Haben Sie schon jemals daran gedacht, dass es sich bei gegenseitigem Respekt um die Grundvoraussetzung für friedliches Zusammenleben handelt? Erscheint es als logisch, bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel keine laute Musik zu spielen oder auch, die Straßen nicht zu verdrecken? Vermutlich ja. Trotzdem handelt es sich bei genau solchen Ratschlägen um das Resultat einer aufwendigen Studie. Und da frage ich mich doch wieder einmal, warum derartige Studien überhaupt in Auftrag gegeben werden, wenn doch jeder, der mit gesundem Menschenverstand ausgestattet ist, das Ergebnis schon von vornherein weiß?
Das heutige Thema bezieht sich auf meine Heimatstadt Wien, wo schon vor mehr als 150 Jahren der Dramatiker Johann Nestroy lebte, der eine Posse mit dem Namen schrieb: „Einen Jux will er sich machen.“ In diesem Sinne erscheint mir auch eine Befragung, die höchst aufwendig seit einem halben Jahr durchgeführt wird und unter dem Begriff „Charta Wien“ bekannt ist.
Der Grund für diese großflächige Studie sind die zunehmenden Probleme, die durch die extrem starke Zuwanderung entstanden. Im Gegensatz zu Berlin, wo der Bezirksbürgermeister von Neukölln Heinz Buschkowsky diese Probleme ohne rosa Brille offen anspricht, gibt es in Wien, zumindest offiziell, keine Dissonanzen. Dass diese aber trotzdem stark im Zunehmen sind, ist den Verantwortlichen in der Wiener Stadtregierung sehr wohl klar. Deshalb wird nun versucht, den Problemen mit dem Erschaffen von Geboten beizukommen. Auf diese Art glaubt man wohl, die Fehler, die bei der Zuwanderungspolitik zuhauf gemacht wurden, vertuschen zu können.
Ich darf sie nun mit den Ergebnissen dieser 450.000 Euro teueren Studie (darin sind die ganzseitigen Schaltungen in den Tageszeitungen nicht berücksichtigt), vertraut machen. Ich zitiere wörtlich:
„Wien ist Heimat und Zuhause: Für Frauen und Männer, Junge und Alte, hier Geborene und Zugewanderte, für Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen, Lebensformen und Bedürfnissen.“
Gut zu wissen, denn dies war bis jetzt wohl nur den Allerwenigsten klar.
Dass Menschen mit verschiedenen Bedürfnissen und Weltanschauungen friedlich nebeneinander Leben können, braucht es Respekt, erfahren wir weiter. Seltsamerweise haben mir dies meine Eltern als Kind schon beigebracht und ich habe diese Einstellung nahtlos an meine eigenen Kinder weitergegeben. Wie mag es gelungen sein, solche Ideen so ganz ohne Studie zu entwickeln?
Und dann entnehmen wir dieser Weisheitssammlung auch noch, dass Grüßen oder ein einfaches „Bitte“ und „Danke“ dem friedlichen Umgang miteinander förderlich sind. Im Straßenverkehr sollen wir uns rücksichtvoll verhalten und in den öffentlichen Verkehrsmitteln weder laut telefonieren, Musik hören und auch keine Essensreste liegenlassen. Wir sollen vom Fehlverhalten eines Einzelnen nicht Rückschlüsse auf eine ganze Gruppe ziehen, und akzeptieren, dass die babylonische Sprachverwirrung seit Jahrhunderten zur kulturellen Identität Wiens gehört. (Hier möchte ich daran erinnern, dass im Kaiserreich Österreich-Ungarn, das bis 1918 bestand, tatsächlich ein halbes Dutzend verschiedener Sprachen gesprochen wurde: Deutsch, Ungarisch, Tschechisch, Slowakisch, Serbokroatisch …)
Weil wir gerne in einer sauberen Stadt leben, lassen wir keinen Müll liegen, werfen Zigarettenstummeln nicht auf die Straße und räumen Hundekot weg.
Na bitte, wer die „Wiener Charta“ liest, braucht keine Bibel, um zu wissen, wo es lang geht. Dagegen nehmen sich die Zehn Gebote eher bescheiden aus. Gar nicht zu reden von der dahintersteckenden Logik.
Bei dieser Ansammlung von geistigen Ergüssen stellt sich zumindest mir die Frage, warum es überhaupt nötig ist, eine Studie zu erstellen, wenn die daraus resultierenden Ratschläge schon jedem halbwegs erzogenen Zehnjährigen geläufig sind? Oder wurde aus falsch verstandener Toleranz ein Problem geschaffen, das es früher gar nicht gab; nämlich die unsinnige Annahme, dass alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich vom Gesetz her verboten ist?
Ich würde gerne eine Studie in Auftrag geben, die sich mit der Sinnhaftigkeit von Studien auseinandersetzt. Doch davon abgesehen, dass mir die Mittel dafür ohnehin fehlen, das Ergebnis meiner Studie würde von den Massenmedien sicher nicht aufgegriffen werden.
Lassen Sie mich zum Abschluss aber noch etwas hinzufügen: Bis zum vergangenen Samstag dachte ich, dass der Wirkungsgrad, die Differenz zwischen der zugeführten und der erbrachten Leistung dieser „Charta Wien“ nicht mehr zu unterbieten ist. Da habe ich mich aber geirrt. Denn das Ergebnis des mehrtägigen Klimagipfels in Doha schlägt absolut alles! Es lautet nämlich: Lassen wir die nächsten acht Jahre alles so, wie es ist! Bravo. Das hätte die Stammtischrunde im Kaffeehaus bei Melange und Apfelstrudel sicher auch zuwege gebracht.