Donnerstag , 18 April 2024
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Bei Twitter entdeckt: Der Führer

obama_twitterIch habe heute etwas bei facebook eingestellt und Obama indirekt mit Hitler verglichen. Dabei habe ich nichts gegen den Mann – im Gegenteil. Ich gebe zu, der Einleitungssatz war reißerisch. Ich habe Obama natürlich nicht mit Hitler verglichen, doch man könnte das hinein interpretieren. Obama hat ein Twitter-Interview gegeben und seine erste Antwort umfasste an die 2.300 Zeichen. Das sind 16,428571 mal mehr Zeichen, als der Durchschnitts-User zur Verfügung hat, nämlich 140. Die Erklärung des Weißen Hauses auf diese Möglichkeit war die: „He’s the leader of the free world, he decides how short his answers will be.“ Ein trauriges Oxymoron, meine ich. Und – so leid es mir tut – ich musste einfach an Hitler denken. In Deutschland wurde er Führer genannt. Doch warum tut mir dieser Vergleich leid? Weil ich Obama – im Gegensatz zu einem Diktator – tatsächlich für progressiv und freiheitlich halte? Dabei kenne ich diesen Mann genauso wenig wie Hitler. Beide kommen zu mir durch Text und Bild.

Vielleicht hoffe ich einfach darauf, berühmt zu werden: „Der Mann, der Obama mit Hitler verglich!“ Aber lassen wir jetzt Hitler aus dem Spiel; er wurde schon genug ausgeschlachtet, zu unserer bis heute anhaltenden Demut. Meine Vorstellungen drehen sich um Blitzlichtgewitter, grimmige Anfeindungen durch heimliche Verehrer (Kritiker genannt) und gemeinhin verhohlene Bewunderung, die sich mir durch Google’s Autocomplete-Liste zeigt, wenn ich meinen eigenen Namen eingebe. So ähnlich wie bei Thilo Sarrazin. Ich habe eben zu wenig Ruhm, bin kein Boris Becker oder Guido Westerwelle (auch „Jido Fister Filly“ genannt von einem amerikanischen Tageblatt). Ich bin einer, der eine Meinung haben darf, weil sie relativ bedeutungslos ist. Willkommen im Club!

Der Kommentar des Weißen Hauses liest sich tatsächlich wie Hohn. Und sowenig ich berühmt werde durch meinen Vergleich, so wenig schert dieser Ausspruch die Öffentlichkeit. Haben wir, nein, brauchen wir einen Führer in einer freiheitlichen Welt, der Sonderrechte hat? Auf diesen Seiten wird in vielen Artikeln Bezug auf die große Zerstreuung genommen, die kleine oder große Keile zwischen uns treibt. Die Gesellschaft, die in einer als Demokratie bezeichneten Form zusammenlebt, kennt keinen Plebiszit, keine einheitliche Meinung, weil es keinen einheitlichen Plebs gibt. Ein Beispiel:

Ich bin im Osten der Republik aufgewachsen (übrigens leitet sich Republik von res publica ab – der Sache der Öffentlichkeit, der Sache des Volkes). Deutsche Demokratische Republik. Gleich drei Sachen auf einmal! Sie war Deutsch und war eine Republik: Geographisch in Mitteleuropa und alles war Volkseigentum. Aber war sie demokratisch? Sie wissen die Antwort. Als ich 14 Jahre alt war, gerade in die FDJ aufgenommen (oder hineingesteckt), fiel die Mauer – und ich fühlte Angst. Bananen waren mir einerlei, denn als der jüngste der Familie war es immer meine Aufgabe, stundenlang in der Konsum-Schlange zu stehen, bis mir meine Familienration grüner kubanischer Staudengewächse in’s Einkaufsnetz gesteckt wurden. Ich hasste sie! Duplo dagegen vermisste ich – einmal im Jahr durfte ich mit meiner Oma in den Intershop, Nase plattdrücken, hastig und tief den intensiven und abenteuerlichen Geruch von Billigseife und Kaffee einatmen, mir einen Matchbox aussuchen und ein Duplo heraustragen. Das hielt dann eine Woche. Der Geruch, den das entfaltete Duplo-Papier verströmte, hielt ungefähr drei Monate. Dann war kalter Entzug angesagt.

Doch die Sehnsucht nach Genuss, Geruch und Farbe war nicht groß genug, um zu sehen, dass der Mauerfall eine Befreiung war. Als ich in der „Arbeitsgemeinschaft Funkamateure“ Antennen zusammenbastelte, bekam ich ein ostdeutsches Heft in die Hand: „Signale im Äther“ . Zwischen Lobpreisungen sozialistischer Errungenschaften und Bauanleitungen für Funkgeräte stieß ich auf eine Seite, die mit einem schwarz-weiß Foto eines Bundeswehrsoldaten ausgefüllt war. Darunter stand: „Ich kämpfe aus Hass. Mein ganzer Zug kämpft aus Hass.“ Ein Zitat, das ein weiterer Stein in der mentalen Mauer meiner sozialistischen Prägung war. Und die andere Mauer war plötzlich weg. Einfach zerlegt. Das passte mir nicht. Die erste West-Literatur bekam ich von einem Schulfreund in der Kantine vorgesetzt: Ein Hardcore-Porno-Magazin in dem (fast) nichts ausgelassen wurde. Das war – in der Tat – hardcore für einen unbescholtenen 14-Jährigen. Dann kamen die Bravos. Dieses Magazin und alle anderen waren der Beginn einer neuen Ära der Entfremdung. Diese war nicht oktruiert und inszeniert. Sie war einfach Teil des neuen Systems, mit dessen grellen Farben und Eindrücken wir von da an zu leben hatten. Gierig wurde sich auf alles gestürzt, was „von Drüben“ kam. Verständlich.

Seit den 30er Jahren gibt es in meinem kleinen Heimatort das Kinder- und Heimatfest. Am ersten Wochenende im Juli traf sich der gesamte Ort und feierte: Die Erwachsenen in den Bierzelten, die Kinder auf den Karussells. Bei 20 Pfennig fing der Spaß an – und bei 50 Pfennig war ein halber Liter Bier drin. Der DDR kann man an dieser Stelle keine Spaltung der Gesellschaft vorhalten: Das Vergnügen war als solches echt und ohne Hintergedanken. Nach der Wende bot sich in den Bierzelten allerdings ein trauriger Anblick. Die vier Dorf-Suffköpfe waren die Einzigen – sie hatten nur ihren Standort aus der hiesigen Kneipe zum Zelt verlagert. Der Rest des Ortes putzte seine Gebrauchtwagen oder saß vor der Glotze. Die gesellschaftliche Viskosität hatte sich verringert, oder: Die Gemeinschaft hatte sich verdünnt.

Was hat das alles mit Obama zu tun? Einiges. Zwanzig Jahre nach meiner Mauerfall-Erfahrung hat sich die Lage nicht gebessert. Die wachsende Kluft in der Gesellschaft zwischen Arm und Reich ist das Resultat gesellschaftlicher Spaltung und Ellenbogen-Wettbewerb, die heute Freiheit genannt wird. Dass Amerika, selbsternannter „Leader of the free world“, hier großen Anteil trug, ergibt sich aus seiner Position als Siegermacht. Die Deutschen sind liberalisiert und domestiziert worden. Die begabten Barbaren wurden gezähmt – und das immerhin nicht zu ihrem Nachteil. Allerdings zahlen wir den Preis eines jeden Einwohners eines Industriestaates mit unserem gesellschaftlichen Verfall. Wir sind erzogen, Individualisten zu sein. Flexibel (Klartext: keine Familie), gebildet (Klartext: ökonomisch opportunistisch), anständig (Klartext: kaum gewaltbereit) und politisch korrekt (Klartext: alles, was nicht demokratisch ist, ist uns suspekt).

Die Russen dagegen wollten den Osten Deutschlands nicht. Die wollten Reparationen, die Adenauer nach mehrmaligen Anfragen abgelehnt hat. „Nehmt den Osten!“ Den nahmen sie: Ressourcen, Bahngleise, die Identität. War der folgende kalte Krieg nicht perfekt für das Wachstum der westlichen Siegermächte?

Und was hat uns das für unsere persönliche Entwicklung gebracht? Wie leicht fällt es Ihnen, Ihre Eltern eines Tages in ein Altersheim zu stecken? Es gibt für alles und jedes eine rationale Begründung, es gibt Prinzipien von Wirtschaftlichkeit, die Emotionen ausblenden – was für Entfremdung sorgt – von unseren Nachbarn, von unseren Freunden, von unserer Familie und von uns selbst. Dies ist ein System, dem ich meine Freiheit von Indoktrination verdanke, aber zugleich die Entfremdung von mir selbst. Aus den schier unbegrenzten Möglichkeiten, die mir nach der Wende propagiert wurden, konnte ich keine passende wählen. Tut mir leid. Dann habe ich eben Jura studiert. Und viele meiner Freunde sind Ingenieure, Architekten und Soziologen die beim Messebau arbeiten oder auswandern, statt in einem schicken Büro zu sitzen.

Das gibt mir immerhin Hoffnung: Ich bin doch nicht alleine.

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