Dienstag , 23 April 2024
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Ich dachte immer, ich könnte fliegen – Ein Lesetipp

ich_dachte_immer_ich_koennte_fliegen_minicoverEine bemerkenswert stille Geschichte erzählt Hans-Uwe L. Köhler, der hierzulande vornehmlich als erfolgreicher Sachbuchautor bekannt ist. In Ich dachte immer, ich könnte fliegen“ erkundet er die fragmentarischen Spuren, die seine 1994 verstorbene Mutter, die 1921 auf einem kleinen Bauernhof in Nordfriesland geboren wurde, hinterlassen hat. Es werden Erinnerungen, Geschichten, Gedichte und Fotografien zusammengetragen, die die blassen Konturen einer Frau offenbaren, die ihre Verletzungen zeitlebens hinter einer zur Schau getragenen Stärke verbarg. Aus diesen Bruchstücken lässt Köhler einen biographischen Torso entstehen, der auch eine Hommage an eine Mutter ist, die alles dafür gab, damit es ihre Kinder einmal besser haben.

Zugleich steht das Schicksal der Ida Lüth, die auf den Namen ihrer toten Schwester getauft und nach dem Vornamen ihres Vaters genannt wurde, für eine Generation von Frauen ein, die Nationalsozialismus, Krieg, Nachkrieg und Wiederaufbau der Bundesrepublik erfahren haben und dabei immer der Not gehorchten. Dass sich dem Sohn das Leben der Mutter am Ende nur lückenhaft erschließt, liegt zu weiten Teilen an Ida Lüths Unfähigkeit, sich zu bekennen und zu offenbaren. „Ich dachte immer, ich sei eine Prinzessin, die fliegen könnte. Ich hatte immer gehofft, dass mein Leben schön werden könnte, wenn ich nur alles Unschöne von mir fernhielt.“

Als junges Mädchen vertraut Ida Lüth fest darauf, den Weg aus Nordfriesland in die große Welt zu finden. Zwar schafft sie es tatsächlich, Rodenäs zu verlassen, mit dem BDM sogar zu reisen – doch wo immer sie lebt, ihr erstes Kind zur Welt bringt, ihren späteren Mann trifft, drei Söhne gebiert, als Magd, Köchin, Haushälterin, Kundenberaterin und Fremdenführerin arbeitet: Die Verhältnisse werden enger und bedrückender. Man erfährt von Verletzungen, die Ida Lüth als mutterlose Tochter mit einem zornigen Vater und einer verständnislosen Haushälterin erlitt, von Zwängen, Selbstvorwürfen und Missverständnissen. Und obschon Ida Lüth am Ende doch noch versucht, zu fliegen, entkommt sie ihrer abgrundtiefen Einsamkeit und einem todbringenden Still-Schweigen nicht, das nicht nur sie, sondern auch die Söhne umgibt.

ich_dachte_immer_ich_koennte_fliegen_coverObwohl der Autor mit seiner persönlichen Spurensuche seine eigene Geschichte erzählt, bewahrt er zurückhaltende Distanz, was den Leser doppelt betroffen macht. Das Schicksal einer Frau, die nie im Dorf leben und immer fliegen wollte, ist in einer schnörkellosen, lakonischen Sprache von bestürzender Wirkung erzählt. Das Ihre tun Original-Fotos der Familie, die die Tragödie eines kleinen Lebens bebildern, das in vielerlei Hinsicht für die Gründergeneration der Bundesrepublik typisch ist. Mit großem Feingefühl gelingt es Hans-Uwe L. Köhler, sich in eine Generation hineinzuversetzen, die sich von ihren Kindern den Vorwurf gefallen lassen muss(te), nicht hingesehen und nichts gesagt zu haben. „Alle Fragen mit ‚Warum‘ wurden ausgeblendet. Klärende Gespräche blieben aus. Weder wurde eine Schuld vorgeworfen, noch eingestanden. Es gab keinen Ansatz einer Entschuldigung und deshalb gab es auch kein Verzeihen.“

„Ich dachte immer ich könnte Fliegen“ von Hans-Uwe L. Köhler hat 155 Seiten und ist im Buchhandel oder direkt hier erhältlich.

Ein Beitrag von Gesine von Prittwitz

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