Donnerstag , 28 März 2024
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Lena und die verpasste Chance? – Eine strategische Analyse

lena_meyer_landrutDer „Song für Deutschland“ steht fest. Es ist „Taken by a stranger“, eine Psychodelic-Mystery-Bontempi-Orgel-Nummer, gesungen von Deutschlands Froilein-Fistel-Stimme-Wonder. Und auch, wenn sich meine einleitenden Sätze anhören, als stünde ich dem Ganzen eher satirisch gegenüber, so möchte ich diesem ersten Eindruck dennoch widersprechen. Es ist der fanatische Stratege in mir, der angefangen hat, das ganze Getue um Lovely-Lena plötzlich ernst zu nehmen. Doch vorab eine Entschuldigung in eigener Sache:

Ich stehe weder auf Schlager noch auf dessen so genannter Europameisterschaft. In meinem ganzen Leben habe ich letztere insgesamt nur dreimal gesehen: Als Stefan Raab persönlich antrat (weil ich es witzig fand), als Guildo Horn antrat (weil ich es witzig fand) und als Lena teilnahm (weil ich dem Song „Satellite“ ernsthafte Chancen einräumte). Selbst als Nicole mit „Ein bisschen Frieden“ gewann, habe ich nicht zugesehen, obwohl ich damals mit bereits 18 Jahren schon alt genug für die FSK gewesen wäre.

Zurück zum Thema. Ursprünglich hatte ich auch nicht vor, die Auswahl des Düsseldorfer Songs zu verfolgen. Ich war noch nicht müde und so gab es unter diesen Umständen nichts Besseres zu tun. Also schaute ich mir die Halbfinals und das Finale an.

Und als ich im zweiten Halbfinale „Push Forward“ hörte, war es um mich geschehen. Von da an war ich dem Ausgang dieses Kasperle-Theaters verfallen. Warum? Weil mich die Strategie an der Sache reizte. Das habe ich mit Stefan Raab gemeinsam. Auch er betonte im Finale, dass sich sein Favorit (Taken by a stranger) nicht aus dem Song selber, sondern aus der Strategie nährt, die er (Raab) mit diesem Song verbindet.

Seien wir mal ehrlich. Nach menschlichem Ermessen dürfte Lena nicht den Hauch einer Chance haben, ihren Titel zu verteidigen. Warum nicht? Zunächst das Naheliegende: Lena kann nicht singen. Alle 12 Songs, die auf ihrem neuen Album sind – und die insgesamt 6 Stunden Sendezeit auf Pro7 und ARD für die Auswahl zum „Unser Song für Deutschland“ waren nichts anderes als eine 6stündige Dauerwerbesendung für ihr neues Album – alle 12 Songs sind großartig und das meine ich ganz ehrlich. Tolle Titel. Wirklich tolle Komponisten, Melodien und Texte,.aaaaber…. ich würde diese Songs wirklich gerne einmal hören, wenn sie von einer Stimme gesungen würden, die etwas mehr Volumen und Bandbreite hat. Es muss nicht gleich Whitney Houston oder Mariah Carey sein, aber ein wenig mehr Volumen, das diesen tollen Songs Tiefe verleiht. Sei’s drum. Der Meister hat entschieden, Lena solle ihren Titel verteidigen, also lassen wir es dabei.

Der zweite Grund, warum Lena eigentlich (ich betone: eigentlich) keine Chance hat: Sie ist jetzt schon verbraucht. Der Grund, warum sie in Oslo gewonnen hat, ist der Lovely-Effekt eines hübschen und unkonventionellen Mädchens verbunden mit einem wirklich (ganz, ganz ehrlich) herzerfrischenden Ohrwurm wie Satellite. Sowas hat man nun mal nicht alle Tage und schon gar nicht zweimal hintereinander. Würde sie jetzt erneut einen solchen Girly-Guten-Laune-Song singen, würden sich die Zuschauer Europas müde abwenden und deswegen haben die deutschen Zuschauer keinen einzigen dieser Girly-Gute-Laune-Songs ins Endfinale gewählt. Zu Recht! Obwohl sie gut sind. Mit „What happened to me“ oder „Mama told me“ hätte Lena zweifelsohne Riesenchancen gehabt, würde sie mit einem dieser Titel das erste Mal beim ESC auftauchen. Aber nicht zum zweiten Mal. Das hatten die Deutschen gut im Gespür!!

Kommen wir zurück zu der von mir so hochgehandelten Strategie. Nochmal zusammengefasst: Lena kann den Titel nicht verteidigen, weil sie nicht gut singt. Sie kann ihn nicht verteidigen, weil sie ganz unkonventionell einen Girly-Guten-Laune-Song in verdrehtem Englisch singt, „das hatten wir schon“, werden sich die finnischen und rumänischen Zuschauer sagen. Und sie kann ihn nicht mit ihrem wohltuend unbekannten hübschen Gesicht verteidigen, denn es ist inzwischen ein bekanntes.

Mit anderen Worten: Lena hat keine Chance, und die sollte sie nutzen. Das ist für mich das eigentlich Spannende. Wie funktioniert so was? Wie kann man über alle europäischen Grenzen und Kulturen hinweg alle Menschen zu Begeisterungsstürmen hinreißen für eine abgenudelte Kamelle?

Indem man ihren Erwartungen widerspricht. Das ist der einzige Weg. Und genau hier setzt Raabs Strategie an: „Laß uns „Taken by a stranger“ nehmen, denn dieser psychodelische Mystery-Bontempi-Orgel-Song wird sich in dem ganzen bunten Glitzer-Remmidemmi-Eurovision-Gemetzel als der einzige Song erweisen, der in Erinnerung bleibt.“ Das ist gut und Raab, der Meister, hat das Publikum so dermaßen auf diesen Song eingeschworen, dass es ihm folgte. Leider! Denn das Attribut, dass dieser Song anders ist als alle anderen, die in Düsseldorf präsentiert werden, ist sein einziges Attribut. Denn dann, ja, dann, hätte man auch einen Moik’schen Altbackenschlager nehmen können. Der hätte dasselbe Attribut gehabt.

Mein Favorit, und das sage ich ganz ehrlich, wäre „Push Forward“ gewesen, der zweitplazierte Song. Dieser Song hätte, richtig in Szene gesetzt, den Erwartungen aller Menschen, über alle europäischen Grenzen und Kulturen hinweg, am besten widersprochen. Es ist zwar nur eine, wenn auch wunderschöne, Ballade, aber das Lied hätte eine Geschichte erzählt, die die Menschen in Europa zu Tränen gerührt hätte. Und zwar die Fortsetzungs-Geschichte vom Vorjahres-Siegersong Satellite.

Denn was gibt es Erfolg versprechenderes als die Magie, die in einem unerwarteten Widerspruch steckt?

In Oslo sang Lena von einer absolut bedingungslosen Liebe, völliger Hingabe und zweifelsfreier Zugehörigkeit. Ein Jahr später in Düsseldorf singt sie mit „Push Forward“ vom Ende eben dieser ursprünglich so bedingungslosen und eben damit (nur scheinbar) zweifelsfreien Zugehörigkeit. Was dem Ganzen noch die Krone aufsetzt: In „Push Forward“ glaubt Lena, dass sie selbst schuld ist an diesem Ende „Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und etwas anders machen“.

Es ist nicht allein der Song, sondern die mit ihm verbundene Erzählung einer ganzen Geschichte, die sich in dem Jahr zwischen Oslo und Düsseldorf – fiktiv – ereignet hat. Das ist Identifikation pur für alle Menschen.

Eben diese Mischung aus dem Inhalt des Vorjahressongs und dem diesem widersprechenden Inhalt des Jetzt-Songs und dem zu diesem Widerspruch passenden Bühnenbild und Outfit hätte dazu führen können, dass aus der allgemein angenommenen Null-Chance für Lena jene wird, die man sprichwörtlich nutzt.

Insbesondere, wenn man den Mut hat, auch die Zuschauererwartungen mit dem Zauber eines Widerspruchs zu konfrontieren. Ich bin mir sicher, dass die Zuschauer in ganz Europa erwarten, dass sich die Vorjahressiegerin gegenüber ihren konkurrierenden Kollegen als gereifter und inzwischen über ihnen stehender Profi-Star herausputzen und präsentieren wird.

Widersprechen wir dieser Erwartung. Was wäre passiert, wenn ausgerechnet dieser Song nicht mit perfekter Frisur und in einem Kleid, dessen Eleganz einer Preisverleihung würdig wäre, präsentiert wird? Dieser Song wird von einem Mädchen gesungen, das sich auch äußerlich vernachlässigt, weil es sich in seinem Kämmerchen vor der Gegenwart versteckt und mit sich und seiner Schuld hadert.

Ich bin mir sicher, die Zuschauer hätten, ebenfalls mit der noch lebendigen Erinnerung an die himmelhochjauchzenden Eidesformeln aus Satellite, nicht anders gekonnt, als den Wunsch zu verspüren, dieses unscheinbare und traurige Mädchen, das sie eigentlich in einem Star-Outfit erwartet hatten, in ihre tröstenden Arme zu schliessen und Lena profitiert von einem „Lovely-Effekt“, den die Menschen nunmehr am anderen Ende des Regenbogens des Lebens entdecken.

Stattdessen präsentiert unser Froilein-Fistel-Stimme-Wonder einen Song, der halt nur irgendwie anders ist, als alle anderen. Genauso wie ein Moik’scher Altbacken-Schlager. Vielleicht behält der Meister ja recht, aber ich finde es schade. „Push Forward“ wäre die logische Folge von „Satellite“ gewesen. Jene Folge, die viele Menschen aus eigenem Erleben kennen.

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