Donnerstag , 28 März 2024
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Auf Zeitreise im Leipziger Grassimuseum

grassimuseum

An einem blauweiß sonnigen Maitag fahre ich nach Leipzig, um das Grassimuseum zu besuchen. Genauer gesagt das Museum für Angewandte Kunst, das neben den Museen für Völkerkunde und Musikinstrumente im Grassi am Johannisplatz beheimatet ist. Zu Hause habe ich die Geschichte des Museums nachgelesen, das ich in den Sechzigern mehrmals mit der Schulklasse besuchte und das mich schon damals sehr beeindruckt hatte. Der imposante Gebäudekomplex wurde zwischen 1925 und 1929 als Neues Grassimuseum hinter der Johanniskirche errichtet, nachdem das ursprüngliche, zwischen 1892 und 1895 entstandene Gebäude am heutigen Wilhelm-Leuschner-Platz, für die zahlreichen Sammlungen zu klein geworden war. Die Mittel für den ersten Bau, dem heutigen Domizil der Stadtbibliothek, stammten aus dem der Stadt vermachten Millionenerbe des Kaufmanns Franz Dominic Grassi (1801-1880). Leipzig bedankte sich bei dem großzügigen Spender, indem es dem Museum seinen Namen gab.

Im Zweiten Weltkrieg wurden Grassimuseum und Johanniskirche stark zerstört. Während die Gebäudeschäden des Museums nur notdürftig behoben wurden, konnten die Sammlungen durch Auslagerung weitestgehend bewahrt werden. Die Ruine des Johanniskirchenschiffs wurde 1949 und der Kirchturm – trotz vorangegangener Teilsanierung – am 9. Mai 1963 gesprengt. Die dort befindlichen Gebeine Bachs wurden in die Thomaskirche, die Gebeine Gellerts in die Paulinerkirche und nach deren Sprengung am 30. Mai 1968 auf den Leipziger Südfriedhof überführt. Der Alte Johannisfriedhof blieb erhalten und wird mit seinen schönen, alten Bäumen weiterhin als museale Parkanlage genutzt, auf deren Rasenflächen und an den noch vorhandenen Mauern viele historische Grabsteine zu bewundern sind.

Es ist mein erster Besuch, seit das ehemalige Museum für Kunsthandwerk nach umfassender Sanierung und Modernisierung 2007 als Museum für Angewandte Kunst wiedereröffnet wurde. Zuvor war ich mehrmals auf den 1997 wiederbelebten Grassimessen und schaute mir neue Trends im Kunsthandwerk und Industriedesign an. Seit Jahrzehnten in Halle lebend und mit zahlreichen Künstlern befreundet, die an der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein studiert hatten, kannte ich die Entwicklungen in Keramik und Porzellan, Schmuck und Design, Malerei und Bildhauerei und war daher eine aufmerksame Grassimessenbesucherin.

Vom Augustusplatz kommend, leuchtet mir der Art Deco-Schmuck des Grassi entgegen, bevor ich das repräsentative Gebäude aus der Nähe bewundern kann. Nach Passage des äußeren Eingangs und ersten Innenhofs gelange ich in das großzügige Innere des Museums und von dort an das Ziel meiner heutigen Reise: dem ersten, 30 Räume umfassenden Ausstellungsrundgang „Antike bis Historismus“ der neu konzipierten, ständigen Ausstellung des Museums für Angewandte Kunst. Dem zweiten Rundgang „Asiatische Kunst. Impulse für Europa“ werde ich ein anderes Mal folgen. Der dritte und letzte Rundgang „Jugendstil bis Gegenwart“ wird voraussichtlich Ende 2011 eröffnet werden. Mit seinen dann drei Ausstellungsrundgängen lädt das Museum zu „einer Reise durch 2500 Jahre Kunst- und Kulturgeschichte“ ein.

An diesem Wochentag sind nur wenige Besucher in den Räumen. Ich habe Zeit und Platz genug, mich auf die kunstgeschichtliche Zeitreise einzulassen, auf den gepolsterten Bänken auszuruhen und die Welt um mich mit ihrer Kunst und ihrem Kunsthandwerk zu betrachten. Im dritten Raum begegne ich der Gotik. Zuerst den Truhen, Krügen, Ofenkacheln und die Minne darstellenden Wandbehängen und danach der sakralen Schnitzkunst mit mehreren, mich sehr beeindruckenden Altären. Im siebten Raum beginnt die Renaissance mit einer wunderbaren Kassettendecke aus einer Leipziger Villa, von deren Bewohner dem Museum geschenkt. Überall lese ich von Schenkungen Leipziger Bürger, von Ankäufen und Restaurierungen, durch zahlreiche Spenden finanziert. Dies lesend, erwacht mein Stolz, geborene Leipzigerin zu sein und den Geist der Leipziger Bürgerkultur, mit ihrem Bildungsstreben und öffentlichem Engagement, in mir zu spüren.

Im Raum 14 sitze ich lange vor einem barocken Kabinettschrank, betrachte seine schönen Intarsien und denke dabei an die heutige Welt mit ihren vielen Ablenkungen. Ich frage mich, ob all das auch entstanden wäre, wenn die Menschen vor Jahrhunderten schon genügend Ablenkungen gehabt hätten? Oder hätte sich trotzdem alles genauso entwickelt, weil es in jeder Zeit etwa gleich viele Künstler und Kunsthandwerker gibt? Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass ich bald wieder Gast im Grassimuseum sein werde. Spätestens nach Eröffnung des letzten Ausstellungsrundgangs „Jugendstil bis Gegenwart“.

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