Im Kreise der Familie meiner Frau dürfen wir den Alltag Chinas miterleben. Wir genießen die ausgesprochene Gastfreundschaft, die durch besondere Sympathie für die deutsche Kultur noch deutlich unterstrichen wird. Vieles durften wir während der vergangenen Wochen erleben, und vieles ist mir durch den Kopf gegangen. In Deutschland wissen wir sehr wenig über China – und von dem wenigen ist vieles noch dazu grundfalsch. Erlauben Sie mir noch einmal, über meine Erlebnisse – und dieses Mal auch über meine Gedanken – zu berichten.
In Changsha werden wir von einem Freund am Flughafen abgeholt. Er ist ein ehemaliger Kommilitone meiner Frau, und wir treffen ihn und seine Familie regelmäßig, wenn wir in Changsha sind. Die Wiedersehensfreude ist natürlich groß, und auf der Fahrt nach Hause werden erst einmal Neuigkeiten ausgetauscht.
Meine Frau und er unterhalten sich fröhlich in dem mir völlig unverständlichen Changsha-Dialekt, und so nutze ich derweil die Gelegenheit, mir während der Fahrt anzuschauen, wo und wie sich die Stadt wieder einmal verändert hat. Als erstes fällt mir auf, wie ruhig Changsha im Vergleich zu früher geworden ist. Vor drei Jahren, als wir das letzte Mal hier waren, ging es auf den Straßen noch ausgesprochen wüst zu, Lärm und Verkehrschaos waren unbeschreiblich. Inzwischen wurden sehr viele neue Straßen gebaut, was den Verkehr, zumindest außerhalb der Innenstadt, doch erheblich entzerrt hat. Dies wiederum wirkt sich augenscheinlich dämpfend auf den in China sehr beliebten Gebrauch der Hupe aus. Die neu angelegten Straßenzüge sind breit, fast schon Boulevards, und beiderseits mit ansprechenden Grünanlagen gesäumt. Nebenbei erfahre ich, dass in Changsha zudem inzwischen eine U-Bahn gebaut wird, 2014 soll sie fertig sein. Das traue ich den Chinesen durchaus zu – ich würde mich nicht mal wundern, wenn sie es sogar früher schaffen.
Wir fahren durch neu erbaute Wohngebiete, und die können sich ebenfalls sehen lassen. Natürlich baut man wegen der Masse der unterzubringenden Menschen vor allem in die Höhe, aber um diese Häuser herum werden weitere Grünzonen angelegt, die diese Wohngebiete durchaus ansehnlich erscheinen lassen. Die gleiche Entwicklung ist uns bereits in Zhengzhou und anderen Städten aufgefallen. Die Lebensqualität in China steigt offensichtlich von Jahr zu Jahr – nicht für alle Chinesen, aber für immer mehr.
Und dann sind wir zu Hause – Mama und Papa begrüßen uns überschwänglich. Wir wohnen auf dem Campus-Gelände der Hunan Radio & TV Universität. Hier haben Mama und Papa als ehemalige Lehrer eine eigene Wohnung und meine Frau und ich ein kleines Zimmerchen für uns. Endlich können wir einmal die Koffer ganz auspacken und brauchen nicht mehr aus dem Rucksack zu leben. Und das Vorhandensein einer Waschmaschine hat auch seine Vorzüge.
Meine Frau packt als Erstes ihre Mitbringsel aus. Als echte Tochter Chinas hat sie extra einen großen Koffer mitgeschleppt, und diesen bis zum Anschlag mit Geschenken für Freunde und die liebe Familie vollgestopft. Nachdem sie all diese Herrlichkeiten erst einmal auf dem Tisch gestapelt hat, ist ihr Koffer trotz darin verbleibender Bekleidung plötzlich erstaunlich leer. Mit keimt allerdings der Verdacht, dass dies nicht so bleiben wird: Exilchinesen pflegen nämlich nach einem Besuch in der Heimat schwer mit den Schätzen des Orients beladen wieder heimwärts zu ziehen. Mit Vorbedacht hat mein Schatz daher auch eine recht übersichtliche Menge an Kleidung eingepackt: Der nun frei gewordene Platz im Koffer wird noch gebraucht.
Wir entspannen uns aber erst einmal und tauchen ins Familienleben ab. Das Leben in der Universität hat durchaus seine Vorteile: Beispielsweise kann man das Frühstück bequem in der fünf Minuten zu Fuß entfernten Mensa kaufen – chinesisches Frühstück, versteht sich. Für jeden Geschmack wird etwas geboten: Nudel- oder Reissüppchen für den, der es mag. Für Andersgläubige sind Jiaozi (mit Fleisch und Gemüse gefüllte halbmondförmige Teigtaschen), Baozi (runde Teigtaschen mit Fleisch-Gemüsefüllung), Dabin (flache Teigtaschen mit unterschiedlichen Füllungen) und verschiedene Pfannkuchen im Angebot. Mantou (merkwürdig schmeckende Teigklopse ohne Füllung) sind auch sehr beliebt, zudem gibt es Youbin (frittierte Teigtaschen) und diverse süße Teigwaren. Zum sozialistischen Vorzugspreis von 6-7 Yuan – knapp 1 Euro – kann man sich problemlos satt essen, und das gar nicht mal schlecht. In Verbindung mit meinen Tassenportionen Kaffee geben diese Leckereien ein durchaus brauchbares Frühstück ab.
Also decken wir uns morgens früh in der Mensa ein, ziehen vollbeladen wieder in die heimatlichen vier Wände, und frühstücken dort genüsslich im Kreise der Familie. Zu allem Überfluss habe ich im nahegelegenen Supermarkt sogar noch Orangenmarmelade entdeckt, welche ich zur Bereicherung des morgendlichen Speisezettels freudestrahlend mit nach Hause bringe. Dort angekommen muss ich allerdings feststellen, dass ein Messer oder ein Kaffeelöffel zum Entnehmen der Köstlichkeit in Mamas völlig auf chinesische Küchenwerkzeuge ausgerichtetem Haushalt nicht existieren. Ich nehme es gelassen und praktiziere fortan als meditative Übung das Essen von Marmelade mit Stäbchen.
Mittags und abends werden wir von Mama bekocht – und das nach allen Regeln der Kunst. Und sie lässt sich fürwahr nicht lumpen: Tag für Tag zieht Papa los und kauft alles frisch ein, was mittags und abends in den Wok und auf den Tisch kommen soll. Danach übernimmt Mama das Regiment und führt die eingekauften Köstlichkeiten ihrer Verarbeitung zu. Und schon bald ertönt es aus der Küche: chi fan la, chi fan la – das Essen ist fertig. Das Ergebnis kann sich jedes Mal sehen und schmecken lassen – die Hunan-Küche ist ausgesprochen empfehlenswert. Manches ist allerdings für europäische Gemüter doch etwas gewöhnungsbedürftig. So werden zum Beispiel Hühnchen, Enten und anderes Getier nicht, wie bei uns üblich, mühsam entbeint, bevor man es in Frikassee verwandelt. Chinesen sind da weit praktischer veranlagt: sie schneiden die lieben Tierchen kurzerhand mit Geflügelschere oder Hackmesser kurz und klein, und dann wandern die mundgerechten Stücke mitsamt den Knochen in den Wok. Erst beim Essen wird das Fleisch vom Knochen getrennt, gewissermaßen im Mund. Xi guan jiu hao la – wenn man sich daran gewöhnt hat, geht es.
An noch etwas muss man sich in Changsha gewöhnen: Es regnet. Es regnet kräftig. Changsha ist gewissermaßen das Wuppertal Chinas. Und wenn es in Changsha regnet , dann regnet es ausgesprochen reichlich – um nicht zu sagen: es schüttet. Die Temperatur liegt dabei um die 25 Grad, manchmal sogar mehr, und die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass frisch gewaschene Baumwollkleidung sogar nach Tagen immer noch feucht auf der Leine hängt. Es empfiehlt sich daher, für Reisen in diese Breitgrade unbedingt die Mitnahme von schnelltrocknender Outdoor-Bekleidung – es sei denn, man sieht es als besonderes Vergnügen an, feuchte Sachen zu tragen.
Das Leben auf dem Campus bietet jedoch gottlob auch für Regentage genügend Betätigungsmöglichkeiten: Beispielsweise ist Ping Pong bei Mama und Papa sehr beliebt. Papa ist stolze 73 Jahre alt, flink wie ein Wieselchen auf den Beinen, und spielt ausgesprochen hinterhältig Tischtennis. Wir beide schenken uns nichts und jagen uns gegenseitig volle anderthalb Stunden um die Platte. Am Ende steht ein Patt, wir sind beide schweißgebadet, und obwohl ich gut und obwohl ich gut trainiert bin, muss ich neidlos anerkennen: Der alte Herr ist fit wie Schmitz‘ Katze!
Abends schauen wir Nachrichten. Die Art der Berichterstattung unterscheidet sich allerdings deutlich von der vieler deutscher Nachrichtensender: In Deutschland pflegt man dem Fernsehzuschauer oder Radiohörer die Meinung, die er sich zu bilden hat, bei den Nachrichten oft gleich mitzuliefern – gewissermaßen als Service des Hauses. Dies geschieht recht subtil, man muss genau hinhören: Wird beispielsweise von regulären Truppen eines missliebigen Regimes berichtet, so spricht man gern von Schergen, Soldateska oder gar Handlangern. Dem gegenüber stehen meist Freiheitskämpfer – die Guten. Auch bei anderen Themen pflegt man gern diese Vorgehensweise – schauen und hören Sie daheim einfach mal genau hin, Sie werden sich wundern. Für den Zuschauer ist dies sehr praktisch und leicht verdaulich, das Denken wird ihm freundlicherweise abgenommen. Böse Zungen jedoch bezeichnen diese Art der Berichterstattung als Propaganda.
Nicht so in China – man höre und staune: hier beschränken sich Nachrichtensendungen strikt nach guter alter Journalistenregel auf die blanke, sachliche Mitteilung von Fakten, ohne dass wie bei uns die Bewertung gleich mit eingeflochten wird. Die Meinung kann sich der geneigte Hörer selbst bilden. Natürlich gibt es auch persönliche Ansichten, allerdings nicht in Nachrichtensendungen, sondern in Interviews und Kommentaren, so wie es sein soll. Dies haben wir nicht nur einmal, sondern immer wieder erlebt, und ich muss sagen: Ich finde dies sehr viel sauberer als die häufig ausgesprochen manipulative Berichterstattung bei uns.
Zurück zur Familie: Familienbesuche in China sind immer ein Erlebnis. Jeder will uns sehen, zumal ich die einzige „Langnase“ im weiteren Umkreis bin. Wir werden buchstäblich durchgereicht – China, wie es leibt und lebt. Freunde laden uns zum Essen ein, Familie kommt sogar von weit her zu Besuch, immer wird erzählt, gelacht, und ausgiebig diskutiert. Gewissermaßen als Krönung sind wir noch zu einem opulenten Hochzeitsessen geladen. Eine entfernte Cousine meiner Frau hat geheiratet, was im großen Stil gefeiert wird: Ein Festessen mit rund 300 Personen in einem hochvornehmen Hotel ist angesagt. Dort lässt man es richtig krachen. Chinesen sind ohnehin keine leisen Zeitgenossen, und auf solchen Festen erst recht nicht. Zu ohrenbetäubender Musik werden noch lautere Unterhaltungen geführt. Ich frage mich unwillkürlich, warum sich Joshua weiland vor Jericho die Mühe gemacht hat, mit Prozession und Trompetenschall tagelang um die Stadt zu tippeln, um endlich ihre Mauern zum Einsturz zu bringen. Er hätte nur mit ein paar Chinesen vor den Stadttoren eine rauschende Party feiern müssen – von den Mauern wäre kein Stein auf dem anderen geblieben.
Ich lerne wirklich reizende Leute kennen, und werde mit einer unglaublich umwerfenden Herzlichkeit begrüßt und aufgenommen, was mir übrigens in China immer wieder so ergangen ist. Dann nimmt mich meine Göttliche ins Schlepptau und wir ziehen, der guten Sitte entsprechend, mit einem Glas Wein bewaffnet von Tisch zu Tisch, um Freunden und Verwandten zuzuprosten. Um den Nachschub brauchen wir uns nicht zu sorgen: Wein, und auch stärkere Getränke, sind an jedem Tisch reichlich vorhanden, und bevor man auch nur Amen sagen kann, ist das Glas wieder voll und es kann weiter gehen. Danach machen sich die lieben Verwandten ihrerseits auf, um die feucht-fröhlichen Höflichkeitsbesuche an den diversen Tischen zu erwidern.
Eine Begegnung berührt mich besonders: Eine Schwester meines Schwiegervaters, eine einfache, aber herzensgute Frau und tiefgläubige Buddhistin, erzählt uns, dass sie acht Jahre lang ihren Mann, der wohl nicht sehr gut zu ihr war, gepflegt hat – bis zu seinem Tode. Danach erkrankte ihre Mutter schwer, so dass sie diese ebenfalls drei Jahre bis zu ihrem Ende gepflegt hat. Nun könnte man meinen, dass sie nach all dem müde, erschöpft und vielleicht auch ein wenig bitter geworden sei. Doch weit gefehlt: Sie sagt uns, sie sei zutiefst dankbar für die Chance, die sie durch diese Mühen erhalten habe. Ich bin zutiefst bewegt. Um so weit zu kommen muss ich wohl noch ein paar Leben absolvieren.
Und hier, liebe Leser, gestatten Sie mir, dass ich mich zurückziehe. Es gäbe zwar noch vieles mehr, was des Berichtens wert wäre, aber von nun an wird es rein privat. Daher möchte ich mich an dieser Stelle mit ein paar grundsätzlichen Gedanken von Ihnen verabschieden:
China wird uns in den westlichen Nachrichten oft und gern als ein Land beschrieben, in dem ein diktatorisches Regime die Menschenrechte mit Füssen tritt und die Umwelt rücksichtslos zerstört wird. Ein Land, in dem Minderheiten und deren Kultur unterdrückt werden; ein Land, das eigenen technologischen Fortschritt durch die Kopie westlicher Technik vorantreibt – und so weiter und so fort. Die Liste der immer wieder erhobenen Vorwürfe gegen China ließe sich fortsetzen.
Allerdings werden diese Behauptungen durch die dauernde Wiederholung nicht richtiger, wie man schnell selbst feststellen kann, wenn man sich einmal selbst nach China begibt und sich diesem Land unvoreingenommen nähert. Von besagter Unterdrückung haben wir, wie bereits berichtet, absolut nichts feststellen können – ein Gefühl der Unfreiheit hatten wir in all den Jahren, die wir China schon bereisen, noch nie.
Ethnische Minderheiten hat China viele, über 50 an der Zahl, und diese werden mitnichten unterdrückt, sondern sie alle genießen sogar allseits akzeptierte Privilegien gegenüber der Han- Mehrheit: z.B. Befreiung von der Ein-Kind-Politik, vereinfachte Zugangskriterien zu Hochschulen, steuerliche Vergünstigungen oder bei Bedarf finanzielle Unterstützung bei den Kosten eines Studiums. Selbstverständlich sprechen sie ihre eigenen Sprachen, wie wir selbst erlebt haben, obgleich natürlich an den Schulen auch Mandarin gelehrt wird, da dies die offizielle Amtssprache ist. Unruhen in Tibet oder Xinjiang werden oft nicht nur von außen freundlich gefördert, sondern unsere westlichen Medien „vergessen“ gerne auch zu berichten, dass solche Ausschreitungen allzu oft damit beginnen, dass, wie z.B. 2008 in Tibet, unbeteiligte Han-Chinesen ermordet werden, und erst infolgedessen dann bewaffnete Kräfte einschreiten. Dies allerdings hat umgehend für empörtes Getöse in der westlichen Welt gesorgt, während man über die toten Chinesen kaum ein Wort verloren hat – wie erbärmlich! Als ob ernsthaft jemand glauben würde, dass in Deutschland oder den USA Polizei und Militär tatenlos zusehen würden, wenn eine Minderheit damit beginnen würde, eine fröhliche Hatz auf andere zu veranstalten!
Auch in Sachen Umweltschutz tut sich in China vieles, was bei uns verschwiegen wird: Es werden in vielen Großstädten U-Bahnen gebaut, um den Verkehr zu entzerren und von der Straße zu bekommen. Es wird aufgeforstet, und oft haben wir Schilder und Werbungen gesehen, die die Bevölkerung zum Umweltschutz anregen sollen. Alte Fahrzeuge verschwinden mehr und mehr aus dem Straßenbild der Städte, in der Masse fahren dort nun neue aus europäischer, japanischer, koreanischer, amerikanischer und zunehmend auch eigener Produktion. Wussten Sie, dass in China so gut wie alle benzinbetriebenen Motorroller verschwunden sind? Stattdessen fahren Millionen elektrisch angetriebener Zweiräder nahezu lautlos durch die Städte, was die Luftqualität und den Geräuschpegel erheblich verbessert hat. Ich habe als Asthmatiker jedenfalls in China keine nennenswerten Probleme. In Europa und den USA ist man zwar immer schnell damit bei der Hand, den mangelnden Umweltschutz anderer Länder kritisieren, die benzinbetriebenen Motorroller hingegen hat man bis heute nicht von der Straße bekommen. Oder könnte es sein, dass bei uns vielleicht die Interessen der Mineralöllobby heimlich den Ton angeben?
Was das Kopieren westlicher Technik angeht – das haben die Chinesen inzwischen nicht mehr nötig, im Gegenteil, eigentlich tun sie uns sogar einen Gefallen, wie das Beispiel des Transrapid auf traurige Weise demonstriert: Bei uns wurde diese hochmoderne Technik schlecht geredet, als zu teuer abgewertet, und dann auf Eis gelegt. Gebaut haben ihn dann gottlob wenigstens die Chinesen. Heute sagt man hier nicht ohne Grund: Wollen Sie deutsche Technik bewundern, so müssen sie nach China fahren. In Deutschland gibt es sie nicht mehr.
Bleibt ein letzter Punkt – die vielgepriesene Demokratie, an der es China angeblich so mangelt. Ich möchte mir da einen erhellenden Vergleich erlauben: In den USA darf das Volk nur zwischen ein paar Millionären wählen, die von einigen Milliardären bezahlt werden. Ein Kommentar erübrigt sich. Bei uns in Deutschland dürfen wir ein paar Parteien und uns von diesen vorgesetzte Direktkandidaten wählen, die nach erfolgter Wahl bezüglich ihrer Wahlversprechen umgehend an Amnesie leiden, und uns inzwischen völlig unverhohlen mitsamt unserem sauer erarbeiteten Volkseinkommen an die Pleitebanken verkaufen. Immer offener gar werden in völliger Ignoranz unserer Verfassung ESM, Fiskalunion und politische Union in der EU gefordert. Man steckt Billionen in die Refinanzierung der Spielschulden von Finanzhasardeuren, während man dem Volk erzählt, seine Sozialsysteme seien unbezahlbar geworden, und unsere Infrastruktur aus Kostengründen auf Dritte-Welt-Niveau verfallen lässt.
China hingegen baut auf. Man baut Wohnhäuser, neue Straßen, hochmoderne Schnellzüge. Man hat eine Krankenversicherung für alle geschaffen, die Lebensqualität steigt, es bildet sich eine tragende Mittelschicht, während genau diese bei uns mehr und mehr erodiert. Kurzum: Während bei uns die Politik für die Finanzinteressen und gegen das Interesse des Volkes agiert, geht China den umgekehrten Weg und stellt Unsummen in den Dienst des Gemeinwohls, um Frieden und Harmonie im eigenen Lande zu schaffen und zu sichern. Mit welchem Recht setzt sich da der Westen auf das hohe Ross und maßt sich an, China Vorhaltungen wegen mangelnder Demokratie zu machen?
Chinas einzige Erfahrung mit der westlichen Demokratie waren die Opiumkriege. Seither ist China geheilt. Echte Hilfe mit dem ehrlichen Wunsch, die Bedingungen der Menschen in China zu verbessern, kam vom Westen höchst selten. Dafür jedoch umso mehr Kritik, in unsäglicher Arroganz von oben herab geäußert, meist einhergehend mit Falschaussagen oder unvollständiger Berichterstattung. Gleichzeitig wird in den westlichen Staaten genau das praktiziert, was man China vorhält: berechtigte Demonstrationen gegen die Diktatur der Finanzwelt werden zusammengeknüppelt oder gleich verboten, Menschen sitzen wegen verbotener politischer Ansichten in Haft, die Grenzen zwischen Politik und Finanzwelt verschwimmen bis zur Korruption – die Demokratie ist verrottet bis ins Mark. Und das wollen wir den Chinesen als gutes Beispiel verkaufen?
Alle Diskussionspartner, mit denen ich mich hier in China unterhalten habe, waren einhellig der Meinung, dass die westliche Demokratie nicht nur sehr unglaubwürdig, sondern auch für ein Volk wie die Chinesen, mit seinem völlig anderen Werdegang, die gänzlich ungeeignete Gesellschaftsform ist: Sie würde nur dazu führen, dass das Land destabilisiert würde und wir eines Tages dort Verhältnisse wie in Libyen, dem Irak und anderen demokratisierten Staaten bewundern dürften. Fast könnte man meinen, dass genau das der heimliche Wunsch derer ist, die gegenüber China so vehement die Demokratie einfordern.
China wird seinen eigenen Weg gehen, und ich glaube, es wird kein schlechter sein. Uns steht es sicher nicht zu, den Chinesen vorzuschreiben, wie sie ihn zu gestalten haben. Wir könnten aber, auf der Basis gegenseitigen Respektes und Akzeptanz der Unterschiede, in den Chinesen treue und verlässliche Freunde haben. Gerade wir Deutsche stehen im Land des Lächelns in hohem Ansehen, wie ich immer wieder erfahren durfte – im Gegensatz zu anderen Nationen, die dort aus gutem Grund weniger beliebt sind. Wir sollten uns dieser entgegengebrachten Herzlichkeit, Neugierde und Offenheit nicht verschließen und genauso unvoreingenommen auf China zugehen – als gleichberechtigte, ehrliche Freunde, nicht als selbstgerechte Moralapostel. Es würde sich für alle lohnen.
Erlebnisse in China – Teil 1
Erlebnisse in China – Teil 2
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Erlebnisse in China – Teil 5