Freitag , 19 April 2024
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53° 32′ 24“ Nord / 9° 58′ 58“ Ost

krusensternFür diese Sekunden scheint es so, als sei es ihm egal, dass der frische Herbstregen gegen sein Gesicht klatscht, als mache es ihm nichts aus, für diesen Moment schutzlos dem nasskalten Wetter ausgesetzt zu sein. Gebannt richtet sich sein Blick nach oben, während die Kapuze seiner Wetterjacke langsam immer weiter in Richtung Nacken rutscht, und dergestalt dem Niederschlag einen Weg über das gesamte Antlitz ermöglicht. Das über die Augen fließende Wasser zwingt seine Augenlider zu Schlitzen, bevor es sich irgendwo innerhalb der Jacke sammelt.

Vom Klüverbaum, und dann die rund 120 Meter Schiffslänge entlang, bis zum Heck der Viermastbark, ertasten seine Blicke ehrfurchtsvoll den alten Windjammer, erkunden sie diese ehrwürdige, stolze Dame der Weltmeere. Die großen, dicken Fender, die in regelmäßigen Abständen zwischen Schiffsrumpf und Ponton klemmen, geben knirschende, knarrende Laute von sich, wenn die Wellen der Elbe das Schiff, wie im Takte, gemächlich anheben und senken. Es ist die vertraute Sprache der Schiffe, sobald sie geborgen im Hafen liegen. Stolz vereinen sich die Masten mit dem Himmel, ragen vom Deck aus weit über 50 Meter in die Höhe. Masten, die 3400 m² Segelfläche tragen können. Zweifellos ein imposantes Bild. Das Segelschulschiff Krusenstern, es hat für einige Tage seine Leinen an der Landungsbrücke im Hamburger Hafen festgemacht, und nun ist er gekommen, um – ja – ein wenig zu träumen …

Segelschiffe ließen ihn immer schon träumen, das war von frühester Jugend an der Fall. Sicherlich hängt jene Leidenschaft nicht zuletzt auch mit seiner Liebe zu den Gewalten der Natur zusammen, mit seinem tiefen Respekt vor der uneingeschränkten Kraft des Wassers der Meere, mit seiner Ehrfurcht vor Wind, vor Sturm. Wind, Wolken und Wellen – für ihn sind jene Kräfte untrennbare und verlässliche Brüder. Wenn er sich recht erinnert, dann hatte sein Großvater den Grundstein dafür gelegt. Ein Mann, der, hier an dieser Stelle Hamburgs, bis ins hohe Alter hinein als Hafenkapitän tätig war; ein Mann, der sich sein Patent noch bei Wind und Wetter auf einem Rahsegler verdiente. Mit den gebräuchlichsten Begriffen der Seemannschaft hatte er ihn bekanntgemacht. So um die sechs, oder sieben Jahre alt mag er wohl gewesen sein, als ihn sein Großvater lehrte, wie man mit einem Seemannsknoten, einem Roringstek, ein Segelboot, eine Jolle, festmacht.

Hier, an den Landungsbrücken des Hamburger Hafens herrscht in der Regel ein reger Tourismusverkehr, der sich allerdings bei Schietwetter (so nennen die Hamburger liebevoll einen länger anhaltenden Regen) dann doch in Grenzen hält. So auch heute. „Mindestens Windstärke 5“, hört er sich denken, „das weisen die kleinen Schaumkronen, die sich auf den Wellenkämmen gebildet haben.“ Der Anlegeplatz ist so gut wie menschenleer. Ein paar Möwen fliegen kreischend im Kreis. Mehrere Schiffe fahren vorbei, zumeist Hafen-Schlepper, Barkassen und Fähren, die sich ihren Weg durch die sich langsam aufbauende See bahnen. Sie verdrängen Wasser, wühlen es auf. Ihre Bugwellen wandern sichtbar auch in Richtung Ponton, heben den massigen Schiffsrumpf der Krusenstern kurz an, senken ihn ab, lassen knirschend die Fender zu Worte kommen. Fast zeitgleich zwängt sich das Wasser zwischen Ponton und Schiff. Gischt spritzt auf.

Mit einem dumpfen Klatschen hinterlässt der weiße Schaum ansehnliche Pfützen auf dem ohnehin schon klatschnassen Anlegeplatz. Den Möwen scheint das nicht zu gefallen, jedenfalls nicht denen, die sich durch diese Kettenreaktion von ihrem Platze vorübergehend verdrängt fühlen. Sie fliegen davon. Eine von ihnen hat es sich auf einer der oberen Großmast-Rahen bequem gemacht, sitzt nun auf der Steuerbordseite auf dem äußeren Ende dieser Spiere, auf der Rahnock. Nun ja, diese Vögel sind bekanntlich schwindelfrei. Der Wind hat rasch zugenommen, lässt den Regen fortwährend seitlicher einfallen. „Bis zur Windstärke 6 könnte er sich in den nächsten Stunden durchaus noch entwickeln“, so sein Gefühl, „da baut sich dann eine Welle auf, die mühelos bis zu 4 Meter Höhe erreicht.“ Stets den Blick auf die Takelage gerichtet, schreitet er bedächtig die 120 Meter Schiffslänge vom Bug bis zum Heck ab.

Vom Schiff her ragen mehrere recht dicke, lange Leinen im spitzen Winkel bis an die Poller des Pontons, bilden im Gefüge eine zuverlässige Vertäuung. Bis auf das ziemlich genau Mittschiffs ausgebrachte Fallreep, eine Zugangstreppe, über die der Windjammer momentan hier im Hafen zu betreten und zu verlassen ist, sind jene Leinen – von den besagten Fendern abgesehen – die einzige Verbindung zwischen der Krusenstern und der Landungsbrücke. An jeder der Leinen bleibt er für einen Augenblick stehen, berührt sie, sieht an ihnen entlang, sieht bis zur Reling hoch. Es ist, als erwidere die Bark, hoch oben von den Mastspitzen her, seine Blicke, als würde sie in ihrer stillen Erhabenheit zu ihm hinunter sehen. Für Sekunden hat er das Gefühl, als könne er sich mit ihr unterhalten. Keineswegs erscheint ihm der Gedanke als lächerlich, nein, wenn man es möchte, und dann die Bereitschaft aufbringt zuzuhören, dann ist ein solches Zwiegespräch sehr wohl möglich.

Die eh bereits grau dunkle Wolkendecke verdichtet sich zunehmend, taucht das Geschehen in ein bedrohlich wirkendes Licht. Hoch oben verirrt sich der auffrischende Wind in der Takelage, lässt loses Tauwerk rhythmisch schwanken, behauptet sich ständig wieder, für den Bruchteil einer Sekunde, mit einem pfeifenden Geräusch, das nahezu ausnahmslos in einem scharfen Heulen mündet. Erneut bewegen Bugwellen-Ausläufer die Krusenstern. Ihre Leinen straffen sich, ziehen sich mit einem knappen, schrillen Quietschen konsequent enger um die Poller, um gleich darauf wieder Lose zu geben. Entsprechend reiben sich die Fender zwischen Rumpf und Ponton. Gischt spritzt auf. Wasser schwappt über die Kante des Pontons, das sich in dem Bereich zu einer beträchtlichen Lache formiert. Möwen fliegen kreischend über seinen Kopf hinweg. Eine fühlbare, dennoch aber angenehme Unruhe liegt in der Luft.

Wie gerne würde er den Windjammer einmal unter vollen Segeln auf dem Meer erleben, wenn der Wind die 3400 m² Segelfläche bläht und das Schiff zur Seite geneigt durch die Wellen rauscht. Den Blick noch einmal auf die alte Dame gerichtet, geht er ein paar Schritte rückwärts. „Du magst hier nicht liegen“, flüstert er dem Viermaster zu, „du gehörst hinaus aufs Meer, gehörst in die weite Welt der Ozeane. Doch, ich glaube, ich kann dich verstehen.“ Er wendet sich ab und geht. Momentan ist es nicht möglich, den Bereich des Pontons zu verlassen, ohne durch riesige Wasserpfützen zu waten. Da er ohnehin vom Regen durchnässt ist, ist es gegenwärtig eher eine belanglose Tatsache. An einigen Stellen schwimmt ein Ölfilm an der Oberfläche, lässt ihn in allen Spektralfarben schimmern. „Träume sind erlaubt“, sagt sich der alte Mann, „und manchmal, ja, manchmal bleibt es beim Träumen.“

© Peter Oebel

53° 32′ 24“ Nord / 9° 58′ 58“ Ost: Position des Hamburger Hafens nach Breiten- u. Längengraden

Klüverbaum: Spiere, die über das Vorschiff eines Segelschiffes hinausragt
Spiere: allgemeine Bezeichnung für ein Rundholz (z.B. Rah)
Rah: Spiere, die in der Mitte waagerecht an der Vorkante des Mastes beweglich befestigt ist
Bark: Großsegler mit mindestens drei Masten, der an den vorderen Masten Rahsegel trägt
Rahsegel: rechteckiges Segel, das an einer Rah gefahren wird
Fender: ein aus (meistens) elastischen Materialien gefertigtes und scheuerfestes Schutzpolster
Takelage: das gesamte Geschirr, das zum Ausnutzen der Windenergie an den Segeln notwendig ist
Ponton: kastenförmiger Hohlkörper als schwimmender Tragteil für einen Anleger
Poller: verankerter, starker, oft pilzförmiger Pfahl aus Holz oder Metall zum Festmachen v. Leinen

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