Bei Youtube taucht ein 15-minütiger Videoausschnitt schlechtester Qualität auf. Der Ursprung der Amateurproduktion, die sich gegen den Religionsgründer Mohammed richtet, bleibt unklar. Doch die Massen in arabischen und afrikanischen Ländern toben. Der Hass richtet sich gegen alles, was westlich ist. Diplomaten sterben. Botschaften brennen. Eine stereotype Welle der Gewalt. Hat man dort vergessen, die Menschen über „politische Korrektheit“ aufzuklären? Was können deutsche Botschaftsbeamte dafür, wenn einige Laienschauspieler in den USA ihre provokanten Ideen publizieren?
Es war zu Zeiten des Ersten Weltkriegs, dass Propaganda gezielt als Instrument des Krieges eingesetzt wurde. Denn tief verwurzelten Hass zwischen den Völkern gab es ja keinen, was sich am spontanen Weihnachtsfrieden zwischen Deutschen und Engländern im Dezember 1914 bestens unter Beweis stellte. Während daraufhin in Deutschland Briten und Franzosen als unmenschliche Monster porträtiert wurden, erfreute sich in England wiederum die Hetzschrift „The Beastly Hun“, womit der Deutsche gemeint war, höchster Beliebtheit.
Von ausgesprochenem Hass gegen Russen lässt sich zu Zeiten des Kalten Krieges zwar keineswegs sprechen, doch, wie sich ältere Jahrgänge noch deutlich erinnern, eine unsichtbare Barriere war nicht zu verleugnen. Natürlich richtete sich diese – nennen wir es Distanz – nicht gegen Bürger der DDR, gegen Tschechen, Slowaken oder Ungarn. Die waren ja selbst Opfer, litten unter der Unterdrückung durch die Sowjetrussen – um es grob zu umreißen.
Doch mit den Vorfällen des 11. September 2001 setzte eine ganz sonderbare Entwicklung ein. Der mysteriöse „Krieg gegen den Terrorismus“ wurde erfunden. Und was hat diese spezielle Art von Terrorist, die seit einem Jahrzehnt bekriegt wird, gemeinsam? Sie sind durchwegs Getreue Mohammeds, verachten die Dekadenz des Westens und sind, von blindem Hass erfüllt, bereit, ihr eigenes Leben zu opfern, um unserer westlichen Zivilisation zu schaden. Das perfekte Feindbild war geschaffen.
Doch langsam. So simpel dürfen wir es im 21. Jahrhundert natürlich nicht betrachten. Denn schließlich, was hat der barttragende muslimische Betreiber des Kebabstandes an der nächsten Straßenecke mit internationalem Terrorismus zu tun? Nicht zu Unrecht klagt dieser darüber, dass regelmäßig misstrauische Blicke auf ihn gerichtet sind. Zwar ist der Islam seine Religion, doch deswegen ist er noch lange kein Extremist.
Wie sieht es mit den oft eigenwillig gekleideten Menschen aus, die Freitags zur nächsten Moschee wandern? Welche Worte spricht der dortige Prediger? Ruft er seine Gemeinde dazu auf, Gutes zu tun und seinen Mitmenschen mit Nächstenliebe zu begegnen? Oder handelt es sich um eine Hasspredigt gegen die „Dekadenz des Westens“ – gegen die ungläubigen Bewohner des Gastlandes?
Von unserem Standpunkt aus betrachtet, sollten derartige Verdächtigungen erst gar nicht geäußert werden. Wir haben gelernt, Andersgläubigen, auch wenn sie sich noch so sonderbar geben, Respekt entgegenzubringen. Bloß weil wir in den Zeitungen lesen, dass es muslimische Fundamentalisten gibt, steht uns Bürgern deswegen noch lange nicht das Recht zu, alle Muslime für Fundamentalisten zu halten. Und wenn die deutsche Botschaft im Sudan von einer aufgebrachten Masse gestürmt wird, werden wir – als zivilisierte, gebildete Menschen – mit Sicherheit nicht jeden, der wie ein Sudanese aussieht, zur Rechenschaft ziehen.
So sehen wir es. Doch wie sehen des die Anderen?
Auf irgendeinem Fernsehsender hörte ich den Kommentator sinngemäß sagen, dass die Reaktionen in islamischen Staaten auf den provokanten Amateurfilm „The Innocence of Muslims“ vorherzusehen waren. Durch die unkontrollierten Ausschreitungen stellen die Massen gleichzeitig aber auch unter Beweis, dass sie sich genauso verhalten, wie es die anscheinend unbegründeten stereotypen Bezichtigungen vorzeichnen.
Unsere Zivilisation unterliegt zurzeit einem Experiment, wie es in der Geschichte bis jetzt noch kein Beispiel gab. Die einzelnen Kulturen mit ihren unterschiedlichen Denkweisen überlappen einander. Wenn auch in anderer Form, so zeigt der Westen seine Präsenz im „fernen Orient“ ebenso, wie der Orient sich im Westen zu etablieren beginnt.
Ich möchte jetzt noch einmal in aller Deutlichkeit unterstreichen, dass nicht jeder Angehörige der muslimischen Glaubensgemeinschaft ein Extremist ist, die westliche Lebensweise als dekadent betrachtet und sich Hass gegen sogenannte „Ungläubige“ in ihm aufstaut. Trotzdem wissen die meisten Deutschen herzlich wenig vom Weltbild der Muslimen. Während wir, auch mit christlicher Erziehung, die Welt von der materialistischen Seite her betrachten, steht für den Muslim der Wille Allahs deutlich im Vordergrund. Für uns ist religiöses Denken eine Lebenseinstellung, die sich ausschließlich auf den persönlichen Bereich beschränkt. Im Islam gibt es diese Grenze nicht. Allah ist allgegenwärtig. Und alles, was sich nicht mit den Grundsätzen des Koran vereinbaren lässt, ist Häresie.
Dementsprechend ist auch die Toleranzschwelle entsprechend niedriger. Die plötzliche Aufgebrachtheit richtet sich nicht nur gegen dieses eine Video. Dabei handelt es sich nur um die Spitze des Eisbergs – oder vielleicht um den Zündfunken. Es ist der gesamte westliche Lebensstil, der als Provokation erachtet wird.
Es ist so als hätten Sie einen Nachbarn, dessen Lebensgewohnheiten jeglicher gesellschaftlicher Norm widersprechen. Sie tolerieren die Art, wie er seine Hausfassade dekoriert, obwohl es rein gar nicht ins Bild der Nachbarschaft passt. Sie nehmen es hin, dass ständig laute und für Sie unerträgliche Musik gespielt wird. Dass sonderbare Besucher bei ihm aus und ein gehen, beobachten Sie zwar mit Misstrauen, doch würden Sie deswegen noch lange nicht daran denken, etwas gegen ihn zu unternehmen. Doch plötzlich beginnt er, Müll aus dem Fenster zu werfen, der gerade auf ihrem nagelneuen Mercedes landet.
Jetzt haben Sie aber genug. Jetzt entlädt sich der aufgestaute Ärger. Die Kratzer auf ihrem Auto sind dabei nur der Auslöser. Die innere Abneigung gegen den Nachbarn schwelte aber schon seit langem in Ihnen.
In praktisch allen westlichen Industriestaaten wurde das innere Bedürfnis jedes Menschen, von „seinesgleichen“ umgeben zu sein, Schritt um Schritt abgebaut. Wir geben uns dem durchaus noblen Ideal hin, dass es völlig reicht, Mensch zu sein. Das Einzige, was Menschen in unserer modernen Gesellschaft gemein haben, ist die Notwendigkeit, einer Arbeit nachzugehen. Der Rest fällt – unserer Ansicht nach – in den privaten Bereich, den jeder für sich selbst gestalten darf.
Doch diese Umerziehung, dieses Loslassen von traditionellen Denkweisen, beschränkt sich auf unsere westliche Kultur. In anderen Teilen der Welt sind Begriffe wie „Rassismus“ oder „Xenophobie“ noch lange nicht bekannt. Was nicht bedeutet, dass ein Fremder nicht willkommen ist. Doch Teil der eigenen Gemeinschaft kann er niemals werden.
Nur unter solchen Überlegungen lässt sich verstehen, wie es möglich ist, dass Menschenmassen ihrem Zorn gegen fremde Einflüsse gewalttätig Ausdruck verleihen.
Es geschieht nicht zum ersten Mal. Wir brauchen uns bloß an ähnliche gewalttätige Ausschreitungen nach mehreren Veröffentlichungen von Karikaturen erinnern, die als „Beleidigung des Propheten“ verstanden wurden. Damals legte sich der Unmut rasch wieder, nachdem einige Flaggen verbrannt wurden. Es bleibt zu hoffen, dass die derzeitigen Ereignisse einen ähnlichen Verlauf nehmen werden. Denn das Pulverfass, das jederzeit restlos explodieren könnte, steht nicht allein im fernen Orient. Der Zivilisationskonflikt könnte jederzeit auf Europa übergreifen. Vermutlich hängt es davon ab, wie die westlichen Autoritäten auf die Ausschreitungen, die sich gegen Botschaften richten, reagieren.
Ob derartige Entwicklungen wirklich so unvorhersehbar waren, darüber darf sich letztendlich jeder selbst seine Meinung bilden.