Wo Dogmen einsetzen, setzt der Verstand aus. Zweifellos darf keine Ideologie ausschließlich an ihren extremen Auswüchsen gemessen werden. Nicht jeder Muslim neigt zur Gewalt, so wie nicht jeder mittelalterliche Christ sich den Kreuzzügen anschloss. Auch ist nicht jeder heimatverbundene Mensch nationalistisch gesinnt. Doch wie weit dürfen Grenzen überschritten werden, bevor die dahinter stehende Ideologie hinterfragt wird? Dynamit explodiert, wenn nicht vorsichtig damit umgegangen wird. Ebenso wie extremistisches Gedankengut. Lassen sich mögliche Auswüchse aber noch rechtzeitig verhindern?
Wo immer Dogmen im Vordergrund stehen, ist jede sachliche Diskussion ausgeschlossen. Jene Dogmen, denen wir oft genug selbst verfallen, sind uns als solche nicht bewusst. Die der Anderen werden entweder kategorisch kritisiert oder ebenso kategorisch respektiert.
Wurde der Koran wirklich von einem Erzengel namens Gabriel diktiert? Ich würde sagen, jede diesbezügliche Diskussion erübrigt sich. Denn dabei handelt es sich um eine Behauptung, die sich weder be- noch widerlegen lässt.
Wenn einige Millionen Muselmanen wutentbrannt durch Dutzende Städte ziehen, Diplomaten ermorden, Botschaften in Brand setzen oder Tempel und Wohnviertel zerstören, so wie es am Sonntag in Bangladesh geschah, dann handelt es sich immer noch um einen verschwindend kleinen Prozentsatz. Zweifellos ist die überwiegende Mehrheit der anderthalb Milliarden zählenden Gefolgschaft des Propheten Mohammed über diese Ausschreitungen ebenso entsetzt wie der Rest der Welt.
Doch wodurch werden derartige Gewaltaktionen immer wieder ausgelöst? Weil ein miserables kurzes Video im Internet auftaucht, in dem eine Person, die vor anderthalb Jahrtausenden gelebt hat, in beleidigender Art dargestellt wird. Weil jemand damit provoziert, ein Buch zu verbrennen, auf dessen Cover „Quran“ steht. Weil – dies soll in Bangladesh nun geschehen sein – bei Facebook das Bild eines angebrannten Korans aufgetaucht ist. Weil ein Karikaturist, der zu fragwürdiger Berühmtheit gelangen möchte, einen Hund mit Menschenkopf darstellt und darüber den Namen „Mohammed“ kritzelt.
Gibt es nicht andere Provokationen, die die Gemüter ebenso regen könnten? Erfolgte ein Aufruhr in der buddhistischen Welt, als – wie es in Afghanistan vor Jahren der Fall war – antike Statuen des erleuchteten Weisheitslehrers zerstört wurden? Für Buddhisten ist ihr Religionsgründer Siddharta Gautama um nichts minder bedeutend als für Muslime ihr Prophet Mohammed und für Christen Jesus. Wobei handelt es sich um das schwerwiegendere Vergehen? Beim Ablichten eines brennenden Korans oder beim Inbrandsetzen eines Tempels?
Dem modernen Zeitgeist entsprechend ist es aber keineswegs einfach, solcherart Problemen auf den Grund zu gehen. Die Ersten, die sich gegen jede Analyse wehren, sind fanatische Muslime. Ich kann mir vorstellen, dass ich unter diesen bereits Unmut schüre, weil ich es wage, Buddha und Mohammed im selben Satz vergleichend zu erwähnen. In deren Augen gibt es schließlich nur Muslime und Ungläubige.
Über die einzelnen Abstufungen des Fanatismus führt der Weg schließlich zu vernunftbegabten Angehörigen des muslimischen Glaubens, mit denen zweifellos objektive Gespräche möglich sind. So wie jede andere ist auch der Islam eine Religion, die moralische Lebensgrundsätze in einer ganz bestimmten Art zu vermitteln versucht. Zwiespalt tritt immer nur dann auf, wenn sich die Angehörigen einer bestimmten Religionsgemeinschaft als auserwählt betrachten und jeden, der nicht dem Ruf des eigenen Propheten folgt, als minderwertig einstufen.
Wenn der eine oder andere Politiker – ungeachtet, ob aus Überzeugung oder aus „politischer Korrektheit“ – behauptet, der Islam gehöre zu Deutschland, dann ist genau diese Form des Islam gemeint, der Andersdenkenden mit demselben Respekt entgegentritt, wie er es auch für sich selbst erwartet.
Es gibt aber auch Nicht-Muslime, gemeiniglich „Gutmenschen“ genannt, für die der Schutz aller Minderheiten dogmatische Formen angenommen hat. Nicht die zerstörerischen Umtriebe der Fanatiker sind für sie von Bedeutung, sondern die, diesen zugrundeliegende, Provokation.
Arthur Schopenhauer machte sich in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“ über den Ehrenkodex des 19. Jahrhunderts lustig. An einer Reihe von Beispielen beleuchtete er, dass die Bestrafung für die Beleidigung eines Edelmannes im Verhältnis schmerzlicher sein muss als die ursprüngliche Beleidigung. Nachdem manche Muslime in ihrem Glauben äußerst verletzbar sind, fühlen sich einige von ihnen genötigt, mit Zerstörungen – bis hin zu Mord und Totschlag – auf tatsächliche oder vermeintliche Beleidigungen zu antworten, um den „Ungläubigen“ mit allen Mitteln einzuschärfen, wo sie ihre Grenzen zu ziehen haben.
Doch hier stellt sich die entscheidende Frage: Wenn eine Ideologie, wenn auch nur für Randgruppen, bezüglich angewandter Vergeltungsmaßnahmen keine angemessenen Grenzen kennt, und dies noch dazu immer wieder unter Beweis gestellt wird, wäre es nicht an der Zeit, diese Ideologie zu hinterfragen?
Was passiert mit jeder beliebigen Organisation, aus deren Kreisen wiederholt zu Gewaltaktionen aufgerufen wird? Wem wird mehr Aufmerksamkeit geschenkt? Den friedlichen Mitgliedern, die aus ideologischen oder wirtschaftlichen Gründen dieser Vereinigung angehören? Oder machen eher die Unruhestifter von sich reden? Werden in so einem Fall nicht rasch Forderungen nach einem Verbot solcherart Organisationen laut?
Wie lange würde eine politische Partei existieren, deren Mitglieder Brandanschläge gegen jede Zeitung durchführen, die es wagt, an dieser Partei Kritik zu üben? Kommt so etwas einmal vor, wird sicher erst einmal nach den eigentlichen Schuldigen gefahndet. Doch was würde geschehen, sobald sich derartige Vorfälle wiederholen? Würden nicht umgehend Ermittlungen eingeleitet werden, die sich mit den fragwürdigen Ideologien dieser politischen Organisation auseinandersetzen?
Daran zu denken, den Islam, einer radikalen politischen Partei gleich, schlichtweg zu verbieten, ist zweifellos weit hergeholt, um nicht zu sagen, völlig absurd. Setzen wir uns jedoch mit Ideologie als solcher auseinander, wo liegt der Unterschied, ob diese im politischen oder religiösen Bereich wurzelt? Und wenn wir einen Blick auf die Geschichte werfen, so zeigt sich, dass Politik und Religion selten voneinander getrennt existierten.
Was wird von einer politischen Ideologie als Erstes erwartet? Dass sie sich an die allgemein akzeptierten Spielregeln hält. Dass, im Falle ungerechtfertigter Angriffe oder Provokationen, die Gerichte bemüht werden, anstatt Bomben zu werfen. Dass Mitglieder aus freiem Willen bei- und wieder austreten dürfen. Grundvoraussetzung, um als Partei zugelassen zu werden, ist natürlich auch, dass selbst im Falle eines Wahlsieges allen anderen Parteien der Fortbestand zugesichert wird.
Die Geschichte hat uns gelehrt, wohin es führt, wenn eine politische Denkrichtung keine Alternative zulässt.
Auch wissen wir, wozu das Christentum in vergangenen Zeiten als Religion fähig war. Länder wurden überfallen und Kulturen vernichtet, um die dort lebenden Menschen zu „bekehren“ und zu „zivilisieren“. Wer all zu lautstark an den Dogmen rüttelte, lief auch im eigenen Land Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu enden.
Das Christentum hat diese Phase überwunden. Politische Parteien, die sich den Spielregeln der Demokratie und den Anforderungen der heutigen Zeit widersetzen, würden rasch als gefährlich erkannt werden. Doch wie sieht es mit einer religiösen Ideologie aus, die verlangt, dass untreue Ehefrauen öffentlich zu Tode gesteinigt werden? Die „Hexer“ und „Zauberer“ als solche entlarvt und ebenso öffentlich enthauptet? Die nicht nur Gewalt verurteilt, sondern, zumindest bei opportunistischer Auslegung ihres Programmheftes, zu solcher aufruft?
Wie schon erwähnt, so wie jede andere Religion ist auch der Islam eine Lehre, die ihren Anhängern moralische Grundsätze vermittelt und vielleicht sogar ein Weltbild aufzeigt, dass vollständiger ist als der reine Glaube an eine geistlose Materie. Trotzdem zeigen die jüngsten Ausschreitungen sehr deutlich, dass einseitige Auslegungen der Glaubensgrundsätze durchaus gefährliche Formen annehmen können. Und somit stellt sich die Frage, wie soll die weitere Globalisierung und gleichzeitig auch die Kulturvermischung im eigenen Land in Zukunft funktionieren, wenn ideologische Uneinigkeiten schon jetzt zu solchen Auswüchsen führen?
Zweifellos wäre es absolut wünschenswert, konträre Weltbilder in Harmonie zu versetzen. Auch Rationalismus und Materialismus können dogmatische Formen annehmen. Wissen entsteht niemals durch das Ausgrenzen anderer Denkweisen, sondern durch das Aufgreifen und Verarbeiten der einzelnen Bereiche. Manche Quantenphysiker, wie Dr. Amit Goswami, bemühen sich, Verbindungen zwischen jahrtausendealten Überlieferungen und modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen herzustellen. Die verschiedenen christlichen Kirchen haben es geschafft, Brücken zur Neuzeit zu schlagen. Und es wäre an der Zeit, dass sich auch muslimische Autoritäten – ungeachtet ob Sunniten oder Schiiten – diesbezüglich ihre Köpfe zerbrechen.
Sollte das gegenseitige Nichtverstehen, in Anbetracht der fortschreitenden Internationalisierung, nicht sehr rasch zu einem Ende kommen, könnte dies Entwicklungen mit sich bringen, die für niemanden auf dieser Welt wünschenswert wären. Sollte – wenn ich mir zum Abschluss erlauben darf, eine spekulative Überlegung anzuschneiden – einer einflussreichen Gruppe vielleicht sogar daran gelegen sein, einen weltumspannenden Religionskrieg heraufzubeschwören, so bliebe zu hoffen, dass die Menschheit sich weigert, mitzuspielen. Zu viele Beispiele bietet die Geschichte, in denen dogmatisches Denken der Massen genutzt wurde, um sie als Kanonenfutter zu missbrauchen. Einer in diesem Bereich möglicherweise schwelenden Gefahr jedoch den Rücken zu kehren führt mit Sicherheit zu keiner Harmonisierung. Im Gegenteil. Insbesondere das gleichzeitige Auftreten von wirtschaftlichem Druck und auf Dogmen basierenden Spannungen könnte sehr rasch einen Flächenbrand auslösen, der nur schwer wieder zu löschen sein wird.