Samstag , 20 April 2024
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Das Mädchen ist stark!

das_maedchen_minicoverWer hat das Wort Scheiße nicht schon verwendet, um etwas besonders Ärgerliches, Unvorhergesehenes oder auch Beschämendes umfassend darzustellen? Auch ich verwende es manchmal, aber auf die Idee, eine Erzählung oder gar einen Roman damit zu beginnen, wäre ich wohl nicht gekommen. Angelika Klüssendorf schon: Sie beginnt ihren Roman Das Mädchen damit, dass sie den Weg beschreibt, den aus dem Fenster geworfene Scheiße nimmt, bevor sie auf den Bürgersteig gelangt. Wie sie das erzählt, auf eine sowohl leichte, lakonisch sachliche als auch humorvoll ironische Weise, das zeichnet ihren Stil aus, der den Roman trägt und ihn spannend macht. Sie erzählt darin von einem Mädchen, das sich mit enormer Willenstärke allmählich von allem lösen kann, was es umgibt und niederhält, vorneweg ihre tyrannische, liebesunfähige und trinkende Mutter, aber auch die Lehrer und Erzieher, die sie weder verstehen noch ihr auf ihrem schweren Weg zur Seite stehen. Mit ihrem Roman hat es die Autorin auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2011 geschafft und gehört außerdem zu den sechs Nominierten für den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2011.

Angelika Klüssendorf wurde 1958 in Ahrensburg bei Hamburg geboren, lebte aber von 1961 bis 1985 in Leipzig. In ihrem Roman erzählt sie von einer Kindheit und Jugend in der DDR. Doch bis auf einige Honecker-Bilder, Pionierhalstücher und die Jugendweihe ist nichts nur DDR-Typisches darin zu finden, schon gar nicht die von den DDR-Oberen stets verkündete soziale Geborgenheit. Dass es die nur eingeschränkt gab, wussten viele von uns, die wir in der DDR lebten, und zu sehen war es überall.

Scheiße fliegt durch die Luft. Sie landet unten auf dem Bürgersteig und dem Strohhut einer Passantin; der Briefträger kann gerade noch ausweichen. Die Menschen auf der Straße bleiben stehen und schauen nach oben. Schwefelgelb brennt die Sonne, und es regnet Scheiße, doch vom Himmel fällt sie nicht. So beginnt der Roman und kurz darauf erfährt der Leser, dass ein zwölfjähriges Mädchen die Exkremente aus dem Fenster im dritten Stock eines Mietshauses wirft. Seit Tagen sind sie, die Zwölfjährige und ihr sechsjähriger Bruder Alex, in der Wohnung eingeschlossen, die Toiletten sind eine halbe Treppe tiefer und daher für sie unerreichbar. Als das Mädchen das Fenster schließt, ist sie trotzig zufrieden, weil sie der Welt da draußen gezeigt hat, dass es sie gibt. Ein Hilferuf ist das nicht, dafür ist sie zu stolz, und Hilfe ist auch nicht zu erwarten; nur die Mutter kommt wieder nach Hause, aber das bedeutet keinerlei Rettung für die beiden Kinder. Auch ihr Vater, der spät in ihrem Leben erscheint und immer wieder daraus verschwindet, ist keine Hilfe für sie und ihren Bruder, dessen Vater er sowieso nicht ist.

Zu Beginn des Romans ist das Mädchen zwölf, an seinem Ende siebzehn Jahre alt. Da hat sie ihre schwierige Kindheit in einem Leipziger Mietshaus und das Heim in der Umgebung von Leipzig hinter sich gelassen, ist nicht mehr das dünne, namenlose Mädchen. Sie hat sich Achtung verschafft und kann besser benennen, was sie nicht mehr will, weil es sie klein macht, weil sie nicht ernst genommen wird. Dünn ist sie noch immer, obwohl sie gern und viel isst, wird erst Speiche, später beinahe liebevoll Rippchen genannt. An ihrem letzten Schultag schenken ihre Klassenkameraden ihr eine Schulbank voller Leckereien: eingewickelte Pausenbrote, Kuchen, Äpfel, Kirschen, Kekse, Bonbons und Schokolade,…und sie beginnt langsam und gerührt unter den Blicken der anderen zu essen.

Danach wird sie aus dem Heim entlassen, ohne zur Mutter zurückzukehren. Sie beginnt in einer LPG eine Lehre als Rinderzüchterin. Obwohl sie die Melkprüfung als Beste besteht, langweilt sie die Arbeit rasch. Sie möchte raus aus der kleinen Welt, die sie umgibt, ihre Reiselust ist voll erwacht. Um eine lange Krankschreibung zu erhalten, lässt sie sich darauf ein, von ihrer jetzigen Freundin den Arm brechen zu lassen. Sie hat Glück: der Arzt konstatiert nach dem Röntgen einen sauberen Bruch.

das_maedchen_coverAn ihrem siebzehnten Geburtstag weiß sie, dass sie ihre Lehre abbrechen wird. Als sie an diesem Tag einen Schwarm von Wildenten sieht, die Richtung Süden ziehen, stellt sie sich vor, mit den Vögeln zu fliegen, egal wohin. Sie sieht sich von oben im Gras liegen und dennoch höher und höher fliegen, bis sie ganz verschwunden ist. Die Sehnsucht ist ihr neuer Begleiter geworden und wird den noch verbliebenen trotzigen Stolz ihrer Kindheit ablösen. Sie wird erwachsen werden und ihren Weg gehen, auch wenn sie noch nicht genau weiß, wohin dieser sie führen wird.

Ihre ersten Schreibversuche hat Angelika Klüssendorf noch in der DDR unternommen, ehe sie 1985 in die Bundesrepublik ausreisen durfte. Mitte der 1990iger folgten die ersten Bücher, nach 2000 stellten sich mit dem Roman Alle leben so und dem Erzählband Aus allen Himmeln die ersten Erfolge ein. Heute lebt die Autorin in Berlin, lebt, reist und schreibt und wir können auf weitere Romane, Erzählungen und anderes mehr gespannt sein.

Das Mädchen ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und hat 192 Seiten. Für 18,99 € ist es im Buchhandel oder direkt hier erhältlich.

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