Freitag , 19 April 2024
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Die drei Gunas: Ein weiterer Schritt zur Selbsterkenntnis

wolken_farbigFinden sich verschiedene Menschen mit vergleichbaren Situationen konfrontiert, zeigen sich oft gravierende Unterschiede in den Reaktionen, abhängig von der jeweiligen Persönlichkeit. Aber auch der einzelne Mensch mag sich in ähnlichen Situationen oft konträr verhalten, was wir als Schwankungen der Stimmung erachten. Die vedischen Schriften, und demzufolge auch die Yoga-Lehre, erklären diese Variationen in den Empfindungen, die sich wiederum in unterschiedlichen Reaktionen ausdrücken, durch die sogenannten Gunas – oder die „Eigenschaften der Natur“. Sie werden als Sattva, Rajas und Tamas bezeichnet. Demzufolge hängt die Reaktion des Menschen auf eine bestimmte Konfrontation davon ab, aus welchem Blickwinkel sie betrachtet wird, welches der drei Gunas im Vordergrund steht. Diesbezügliche Überlegungen, in Verbindung mit Selbstbeobachtung, helfen mit, das eigene Verhaltung besser zu verstehen.

Gewisse Kontaktpunkte, wenn auch nicht deckungsgleich, finden sich zwischen den Gunas und den vier Charakteren nach Hippokrates. Auch wenn die Eigenschaften von Cholerikern, Melancholikern, Phlegmatikern und Sanguinikern bekannt und beobachtbar sind, so finden sie heutzutage eher in der Schauspielkunst Beachtung. In der Psychoanalyse werden sie, meines Wissens, weitgehend ignoriert.

Die Merkmale der drei Gunas wären folgende:

Sattva: Ausgeglichenheit, Beständigkeit, Weisheit, Güte, Mitgefühl

Rajas: Aktivität, Schaffenskraft, Aggression, Rastlosigkeit

Tamas: Trägheit, Interessenlosigkeit, Ignoranz

Der Lehre zufolge, wird die Entwicklung der Welt ebenso wie jedes einzelne Geschehen von diesen drei Grundprinzipien beeinflusst. Sie werden durch die drei Gottheiten der Trinität, Brahma (Schöpfung), Shiva (Zerstörung, Verfall) und Vishnu (Ausgleich) dargestellt. Wie sie sich auf die Handlungen des Menschen auswirken, erkläre ich an einem Beispiel.

Nehmen wir an, ein Mensch verliert seinen Arbeitsplatz. Ungeachtet der Details, gibt es grundsätzlich drei verschiedene Möglichkeiten, wie er auf diese Konfrontation reagieren könnte:

A)    Es ergeben sich neue Perspektiven und neue Herausforderungen. Der soeben verlorene Job entsprach ohnehin nur bedingt den Vorstellungen. (Sattva)

B)     Der Betroffene verfällt in Ärger. Die Aggressionen richtet sich gegen jeden, den er für mitverantwortlich hält, einschließlich einiger Kollegen, die gegen ihn intrigiert haben könnten. (Rajas)

C)    Die Welt bricht zusammen. Nun ist die so lange befürchtete Arbeitslosigkeit eingetreten. Die Zukunft wirkt leer und hoffnungslos. (Tamas)

In jedem Menschen sind diese drei Gunas präsent, jedoch unterschiedlich ausgeprägt. In gewissen Situationen tritt natürlich auch immer wieder der Fall ein, dass ein Mensch, der ansonsten eher unter dem Einfluss von Sattva handelt, plötzlich von Rajas überwältigt wird. Alle drei Qualitäten sind jederzeit zugegen, lassen sich aber – sofern wir uns ihrer bewusst sind – willentlich steuern. Wie aus der gegebenen Beschreibung hervorgeht, wird Sattva mit grundsätzlich begrüßenswerten Eigenschaften in Verbindung gebracht. Rajas wirkt sich dagegen einerseits negativ aus, wenn Wutausbrüche oder planloses Agieren die Folgen sind, doch steckt auch hinter jedem Projekt, das Anstrengung und Einsatz erfordert, Rajas. Tamas bringt Trägheit und Inaktivität mit sich, lässt sich aber gleichzeitig als Schirm gegen unerwünschte Einflüsse einsetzen.

Nehmen wir noch einmal das zuvor beschriebene Beispiel des verlorenen Arbeitsplatzes her. Ungeachtet der ersten Reaktion, sind vom Betroffenen bestimmte Handlungen zu setzen. Mit positiver Einstellung und energiegeladen auf Jobsuche zu gehen, fällt eindeutig in den Bereich von Rajas. Einzelne Absagen hinzunehmen, ohne sogleich in negative Stimmung zu verfallen, wäre eine von Sattva geprägte Reaktion. Und welche positive Funktion könnte Tamas einnehmen? Oft unvermeidliche negative Begleiterscheinungen, ungeachtet ob es sich um Geldknappheit oder dumme Kommentare von Mitmenschen handelt, lassen sich schlicht ignorieren. Tritt Tamas jedoch in den Vordergrund, wären die Folgen Passivität und mangelnde Einsatzbereitschaft. Die Verantwortung wird dem Arbeitsamt übertragen. Die Tage werden vor dem Fernsehgerät oder in Kneipen verbracht. Mutlosigkeit mag einsetzen und sich bis zu Depressionen ausweiten.

Solange wir uns selbst vom Standpunkt des Alltags-Ichs, des Egos aus betrachten, werden wir uns dieser Einflüsse nur schwerlich bewusst. Nachdem unser Denken oder Fühlen immer von einer der drei genannten Kräfte geprägt ist, bleibt jegliche Analyse erfolglos. Betrachten wir die Welt durch eine bunte Brille, müssen wir diese erst abnehmen, um die richtigen Farben zu erkennen. Erst im nachhinein, wenn wir zu dem jeweiligen Ereignis eine gewisse Distanz eingenommen haben, erkennen wir, dass wir uns eigentlich auch anders verhalten hätten können.

Tritt ein bestimmter Vorfall ein, der unseren Missmut auslöst, so steht meist eine gewisse Zeitspanne zur Verfügung – manchmal sind es nur wenige Sekunden – in denen wir uns entscheiden, wie wir reagieren. Wie die meisten von uns an sich selbst erkennen können, scheint diese Entscheidung jedoch kaum von unserem Denkzentrum gefällt zu werden. Nur schwer kontrollierbare Emotionen könnten einsetzen. Ganz plötzlich verfallen wir in Ärger. Je tiefer wir in diesen versinken desto mehr Rechtfertigungen erkennen wir für unser aggressives Verhalten. An einem bestimmten Punkt angelangt, kann jeglicher Verstand schließlich restlos aussetzen und erst im nachhinein mögen so manche Handlungen oder Äußerungen als eindeutige Überreaktion erkennbar werden.

Sind wir vom Ärger einmal ergriffen (man beachte die Passivform), werden alle einströmenden Informationen durch das Filter des Ärgers (oder Rajas) weiter verarbeitet. Befinden wir uns in einem Zustand der Trägheit und Lustlosigkeit, scheint es oft absolut unmöglich, eine positive Ablenkung zu finden. Vielleicht nehmen wir nicht einmal den Telefonhörer ab, weil wir uns einfach nicht vorstellen können, dass uns der Anruf Freude bereiten könnte. Gelingt es jemandem hingegen, alle Konfrontationen unter dem Aspekt von Sattva zu filtrieren, sollte der Zustand der Ausgeglichenheit überwiegend erhalten bleiben.. Schließlich bringt jede Veränderung nicht nur Schlechtes, sondern auch Gutes mit sich. Manches ist unabwendbar, ungeachtet, ob wir uns darüber ärgern oder nicht, ob wir in Depressionen verfallen oder einen neuen Anfang erkennen.

Fassen wir kurz zusammen: Von Natur aus, vielleicht auch von Erziehung und Umwelt beeinflusst, sind die drei Gunas bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Nachdem sich dabei viele verschiedene Möglichkeiten bieten, in welchem Verhältnis die Gunas zueinander stehen können (z. B. 60% Rajas, 30% Sattva, 10S% Tamas), ergeben sich auch entsprechend viele Varianten von Persönlichkeitsprofilen. Dieses Verhältnis ist aber wiederum nicht stabil und in jeder einzelnen Konfrontation kann ein anderes Guna in den Vordergrund treten. Diese Mechanismen – um eigenständige Kräfte handelt es schließlich nicht – sind zwar nicht ausschaltbar, doch lassen sie sich in ihren Auswirkungen willentlich steuern. Im Idealfall dominiert Sattva. Rajas wird im Sinne von Schaffenskraft eingesetzt. Ignorieren wir gleichzeitig alle negativen oder verwirrenden Einflüsse, erfüllt auch Tamas seinen Zweck. Dies bedeutet auch, dass es sich bei aktivem Einsatz und aggressivem Verhalten grundsätzlich um die gleiche Energiequalität handelt, lediglich in anderer Form eingesetzt. Vergleichbar mit Feuer, das Licht und Wärme spendet, gleichzeitig aber auch ganze Wälder vernichten kann.

Der in der Yoga-Lehre sowie im Hinduismus allgemein am öftesten zitierte Text ist die Bhagavad Gita. Als Kernteil der Epik von Mahabharata enthalten diese, in 18 Kapitel eingeteilten, 700 Verse die Quintessenz fast aller, auf den Schriften der Veden basierenden, Konzepte. Wir werden uns zu einem späteren Zeitpunkt damit noch intensiver auseinander setzen. Für heute möchte ich jedoch vorwegnehmen, dass es sich bei der Bhagavad Gita keineswegs um einen Text handelt, dem Autorität zugesprochen wird, auch wenn die darin enthaltenen Aussagen durchaus respektiert werden. Sie dienen nicht als Basis für Dogmen, sondern vielmehr als logische Erklärung von Details eines nachvollziehbaren Gesamtbildes. Das siebzehnte Kapitel befasst sich eingehend mit den Gunas.

In den Versen 8 bis 10 ist angeführt, welche Art von Nahrungsmitteln mit welchen Gunas in Verbindung stehen. Im Detail erklären es Yoga-Lehrer folgendermaßen:

Frisches Obst und Gemüse, süße Speisen und Milchprodukte fördern Sattva.

Fleisch und Fisch, scharfe Gewürze, Salz, aber auch Zwiebel und Knoblauch wirken sich auf Rajas aus.

Tamas wird mit Speisen, die arm an Vitaminen und Mineralstoffen sind, in Verbindung gebracht. Auch mehrfach aufgewärmtes Essen fällt in diesen Bereich. Ohne Zweifel lassen sich wohl Kartoffelchips und sogenannter Junk-Food in diese Kategorie einordnen. Ein Hamburger mit Pommes wäre wohl ein Tamas-Gericht mit einer Prise Rajas.

Ich möchte keineswegs den Versuch unternehmen, Sie zum Vegetarier zu bekehren, doch wer an den regelmäßigen Genuss von Fleisch gewöhnt ist, und dann auf mehrere Wochen ausschließlich vegetarische Nahrung zu sich nimmt, wird die gravierenden Veränderungen in seiner Verfassung, seiner allgemeinen Stimmung und Lebenseinstellung, sehr deutlich feststellen. Der anfängliche Heißhunger auf Fleisch lässt sich am besten durch proteinreiche Hülsenfrüchte wie Bohnen, Linsen und Erbsen ausgleichen. Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass, wer beruflich sehr gefordert wird, nur schwer auf die Einflüsse von Rajas verzichten kann, was gewiss auch in der Auswahl der Speisen zu berücksichtigen wäre.

Über die Gunas einmal gelesen zu haben, bringt gewiss noch lange keine positiven Auswirkungen auf unsere Lebenseinstellung mit sich. Ich schlage daher eine Übung vor, die Sie in ihr tägliches Leben einbauen können. Als erstes fragen sie sich, welches der drei Gunas in ihrer Persönlichkeit dominant erscheint. Sind Sie dabei sich selbst gegenüber ehrlich. Erschöpft zu sein und einige Tage zu rasten, hat noch lange nichts mit Tamas zu tun. Regelmäßig mehrere Stunden vor dem Fernseher zu sitzen oder sich Computerspielen hinzugeben, verweist aber durchaus auf eine zu passive Grundeinstellung. Dass Sie unter dem Einfluss von Rajas stehen, wenn sie leicht in Ärger verfallen, ist offensichtlich. Zwar handelt es sich bei Arbeitswillen und Einsatzbereitschaft um durchaus begrüßenswerte Eigenschaften, verbringt ein Mensch jedoch sein Leben mit nichts anderem als Arbeit – wofür mittlerweile der Begriff „Workaholic“ zur Verfügung steht – scheint es sich ebenfalls um eine zu ausgeprägte Präsenz von Rajas zu handeln. Haben Sie sich schon immer als Sanguiniker gefühlt, spielt Sattva eine entscheidende Rolle.

Nachdem Sie sich Ihrer Grundvoraussetzungen bewusst sind, nehmen Sie sich regelmäßig etwas Zeit und analysieren Sie die einzelnen Konfrontationen des Tages. Meistens erachten wir unsere Reaktionen als gesund, normal und selbstverständlich. Oft sind sie auch durchaus angebracht. Gelegentlich, im nachhinein betrachtet, kann aber auch der Schluss nahe liegen, dass ein anderes Verhalten zu günstigeren Auswirkungen geführt hätte. Überlegen Sie, welches der drei Gunas auf Ihre jeweilige Reaktion Einfluss ausgeübt hat. Je mehr Sie nachträglich ihre Empfindungen und Gedanken analysieren, durch welche Ihr Handeln letztendlich bestimmt wird, desto öfter werden Sie sich schon während der Konfrontation des Einflusses der Gunas besinnen und unüberlegte Aktionen dadurch vermeiden. Entwickeln Sie dabei eine ausgeprägte Tendenz zu Sattva, bedienen sich gleichzeitig Rajas und Tamas nur in der Form wie es einzelne Situationen erfordern, werden Sie schon nach kurzer Zeit nicht nur mit mehr Ausgeglichenheit durchs Leben gehen, mit Sicherheit werden Ihnen von Ihren Mitmenschen auch mehr Sympathien entgegengebracht werden.

 

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