Betroffenen eine einmalige Abgeltung zu bezahlen, um neue Siedlungen in den kanadischen Wäldern errichten zu können?

Abgesehen von der mangelnden Bereitwilligkeit seitens Kanada, zwei Gründe sprechen dagegen. Erstens dient Arbeitslosigkeit natürlich dazu, Lohnforderungen niedrig zu halten. Zweitens bleiben die Empfänger von Hartz IV dem System immer noch als Konsumenten erhalten. Zwar belasten die rund 30 Milliarden Euro, die für Hartz-IV-Zahlungen aufgewendet werden, das öffentliche Budget, doch der Wirtschaft kommen sie wieder zugute. Und dabei handelt es sich um zwei verschiedene Instanzen. Und welche der beiden den Ton angibt, bedarf wohl keiner gesonderten Erwähnung.

Doch wie sieht die Mehrzahl der Bürger diese Situation? Empfinden sie Mitgefühl für den sechsten Teil der Bevölkerung, der unter der offiziellen Armutsgrenze lebt? Für Hartz-IV-Empfänger, denen beigebracht wird, aus Pappkarton Pyramiden zu basteln und sonstigen Unsinn, um ihren Arbeitswillen unter Beweis zu stellen? Ist diesen Menschen bewusst, wie viele Arbeitsplätze am seidenen Faden hängen, weil Zeitarbeiter billiger, wirtschaftlich vertretbarer sind? Oder blicken sie doch eher geringschätzig auf die untersten Schichten, denen es an Ausbildung, an Initiative und an Fleiß fehlen mag? Fühlen sich all zu sicher, dass ihnen selbst so etwas doch nie passieren könne?

Zwei und zwei ist vier und wird immer vier bleiben. Und wenn ein Kuchen, an dessen Herstellung einst zehn Leute gearbeitet haben, dank einer Maschine von nur einem Mann gebacken wird, dann bleibt der Kuchen gleich groß. Dann darf es doch keinen Grund geben, die übrigen neun Leute deswegen hungern zu lassen.

Sich vor jeder Arbeit zu drücken, um sich von anderen aushalten zu lassen, ist verwerflich. Doch wenn jemand 50 Bewerbungsschreiben ausschickt, 48 davon ignoriert und zwei negativ beantwortet werden, wenn er täglich die Stellenangebote studiert und einfach keinen Job findet, der für ihn passt – oder nicht genommen wird, weil sich hundert Andere um denselben Job bewerben, verdient dieser Mensch dann wirklich, verachtet und erniedrigt zu werden?

Die Lösung wäre so einfach, wäre eine größere Zahl von Menschen endlich bereit, die Situation zu begreifen. Gelänge es uns, diese Gesellschaft in eine Gemeinschaft umzuwandeln, in der nicht Individuen gegeneinander, sondern Mitglieder miteinander arbeiten. In der Bildung gegenüber Ausbildung Vorrang erhält. In der zwar jeder seinen Beitrag leistet, aber trotzdem über genügend Spielraum verfügt, um sich selbst zu verwirklichen. Ein neues Berufstraining über sich ergehen zu lassen, weil in diesem bestimmten Bereich gerade einige Stellen für Zeitarbeiter offen sind, ist mit Sicherheit nicht der Weg, das Potential eines denkenden Menschen zu nützen. Dies dient bestenfalls den „internationalen Investoren“, um das verfügbare Humankapital gewinnbringend einzusetzen.

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