Freitag , 29 März 2024
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Hamlet, das Geheimnis Shakespeares und das Selbstverständnis der west/östlichen Identität

booth_edward_hamletEs ist endlich an der Zeit, nicht länger Psychologie und Literaturwissenschaft (oder Theosophie bzw. Philosophie) alternativisch voneinander zu trennen. Wie schon Shakespeare vor Jahrhunderten sagte: Nichts ist gut oder schlecht, nur das Denken macht es so. Aus dieser Einsicht heraus war es ihm möglich, die tiefsinnigsten Dramen hervorzubringen, die wir kennen. Allem voran natürlich Hamlet, keine Tragödie bloß, sondern ein Stück welches erbarmungslos die Quelle unserer kollektiven Verstrickungen bloßlegt.

Das Erstaunlichste an Shakespeare ist, dass er sich immer von der Sprache bezaubern lässt. Sich von ihr treiben lässt und trotzdem geht die Handlung seiner Dramen ihren Lauf, scheinbar unabhängig von der Sprache. Die Personen sind also nicht ihr Schicksal. Die Personen treiben mit ihren Sprachspielen auf der Oberfläche der Handlung.

Wie es Harold Bloom einmal so gut herausarbeitete: Was die Figuren bei Shakespeare reden, hat oft gar nichts mit der Handlung zu tun. Das Wunder ist: Die Figuren sind so unabhängig von ihren Rollen, die sie spielen. Sie haben ein echtes Innenleben. Etwa wie die Mona Lisa ein Innenleben hat. Die Figuren leben in symbolischen Gedankenbildern bei Shakespeare, das ist ihr Geheimnis. Oft sind diese Gedankenbilder völlig irrational, aber sie beschreiben perfekt die tiefsten Züge der Figur. Die Figuren erzeugen also mit ihrer Sprache ihre ganz eigene Art von Realität. Sie treffen nicht in einem Drama aufeinander, sondern innerhalb ihrer Sprachbilder, die uns Shakespeare als Drama verkauft.

In Hamlet geht es eigentlich darum, jeden einzelnen Augenblick durch den Überschwang der Erkenntnis in den Bereich des Ewigen zu heben; to be free from choice. Where there are multiple choices, there are multiple confusions.

Der Stiefvater – Claudio – ist der Stiefvater des besseren Selbst von Hamlet. Derjenige Teil seines Vaterbildes, der ihm den Zugang zu seinem besseren Selbst versperrt. Nur wer direkten Zugang zu der inneren Reinheit (Buddhanatur) des Vaterbildes erlangt, kann sich auch selbst in einem solchen Licht beginnen zu sehen.

Taucht das Alchestis– und Ödipus Thema verfeinert zunächst in Elektra wieder auf, weist diese bereits auf Hamlet hin.

Identität von Treue gegenüber sich selbst und Schicksal, hierin liegt das große Geheimnis von Hamlet. Was manche hellsichtige Kommentatoren schon veranlasste zu fragen, ob Shakespeare nicht eigentlich vielleicht ein Buddhist war. So etwa James Howe in seinem Buch A Buddhist’s Shakespeare: Affirming Self-deconstructions (1994). Oder Mark Lamonica in seinem Whacking Buddha: The Mysterious world of Shakespeare and Buddhism (2005).

Polonius, der Hamlets wahre Intentionen ausspionieren lässt, steht symbolisch für Hamlets höheres Selbst,welches dieser aus versehen tötet, in dem Moment, wo er eigentlich sein niederes Selbst, symbolisiert durch Claudius, versucht zu überwinden. (1)

Wie Hugo von Hofmannsthal schon in Ad me ipsum bemerkte, ist das Entscheidende in Hamlet gar nicht die Tat, sondern die Treue gegenüber seinem höheren Selbst. Hamlet ist ein Charakter, der, schon bevor das Drama beginnt, in den Zustand der Introversion eingetreten ist. In diesem Zustand gerät jeder irgendwann an einen Punkt, an dem letzte moralische Fragen geklärt werden müssen, wo sich zwei Wege voneinander trennen.

In dieses Energiefeld der inneren Prüfung einmal eingetreten, wird der Mensch sich der eigentlichen Gefahr bewusst, in der er lebt. Es sieht, dass er sich nicht den geringsten Fehltritt mehr leisten kann, sonst stürzt er vom Felsen seines wahren Lebensweges. Daher Hamlets berühmtes Zögern. Hamlet – und mit ihm der Zuschauer – steht das ganze Drama über am Abgrund, er verwandelt sozusagen das Jenseits in Leben. Er versucht, endlich in den Zustand des inneren Gleichgewichts zu gelangen. 

Nach Ted Hughes, für den wahre Dichter die Funktion von Schamanen innerhalb ihrer Kultur einnehmen, und dessen Essay The Great Theme: Notes on Shakespeare (1970) und dessen Buch Shakespeare and the Goddess of Complete Being (1992), leitet sich Shakespeares ganzes Werk aus einer zentralen Fabel ab. Er nennt diese Fabel Shakespeares poetisches Kraftwerk. Diese Fabel ist ein grundlegender Prototyp, Shakespeares „Tragic Equation“. Die plot structure dieser Fabel  entnimmt Shakespeare, Hughes zufolge, der Spannung zwischen seinen beiden Langgedichten Venus and Adonis und  The Rape of Lucrece. Im einen versucht die Liebesgöttin Adonis zu vergewaltigen, einen streng puritanischen Jugendlichen. Im anderen vergewaltigt der besessene Tarquin – ein sakraler aber nicht rechtmäßiger König, der zur Macht durch Königsmord kam –  die streng puritanische Ehefrau Lukrezia. Diese Spannung entspricht der zwischen den beiden Grundmythen des Katholizismus und des Puritanismus der Reformation. Hughes zeigt auch auf, wie hinter allen männlichen Hauptrollen  (Troilus, Hamlet, Othello, Macbeth, Lear etc.) die Gottheit Adonis steht, und hinter allen weiblichen Hauptrollen (Cressida, Gertrude/Ophelia, Desdemona, Lady Macbeth, Cordelia etc.) die Gottheit Venus – oder, the Goddess of Complete Being. Indem er diese Fabel betrachtet, wird Hughes klar, inwiefern Shakespeare die Grundstruktur all unserer Gefühle herauskristallisierte, die DNA unserer Seele, und sie für seine Dramatik nutzbar machte. 

Als die Mutter des römischen Kaisers Konstantin der Große 326 nach Christus Jerusalem besuchte, waren alle Spuren des Christentums dort ausgelöscht worden und der Tempel auf dem Hügel Golgatha war der Göttin Venus gewidmet. Ein Mythos ist immer das Gegenstück zu einem anderen und in der Spannung, die so entsteht, entwickelt sich der Mensch als geistiges Wesen. Im ersten Langgedicht von Shakespeare wird dem Manne weibliche göttliche Liebe angeboten, die dieser noch nicht annehmen kann und zurückweisen muss. Im zweiten sehen wir die Konsequenz dieser Zurückweisung. Die von der Zurückweisung aufgebrachte Macht fährt als Besessenheit (in Form von Mars, Shiva, einem Eber etc.) in den Mann (Tarquin, Richard III, Hamlet, Angelo, Othello, Macbeth etc.). Und diese Männer werden dann, als Figur des Ausbruchs der zurückgewiesenen Naturgöttin, zum intensivsten Sprachrohr der Poesie von Shakespeare, der uns eben zeigt wie die Macht um uns herum, die uns beherrscht, von der Macht der Bestie gezeichnet ist und warum.

Shakespeares Fabel zeigt uns einerseits den beständigen Ruf zu einem poetischen, heiligen Leben und andererseits wie die Kultur, in der wir immer noch Leben – geprägt von den religiösen Kämpfen von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts – seine Seele verlor. (Siehe dazu etwa den Artikel: The medieval, unaccountable Corporation of London is ripe for protest.) Immer wieder, so zeigt uns Hughes, kombiniert Shakespeare diesen Mechanismus und lotet ihn Stück für Stück in all seinen Aspekten aus. So setzt Othellos Wahnsinn etwa genau dort an, wo wir ihn bei Hamlet nicht weiter studieren konnten. Hamlet konnte nicht beweisen, dass Ophelia eigentlich Lukretia ist. Was nur in seinem Kopf stattfand, wird für Othello in der Gestalt von Desdemona Wirklichkeit. Und was wir an Othello nicht mehr studieren können, wird uns dann eben anhand von Macbeth weiter vorgeführt, der völlig begreifen darf, was es für ihn bedeutet, gegen seinen Willen zu Tarquin zu werden. Dies geht dann weiter so bis zu König Lear, Timon und Coriolan und findet seine späte Auflösung erst in den letzten Stücken, den so genannten Romanzen Das Wintermärchen, Cymbeline und Der Sturm, in denen das göttliche Prinzip von Liebe, Wahrheit und Unschuld sich durch höhere konkrete Magie schließlich durchsetzen darf.                         

Das Christentum und seine Symbolik geht auf viele alte Kulturen zurück, denn es gibt neben einer Evolution der Formen auch eine der Religionen. Es sind 20 uns bekannte geopferte Weltenretter und einer davon ist Adonis, der Prototyp für einen gekreuzigten Gott. Andere bekannte Namen sind etwa Osiris, Dionysus oder halt Jesus Christus.   Venus/Lucrece  ist wiederum der Prototyp von Isis, Demeter und der Jungfrau Maria. All diese Geschichten über Weltenretter kommen zu uns aus der tiefsten Vergangenheit der Menschheit, in der die Menschen Götter und Dämonen in komplexe Symbole zu fassen verstanden, die bis heute unser Unterbewusstsein beherrschen. Ein Dichter als Schamane wie Shakespeare kann die Quelle dieses Unterbewusstseins direkt anzapfen und so sein großartiges Werk schaffen. Nur indem wir die Entwicklung solcher Symbole in Bezug setzen zur Entwicklung unserer Kultur, können wir nun dem Geheimnis Shakespears näher kommen. Und gleichzeitig dem Geheimnis unserer in den Kontext Welt-Zeit eingewobenen Gegenwart.  

Laut Hughes geschieht mit Hamlet etwas Entscheidendes im Gesamtwerk von Shakespeare, ein geistiger Umsturz: „Ganz plötzlich entdeckte er den Unterschied zwischen einem poetischen Drama und einem dramatischen Poem. Anstatt die Poesie auf die Erforschung des Dramas zu wenden, fand er heraus, wie er das Drama zur Erforschung seiner Poesie verwenden konnte – nämlich zur Erforschung seiner poetischen Fabel. (…) Mit anderen Worten, in Hamlet wird die Fabel zum Hauptthema. Und sie bleibt es in allen folgenden Stücken.“ Doch dieser Umsturz bereitete sich in über zwölf vorausgehenden Stücken bereits vor, bis hin zur Komödie Ende gut, alles gut (sic), in der es Shakespeare schließlich gelingt, Mythos, Plot und Drama ganz zu einer Einheit zu verschmelzen. Mass für Mass ist dann bereits der Durchbruch zur eigentlichen Hauptkonfrontation im Werk des Dichters. (2)

In der Welt wirkt alles auf jedes; alles ist beständig Bewegung und Veränderungen unterworfen, durch gewisse Gesetze geheimnisvoller Analogien. Dies sind die fließenden Kräfte der Natur, die Hamlet ins Gleichgewicht in sich zu bringen hat. Diese Kräfte werden gesteuert durch die Wirkungsweisen der psychologisch / kosmischen Grundgesetze der Evolution. Mit Lukrezia und Venus auf der einen Seite und Adonis und Tarquin auf der anderen umreißt Shakespeare bereits in seinen beiden Langgedichten seine vier energetischen Pole. Der besonnene Abel, der die Aktivitäten von Kain steuert. Stolze Männer, die durch die Liebe von Frauen inspiriert werden und so ihren Stolz aufgeben können. Hamlet ist innerhalb dieser Ordnung ein halb von Venus besessener Adonis.  Judith Hamilton hat dazu in ihrem Artikel, “SOMETHING IS ROTTEN…” in Hamlet’s Denmark, das psychotische Potenzial unterschiedlicher Charaktere innerhalb des Dramas erläutert. Sie geht dabei der wichtigen Erkenntnis nach, die sich einem eröffnen, wenn man Claudius als einen Psychopath sehnen lernt, unter dessen Einfluss Hamlet und der ganze Staat Dänemark geraten ist. (3)

Goethe schrieb, sehr gern habe er sich immer in solchen Wesen gespiegelt, die das besaßen, was ihm abging. Nirgendwo in der deutschen Literatur können wir das innere Gleichgewicht, zu dem ein Mensch finden kann, stärker erfahren als im zweiten Teil seiner Italienischen Reise. Hier ist Goethes Geist im Gleichgewicht zwischen Festigkeit und Weichheit, Begehrlichkeit und Keuschheit, dem Relativen und dem Absoluten. Hier treibt er seine Kunst – die Lebenskunst – aufs Höchste und versteht sie zugleich nach Außen und nach Innen zu wenden. Dies ist der systemische Gleichgewichtssinn. Wenn dieser im Einklang ist, kann Heilung und Liebe wirken.

In jedem Menschen ist ein grundlegendes Energeimuster vorhanden, als ein Muster des Gewissens, bestehend aus den Gegensätzen Schuld/Unschuld – Lust/Unlust etc. Es ist ein innerer wissender Sinn, der jeden Menschen an andere Menschen und Gruppen unwiderruflich bindet. Wenn wir diesen Sinn in uns ins Gleichgewicht gesetzt haben, können wir vollständig harmlos handeln. Und was versucht Hamlet so verzweifelt denn anderes? Dies gelingt nachhaltig aber erst, wenn wir vollständige Bewusstheit über die Erergiearten erlangt haben, die durch uns wirken und uns so auch an Gruppen und Menschen binden.

Das intuitive Studium dieser psychischen Energien entspricht dabei dem, was C.G. Jung die Integrierung oder Menschwerdung des Selbst nannte. Diese wird nach Jung von der Bewusstseinsebene her vorbereitet durch die Bewusstmachung egoistischer Absichten, das heißt man legt sich Rechenschaft ab über seine Motive und versucht, sich ein möglichst vollständiges, objektives Bild seines eigenen Wesens zu formen. Jung wiederum lernte die tiefere Bedeutung des Begriffes Selbst erst durch sein jahrzehntelanges Studium von Nietzsches Also sprach Zarathustra wirklich kennen und sah schließlich die Analogie mit der östlichen Idee von Atman.

Das Selbst heißt im östlichen Bereich Atman, was mich, bildhaft gesagt, durch-atmet. Die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens – die ja Hamlet so bewusst-unbewusst stellt an der Schwelle der westlichen Zivilisation hin zum modernen Subjekt – ist unmittelbar verbunden mit der Selbsterkenntnis, anhand der Wirkungsweisen der psychischen Energiefelder. Das Erwachen der inneren Stimme, die einem zum vollen Potential seines Lebens führt, ist mit der gefahrenvollen Herausforderung verbunden, sich seinen mit der eigenen Energiestruktur verbundenen spezifischen Qualitäten (Tugenden und Untugenden) zunehmend bewusst zu stellen. Nur in dem Maße, wie wir die eigenen Qualitäten so erkennen, können wir sie einsetzen oder überwinden und so entsprechend mehr Licht aufnehmen, welches uns dann den Weg zu immer höheren Erkenntnissen und Ausdrucksmöglichkeiten dieser weist. 

Im östlichen Bereich gibt es den Begriff im Tao zu sein, welches nichts anderes bedeutet als entsprechend der eigenen Energiestruktur harmonisch im Einklang mit allem zu leben. Zen wiederum beschäftigt sich damit, wie der Mensch mit mu-shin umgeht, dem Unbewussten, welches uns psychisch kontrolliert. Das Bewusstsein ist nach östlicher Auffassung Opfer von klesas, Hindernissen. Das rein persönliche Selbst ist solange reiner Ausdruck dieser klesas, bis das wahre Selbst, Atman, hervortritt. Jeder, der sich seinem Unterbewusstsein beginnt zu stellen, wird zudem auch konfrontiert mit dem in seiner Familie und seiner Nation aufgestauten Hindernissen, und dies ist es eben, was Hamlets Situation so übermenschlich und ausweglos für ihn erscheinen lässt.

Das Selbst ist der Archetyp der Ordnung und der geistigen Einheit. Es geht für den Menschen um Charakterbildung, Individuation, Selbsterkenntnis. Um den größtmöglichen Ausdruck dessen, was wir Individualität nennen. All dies hängt unmittelbar mit der spezifischen Energiestruktur eines Menschen zusammen, denn die Energiestruktur eines Menschen legt die Grundlage für seine Charaktermöglichkeiten. Was wir gewohnt sind Charakter zu nennen – und Hamlet ist ja das einprägsamste Beispiel für einen Menschen, der seinem Charakter obliegt – ist die Art, wie jemand seine spezifische Energiestruktur lebt. In dieser Struktur liegt – zusammen mit seiner nationalen und familiären Verstrickung – der Schlüssel zu seinem Lebenssinn verborgen. Je genauer und umfassener wir mit den Energien in und um uns zu wirken gelernt haben desto mehr werden wir zu demjenigen, der wir wirklich von der Seeleneben aus betrachtet sind – und desto besser können wir den, uns durch das Karma gestellten, Aufgaben begegnen. In dem Maße wiederum, in dem wir uns von unserem negativen Karma befreit haben, können wir uns zunehmend schneller geistig Entwickeln und so auch besser dem göttlichen Plan dienen. Dies ist ja schließlich der eigentliche Wunsch und das eigentliche Bestreben unserer Seele.

Es gelten Plutarchs bekannte Worte: Eine Idee ist ein unkörperliches Wesen, das an sich keinen Bestand hat, das aber ungeformter Materie Zahl und Gestalt verleiht und zur Ursache der Manifestation wird. Wenn wir weiter nach innen eindringen, erkennen wir den wesentlichen Beweggrund einer Idee, indem wir ihre Form und ersichtliche Wirksamkeit beobachten; und wir entdecken das Gesamtgebiet analoger Ideen. Dieses Gebiet verwandter und sich wechselseitig erklärender Ideen steht uns dann offen und erlaubt uns, eine immer grössere Bewegungsfreiheit in der Welt der Begriffe. In der Ideenwelt zu leben und zu wirken, wird nun das Ziel unseres wesentlichen Bemühens. Dazu gehört Übung im Erkennen von Ideen und Begriffen (Energien), die sich hinter jeder Form verbergen, klares Nachdenken über diese Ideen, das Erkennen der Richtung, in die sie uns führen und des Platzes, der ihnen im Rahmen des Ewigen Planes zukommt.

Die symbolische Macht der Bilder ist ein entscheidendes Zwischenglied zwischen dem Willen und anderen psychischen Funktionen. Schließlich kann der Willen auch so geleitet werden, dass er eine überaus hilfreiche indirekte Tätigkeit ausführt, die den Verbindungskanal zur Intuition öffnet. Dies tut er immer, wenn er allen zerstreuenden Aktivitäten der anderen psychischen Funktionen vorübergehend Einhalt gebietet. Die Intuition wird schließlich dadurch erweckt, wenn der Wille Fragen an die überbewusste Sphäre formuliert. Hamlet kommt in seinem Besteben bekannter Weise noch nicht so weit, oder vielleicht doch? Es ist nicht an uns dies zu beurteilen, und gerade in diesem Umstand liegt der unsterbliche Zauber dieses Dramas geborgen.

Das Kommen zu sich selbst variiert auch in Hamlet mit den verschiedenen typischen Vorzeichen einer ansetzenden tieferen geistigen Transformation des Individuums, die auch tiefste Quelle des Stoffes der Märchen ist :

– Das Erblicken seiner selbst im eigenen (nicht toten) Vater: Das Übertragen des Ungeklärten von einer Generation auf die nächste.

– Das Erkennen des eigenen niedere Selbst im Doppelgänger des Stiefvaters.

– Der Versuch eines tieferen Verstehens der Natur der Mutter.

– Der Weg des Lebens durch das Selbst-Opfer: Der Kampf der dämonischen Mächte 
-symbolisiert in Claudius- die über die eigene Seele dominieren wollen.

– Die Konfrontation mit den drei Aspekten in sich: Daimon (die Individualität, die eigentliche Charakterstruktur), Tyche (das Zufällige an einem, bedingt durch jeweilige Umstände), Ananke (der Teil der einem durch ein bestimmtes Karma aufgenötigt wird, welchem man sich einfach stellen muss, weil man ihm so oder so nicht fliehen kann).

– Symbolisches Gefangensein zwischen den Antinomien des Daseins vor dem Eintritt in die geistige Existenz.

– Begreifen, dass nur aus einer höheren geistigen Sicht die eigene ausweglose Verstrickung in das nationale/familiäre/persönliche Karma durchbrochen werden kann.

– Entdecken des eigenen kreativen Prinzips in sich.

– Die Umwandlung zum höheren Ich erfolgt durch die Erkenntnis der Welt als symbolisches Märchen zwischen Kräften, mit denen es sich nicht zu identifizieren gilt.

– Die versuchte Flucht vor der Realität der ganz eigenen Situation sowie das Zurückkommen und das Akzeptieren des eigene Schicksals.

– Das Akzeptieren der eigenen Rolle im kosmischen Drama: Die Verwandlung in den nichtigen Harlekin als einziger möglicher Ausweg aus dem Fluch, der die Generationen aneinander bindet. (Nur so kann das kosmische Christus-Prinzip in ihm geboren werden und er kann dann durch bedingungslose Liebe wirken; wäre also nicht mehr gezwungen das Drama von Mord und Totschlag weiter in die nächste Generation zu tragen, was wieder nur bedeutet: Und der Rest ist Schweigen…)

– Die angedeutete mystische Hochzeit als Erlösung des Harlekins, so dass Heilung und Liebe fließt zwischen den Geschlechtern und Generationen, die stattfinden könnte wären Ophelia und Hamlet nicht zu sehr von ihren Toten belegt. Hierzu müsste Hamlet in Ophelia und auch in seinem Stiefvater das Positive sehen können. Er müsste sie in all ihren Teilen so akzeptieren können wie sie sind, nur dann kann er sich auch in seiner ganzen Vielfalt, also auch in seinen negativen Seiten, annehmen und diese Seiten dadurch eben heilen. Der Ausbruch aus dem Kreislauf kollektiver Geisteskrankheit wäre für Ophelia und Hamlet – stellvertretend für die gesamte Menschheit – nur möglich durch die magische Flucht, wie sie uns in vielen Märchen aller Kulturen angedeutet wird: Goldmariken und Goldfeder, Jason und Medea, Hänsel und Gretel bis hin zu Narziss und Goldmund. Das Kernmotiv all dieser Mythen die unseren Kulturen zu Grunde liegen ist das hier Hexe und Gott innerhalb einer Person auftauchen. Es handelt sich um die Erzählung für die Übertragung von Karma von einer Generation auf die Nächste.

In solchen Märchen bekommt etwa ein Pudel, der den Eltern begegnete (Motiv für deren Abkommen von rechten Weg) zum Erlös von den Eltern die eigenen Kinder versprochen. Die büßen für ihre Eltern, indem sie erkennen lernen, dass der Pudel zwei Kehrseiten hat. Auf der einen Seite ist er die alte Hexe, die das Wünschen beibringen kann. Auf der Rückseite ist der Pudel die alte Heilige, die abseits der Gesellschaft ihr unbekanntes Leben führt.

Was ist also des Pudels Kern?

Hat der Mensch die tierisch unkontrollierte Natur in sich überwunden, kann er tatsächlich wünschen, das heißt: Er lebt dann in der Selbsterkenntnis.

Die magische Flucht besteht darin, dieser inneren Scheinkultur der Gesellschaft zu begegnen: Ihrem Verwurzelt-sein in Betrug bis in die Orte hinein, die sich alle angeblich auf Reinheit und Weihe verschreiben. Hamlet ist durch und durch von einer korrupten, manipulativen Gesellschaft umgeben, selbst das Gute scheint sich gegen ihn zu richten und ihn in seinen eigentlichen Motiven ausspionieren zu wollen. (Polonius, der sich Rosenkranz und Güldenstern bedient, um das innere Denken von Hamlet zu erforschen.)

Statt ein Theaterstück aufzuführen, müsste Hamlet sich mit Ophelia in seinem Herzen auf die magische Flucht begeben, ansonsten wird er durch seinen versehentlichen (aber symbolischen) Mord an Polonius unwiderruflich in die Verstrickungen der Gesellschaft um ihn herum hineingerissen. Nur durch eine Prüfung, die über den Tod hinausführt, könnte Hamlet sich diesem Kreislauf entziehen. Nur durch den Kontakt zu höheren Kräften, die ihm durch diese Prüfung zuwachsen, wäre es ihm möglich den Knoten durchzutrennen, der ihn leiden lässt.

Wieso nun aber Goldmariken und Goldfeder, Tamino und Pamina – oder potentiell Hamlet und Ophelia? Weil diese Prüfung nach Eugen Drewermann nur zu bestehen ist, durch eine einsetzende androgyne Synthese innerhalb eines Individuums oder Paares. Einer Synthese, die wiederum auch das versteckte zentrale Thema vieler Märchen und Mythen vom Typ Drachentöter ist, wo immer ein junger Mann eine Prinzessin von ihrem Vater erlösen muss, indem er einen Drachen tötet. Durch diese Tat erlöst er dann aber auch zugleich seine eigene Seele von den uralten Ängsten der Doppelgestalt des eigenen Vaters. Durch den Kampf mit den Drachen befreit er sich von dem uralten quälenden Gefühl, durch den Schatten seinen Vaters der auf ihm liegt, im Grunde nicht wirklich liebenswert zu sein. Ein Kampf, der symbolisch für die aktive Auseinandersetzung mit der Ambivalenz des Vaterbildes steht. Ein langer, immer wieder anschwellender Kampf, denn der Drache hat ja bekanntlich sieben Köpfe. Und diese sieben Köpfe stehen auch für sieben unterschiedliche Energiearten die es zu erkennen und beherrschen gilt. Sie abzuschlagen bedeutet schließlich die Gestalt einer Persönlichkeit auszubilden, die sowohl männlich als auch weiblich gerade darin ist, dass in ihr Verstand und Gefühl, Stärke und Zärtlichkeit, Kraft und Geduld wie auch Sensibilität und Sinnlichkeit zu einer Einheit verschmelzen. Nur durch eine solche Integration ist es möglich das vermeintlich Böse in sich selbst zu integrieren, statt es draußen bei anderen zwanghaft bekämpfen zu wollen. Eine solche Integration verbindet schließlich den Weg nach Westen, also die Reflexion der Gedanken, und den Weg nach Osten, also die Unmittelbarkeit des Gefühls, miteinander. Nur indem diese beiden gegensätzlichen Standpunkte schließlich aufeinander treffen, beginnt jene innere Einheit, die das Erkennen der Liebe ermöglicht. Ist unsere Gesellschaft jetzt kollektiv zu einem solchen Schritt bereit?

Um Zugang zu einem ganzheitlichen Bewusstsein zu erlangen, müssen wir zuerst die Austauschbarkeit der durch Erinnerungen und Empfindungen erzeugten Realität erkennen. Müssen wir erkennen, dass wir immer in Verwirrung und Unsicherheit leben, solange wir eine sozial konstruierte Realität als die wahre Realität sehen wollen. Denn ob Fakten in so einer konstruierte Realität wirklich real sind, oder ob wir sie nur für real halten, weil wir sie so bezeichnen, ist für uns nie festzulegen. Unser Denken bewertet nach uns unbewussten Maßstäben  -Energiestrukturen – und reißt uns so in den Strudel der kollektiven Verwirrung. Um eine sozial konstruierte Realität als Realität wahrzunehmen, brauchen wir ganz einfach immer eine Kontrastrealität zu dieser und schon leben wir in der Differenz, sind gefangen in der Illusion des Ichs, verfolgen den Weg der nach Helsingør führt.

Die Jugend versucht nun erneut die Sicherheitsschlösser einer Geborgenheit bietenden Gesellschaft zu sprengen, die auf einen typisch väterlichen Unterdrückungsmechanismus basiert. Dafür muss sie etwa lernen an dem etablierten Kunstverständnis – und den zu diesem gehörenden billigen Massenmanipulationen – vorbei zu schauen und stattdessen den Blick ins eigene Innere zu lenken.

 

Titelbild: Edwin Booth, englischer Schauspieler, 1833 – 1893

booth_250x309Der Schauspieler Edwin Booth war im Jahre 1870 ein gefeierter Hamlet Darsteller. Er war der Bruder des Attentäters Abraham Lincolns, John Wilkes Booth. Im Jahre 1863 rettete er auf einem Bahnsteig in Jersey City das Leben von Lincolns ältestem Sohn, Robert Todd Lincoln, der von der Bahnsteigkante zwischen zwei Waggons eines haltenden Zuges geraten war. Er wird oft als der größte Darstellers des Hamlet im 19. Jahrhundert angesehen. Ironischer Weise wird er heutzutage vor allem als der Bruder des Lincoln-Attentäters erinnert.

 

 

(1) Durch Polonius wurde zuvor der Achtfache Pfad des Buddha so artikuliert:

Polonius: There; my blessing with thee! And these few precepts in thy memory see thou character.

1. Give thy thoughts no tongue, / Nor any unproportion’d thought his act. (Rechtes Denken/Gedanken)

2. Be thou familiar, but by no means vulgar. (Rechte Achtsamkeit)

3. Those friends thou hast, and their adoption tried, / Grapple them to thy soul with hoops of steel, / But do not dull thy palm with entertainment / Of each new-hatch’d, unfledged comrade. (Richtiger Lebensunterhalt)

4. Beware / of entrance to a quarrel, but being in, / Bear’t the opposed may beware of thee. (Richtiges Handeln)

5. Give every man thy ear, but few thy voice. (Richtiges Sprechen)

6. Take each man’s censure, but reserve thy judgment. (Richtige Konzentration)

7. Costly thy habit as thy purse can buy, / But not express’d in fancy; rich, not gaudy; / For the apparel oft proclaims the man, / And they in France of the best rank and station / Are of a most select and generous chief in that. (Richtige Anstrengung)

8. Neither a borrower nor a lender be, / For loan oft loses both itself and friend, / And borrowing dulls the edge of husbandry. / This above all: to thine own self be true, / And it must follow, as night the day, / Thou canst not then be false to any man. (Rechte Einsicht)

(2) Hughes schreibt u.a über Mass für Mass.: “The Angelo who behaved like Adonis has somehow … been abruptly supplanted by the Angelo who behaves like Tarquin. (…) It can be seen here … that in divining just how the second myth erupts from the first, in other words just how the man who rejects the female, in moral, sexual revulsion, becomes in a moment the man who assaults and tries to destroy her, Shakespeare has divined a natural law. One that presents no mystery to post-Freudians. It is so natural, in fact, that the inevitability of the tragic dramas which follow is based precisely on that law.“

(3) Hamilton schreibt u.a.:„Claudius, as a typical perverse, psychopathic character pursuing his goals, has multiple dominating effects on the characters of the play, poisoning each of them, as it were, resulting in their confusion, degradation, broken hearts, smashed ideals, emotional breakdowns and death. The play can be studied as a working out of the effects of a person like this, unannounced and unsuspected, on a group of flawed but neurotic/normal human beings who don’t realize the malevolence in their midst, nor, when they do glimpse it, can they develop the cohesive, single-minded clarity or sense of purpose necessary to act with the force necessary to stop him.

As you probably know, the effects on individuals and groups of the so-called white-collar psychopath is a very contemporary topic of preoccupation and study. (…) It is only recently in the west – perhaps with the rise of the culture of increased narcissism and entitlement, the greed is good mentality of late-capitalism, the wide-spread media coverage of global social and political events, and obvious and unfair differences in material wealth – that the white-collar psychopath has been identified and studied. They are male or female, not infrequently professional, often at the head of an organization or in a position protected from scrutiny, with their psychopathy focused on only one of the three typical areas of sex, money or power, and with often a marked rigid morality about the other two, making it hard for the unsuspecting to believe their delinquency. (…) People with differing character types tend to react differently to the psychopath. The vulnerability of the individual hysteric person to the psychopath’s persuasions is quite well-studied in the literature. Obsessional people tend to think they are immune to them, but, when a psychopath appears in their group, they tend to settle on witty character descriptions, adjust their position privately and take no action. In psychiatric practice, the psychopathic individual appears only if depressed because his or her plans have failed and he or she is deserted, or when he or she is threatened with exposure. But they appear not infrequently as a person the patient in treatment grew up with, or as a spouse or a child or a friend of the patient. Without understanding the deep nature of the person they are dealing with, the patient struggles to adapt to such a person, often blaming themselves for not being sympathetic to the seeming inconsistencies in the demands of the other and demanding of themselves that they try harder. Thus familiarity with the characteristics of perverse and psychopathic people and their effects on people who trust them or are dependent on them is important for practitioners as well as members of institutions of all types.“

 

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