Keine Spur von Unterdrückung – Die Fahrt zum Yuntai-Nationalpark legen wir mit einem Mietwagen zurück. Für die ca. 130 Kilometer benötigen wir zwei Stunden, der Fahrpreis beträgt 160 Yuan, also ca. 18 Euro. Mit uns fährt ein weiterer Passagier mit dem gleichen Ziel, ein junger Telekommunikations-Techniker, der allerdings aus beruflichen Gründen zum Yuntai unterwegs ist. Er ist 22 Jahre alt und hat die Augen eines 50-Jährigen. Warum das so ist, wird uns im Gespräch mit ihm schnell klar: Zu viele seiner Kollegen hat er bei Unfällen sterben sehen.
Er erzählt uns, dass er für seine Firma an wechselnden Orten arbeitet, um dort jeweils Telekommunikationsinstallationen durchzuführen. Wir erfahren, dass in China in den ländlichen, oft recht unzugänglichen Gebieten die Telefonleitungen häufig mit über die Starkstrommasten geführt werden. Die Aufgabe unseres Gesprächspartners ist es dabei, gemeinsam mit Kollegen oben auf diesen bis zu 300 Meter hohen Masten die Leitungen zu installieren. Man steigt morgens dort hinauf, um erst abends wieder herunterzukommen. Ein Knochenjob.
Er sagt uns, dass dies wegen der damit verbundenen extremen körperlichen Belastung die Aufgabe der jungen Techniker bis zum Alter von 25 Jahren ist. Und dann kommt’s: seit Februar, so sagt er, seien bei dieser Arbeit bereits 20 seiner Kollegen ums Leben gekommen, und dies nicht etwa wegen unmenschlicher Arbeitsbedingungen oder fehlender Sicherheitsbestimmungen, sondern einzig und allein aufgrund menschlichen Versagens.
So starben 8 Kollegen auf einmal, weil der verantwortliche Mitarbeiter eines Energieunternehmens es versäumt hat, die Spannung auf einem Mast, auf dem installiert werden sollte, vor Beginn der Arbeiten korrekt abzuschalten. Andere kamen ums Leben, weil sie sich entgegen der Vorschriften nicht angeseilt hatten und abgestürzt sind – und so weiter. Natürlich mag auch mangelnde Ausbildung eine Rolle spielen.
Seitens seiner Firma, so erzählt er weiter, gelten strenge Vorschriften: den Helm nicht aufzusetzen kostet den betreffenden Mitarbeiter 2000 Yuan Strafe, den Sicherheitsgürtel nicht anzulegen 3000 Yuan, usw. Außerdem muss die Firma für jedes Todesopfer 300.000 Yuan an die Familie zahlen, so dass auch hier sicher ein Interesse an der Vermeidung von Arbeitsunfällen besteht – zumal das Überschreiten einer bestimmten Quote von Unfallopfern auch noch die Schließung der Firma durch die Behörden nach sich zieht. An entsprechenden Bemühungen zur Unfallverhütung seitens Staat und Unternehmen scheint es also nicht zu fehlen.
Nein, das Problem ist offenbar ein anderes: In China ist uns immer wieder aufgefallen, dass den meisten Menschen das im Westen übliche Bewusstsein für Sicherheit und Gesundheit oftmals einfach abgeht. Dies führt häufig dazu, dass sie eine für uns völlig unverständliche Gleichgültigkeit an den Tag legen – gegenüber sich selbst, und folgerichtig auch gegenüber anderen. Wenn auch nicht immer mit so dramatischen Konsequenzen, so begegnet einem dies bei genauem Hinschauen überall: auf der Straße, wo drei oder gar mehr Personen inklusive Kindlein ohne jede Sicherheitsbekleidung, dafür jedoch guter Dinge, auf Motorrollern im dicksten Verkehr umherfahren – oft sogar gegen die Fahrtrichtung. Auf Baustellen, auf denen seelenruhig auf wackeligen Gerüsten, ohne jede Sicherung und dazu oft noch in Badelatschen, gearbeitet wird. Bei der Missachtung rudimentärster Hygienekenntnisse durch Service- und Reinigungspersonal – die Liste ließe sich problemlos verlängern. Immer fällt auf, dass gerade bezüglich der Dinge, die der eigenen Sicherheit und Gesundheit dienen, das Bewusstsein entweder überhaupt nicht vorhanden oder aber die Ignoranz noch größer ist. Da braucht es niemanden zu wundern, dass die Einstellung vieler Chinesen gegenüber anderen Menschen auch nicht anders aussieht. Der Staat und Firmen mit ihren entsprechenden Gesetzen, Vorschriften bzw. Strafkatalogen kämpfen hier offensichtlich trotz aller ehrlichen Bemühungen oftmals gegen Windmühlenflügel.
Und nun gestatten Sie mir bitte, dass ich für einen Moment abschweife, weil ich hier einen Zusammenhang zu einer anderen Problematik sehe, der vielleicht nicht direkt ersichtlich ist: In unseren stets kritischen westlichen Medien wird oft und gern darüber berichtet, wie sehr die chinesische Bevölkerung doch durch ihr diktatorisches Regime unterdrückt würde. Man ergeht sich in epischer Breite über Menschenrechtsverletzungen, und zur Untermauerung präsentiert man uns immer wieder medienwirksame Fernsehbilder von diversen verfolgten Bürgerrechtlern, die vor der Kamera die Verletzung der Menschenrechte beklagen.
Unserem eigenen Erleben in China entspricht diese Darstellung jedoch nicht im mindesten! Im Gegenteil: Alle Menschen, mit denen wir gesprochen haben, fühlten sich mitnichten unterdrückt. Sie machten von ihrem Recht auf Meinungsäußerung äußerst regen Gebrauch. Und glauben Sie mir: Die Chinesen sind ein ausgesprochen aufmüpfiges Völkchen – die lassen sich so schnell nicht das Maul verbieten. Sie beschweren sich sogar sehr viel schneller und lautstärker als der oft bis zur Unverständlichkeit geduldige deutsche Michel!
Eine Atmosphäre der Unterdrückung haben wir nirgendwo feststellen können. Chinesen scheinen sogar in vielen Dingen fast zu viele Freiheiten zu genießen. Regeln und Vorschriften werden an jeder Ecke ignoriert, selbst der Umgang ertappter Verkehrssünder mit der Polizei ist, freundlich formuliert, oft äußerst robust – da setzt es sogar mal Schubser gegen die erstaunlich geduldigen Ordnungshüter, wie wir selbst gesehen haben. Machen Sie mal die demokratische Gegenprobe und schubsen Sie einen Polizisten in den USA! Wenn Sie wieder bei Bewusstsein sind, werden Sie den Luxus Ihrer gemütlichen Zelle sicher genießen.
Apropos Polizei: Die Ordnungshüter treten nur selten in Erscheinung, und wenn, dann ausgesprochen locker und entspannt. Zudem agieren sie, im Gegensatz zu den polizeilichen Gepflogenheiten in unseren Breitengraden, so gut wie immer unbewaffnet, was ebenfalls für sich spricht. Mit der beschworenen Unterdrückung kann es also nicht weit her sein.
Angesichts dieser Tatsachen fällt es mir schwer, mich des Eindrucks zu erwehren, dass viele der uns präsentierten verfolgten Bürgerrechtler mehr eigene Interessen im Fokus haben als die der Bevölkerung, und sie möglicherweise den Versuch unternehmen, diese mit Unterstützung ausländischer Organisationen und Medien durchzusetzen, die ihrerseits solch propagandistische Steilvorlagen nur zu gerne verwerten. Und genau hier ist der Punkt, an dem die Chinesen sehr empfindlich reagieren – was ich als ihr gutes Recht ansehe.
Und nun möchte ich den Kreis schließen: Hätten solche Bürgerrechtler wirklich das Wohl ihres Volkes im Sinne, so wäre es meines Erachtens weit angemessener, auf einen Bewusstseinswandel im eigenen Land hinzuarbeiten mit dem Ziel, solche durch Nachlässigkeit, mangelnde Ausbildung und Ignoranz verursachte Unfallquoten mit entsprechenden Opferzahlen an Toten, Krüppeln oder unnötig Infizierten zu vermeiden. Wäre dies Menschenrechten und Menschenwürde nicht weitaus dienlicher? Sicher böte sich deren Vorkämpfern hier ein breites Betätigungsfeld, wobei der Staat sie vermutlich sogar noch unterstützen würde, da es dem ganzen Volk zugute käme. Statt dessen reklamieren sie ein abstraktes Recht auf freie Meinungsäußerung, das der Großteil der Bevölkerung überhaupt nicht eingeschränkt sieht, und möchten dann beispielsweise in die USA ausreisen. Dort angekommen dürfte die Narkose allerdings bald nachlassen: Wenn der Mohr seine Schuldigkeit getan hat, wird der Geldhahn für gewöhnlich abgedreht. Honi soit qui mal y pense.
Nach diesem Exkurs zurück zu unserer Reise: China hat überwältigende Nationalparks. Die meisten davon sind im Westen leider weitgehend unbekannt, obwohl sie allemal mit Landschaften wie dem Grand Canyon mithalten können – wobei einige, wie z.B. Zhangjiajie mit seinen 300 Meter hohen Felsnadeln, diesen in meinen Augen vielleicht sogar noch schlagen. Yuntai Shan, der Yuntai-Berg, ist ein weiteres dieser Naturwunder, welches eine Reise wert ist, wobei der Begriff „Berg“ es nicht ganz trifft – es ist mehr eine ganze Berglandschaft.
Wir mieten uns in einem Hotel in dem Dörfchen Jiao Cuo ein, ruhig gelegen, ideal zum Spazierengehen. Die Freude ist allerdings nur von kurzer Dauer: kurz nach uns treffen mehrere chinesische Reisegruppen ebenfalls in unserem Hotel ein. Mit der Ruhe ist es schlagartig vorbei.
Chinesen sind ausgesprochen liebenswerte Zeitgenossen – und ich mag sie wirklich! Treten sie jedoch in Massen auf, so entwickeln sie die erstaunliche Fähigkeit, die romantischste Idylle schlagartig in ein Pandämonium zu verwandeln, dessen Lautstärkepegel für ruheliebende individualistische Westeuropäer einer Leibesstrafe gleichkommt. Fällt ein solches Rudel in Ihr Hotel ein, so bleiben Ihnen zwei Möglichkeiten: entweder, Sie ziehen um, oder Sie enden im Alkohol.
Meine Frau und ich ziehen Ersteres vor, weichen der Übermacht und räumen das Feld. Wir wechseln in das etwas abgelegene Yin Shan Hong-Hotel. Hier kostet uns das Zimmer 200 Yuan – ca. 22 Euro . Das Hotel ist nagelneu. Und was das beste ist: Wir sind die einzigen Gäste. Himmlische Ruhe – phantastisch!
Am nächsten Morgen kaufen wir unsere Tickets für den Yuntai. Im Preis inbegriffen sind kostenlose Bustransfers zu den einzelnen Sehenswürdigkeiten, da die Entfernungen dazwischen schlicht zu groß sind.
Wir beginnen mit dem Tal der roten Felsen. Solche Landschaften kann man nicht beschreiben, man muss sie gesehen haben. Für das Durchwandern dieses Tales benötigt man ca. zwei Stunden. Der Weg ist teilweise buchstäblich in die Felswand geklebt und führt an schwindelerregenden Abgründen vorbei bis zum Talgrund. Den Erbauern dieser Wege sei an dieser Stelle mein höchster Respekt gezollt. Unten angekommen müssen wir warten: eine chinesische Reisegruppe blockiert den Weg. Jeder möchte natürlich ausgerechnet an der Engstelle ein Photo von sich machen lassen. Und da das erste Bild nicht reicht muss auch noch ein zweites und drittes her, wobei natürlich vorher noch lautstark diskutiert wird. Ich übe mich in Geduld und liebäugele nun doch mit dem Alkohol. Endlich geht es auch hier wieder weiter, und wir beginnen wieder mit dem Aufstieg, um das Tal dann auf der anderen Seite zu verlassen.
Unser nächstes Ziel ist der Gipfel des Zhu Yu Feng, auf dem sich ein Dao-Tempel befindet. Den Weg bis zum Aufstiegspunkt legen wir wieder mit dem Bus zurück. Über Serpentinen mit phantastischer Aussicht, und durch unglaublich enge Tunnel jagt der Fahrer den Bus derart halsbrecherisch den Weg hinauf, dass man meinen könnte, er wolle, wie die Chinesen sagen, unbedingt seinen verstorbenen Opa einholen. Buddha hat jedoch ein Einsehen, und wir verlassen den Bus unbeschadet, um uns auf den Fußweg zum Gipfel zu machen.
Und der hat es in sich: über mehr als 1600 Stufen geht es steil nach oben; die Anlage dieses Weges über dem Abgrund ist eine Meisterleistung chinesischer Ingenieure und Straßenbauer. Gutes Training zahlt sich hier aus, entsprechendes Schuhwerk ist Pflicht – sollte man annehmen. Manche chinesische Vertreterin des schönen Geschlechtes scheint dies jedoch anders zu sehen – und absolviert den Aufstieg unverdrossen in Stöckelschuhen. Die Leidensfähigkeit dieses Volkes ist wirklich enorm. Oben angekommen werden wir nicht nur durch eine phantastische Aussicht belohnt, sondern auch durch die wundervolle Atmosphäre des Tempels an sich. Zudem stellt sich die nötige Bettschwere nach diesem Tag von alleine ein.
Am nächsten Morgen stehen noch zwei wunderschön gelegene Wasserfälle sowie ein kleiner buddhistischer Tempel auf dem Programm, und nach einer weiteren ruhigen Nacht im Dorf machen wir uns wieder auf den Weg nach Zhengzhou, wo wir noch einen Tag Pause einlegen und unsere Koffer für den nun anstehenden Flug packen. Als Nächstes geht es nämlich nach Hause in die Heimatstadt meiner Frau: nach Changsha, der Hauptstadt der südchinesischen Provinz Hunan. Dort ist im „Hotel Mama“ bereits ein Zimmer für uns reserviert.
Erlebnisse in China – Teil 1
Erlebnisse in China – Teil 2
Erlebnisse in China – Teil 3
Erlebnisse in China – Teil 4