Donnerstag , 18 April 2024
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Geld oder Selbstbestimmung? Wie Moody’s die Welt verändert

moodys_screenshotMan schrieb das Jahr 1900. Die Auswirkungen der industriellen Revolution waren für jedermann erkennbar. In Europa gab es Kopfzerbrechen über die geltenden Sozialgesetze für ein menschenwürdiges Leben der Arbeiter, in Russland regierte noch der Zar, in Nordamerika – „the land of the free“ – stellte ein 33-jähriger Mann aus New Jersey sprichwörtlich die Weichen in ein neues Zeitalter: den Wirtschaftsliberalismus. Die Zeit der großen wirtschaftlichen Erschließung der USA war in vollem Gange. Es war eine großartige Zeit des Wachstums und eine große Chance, am vielversprechenden Reichtum der Industrialisierung teilzuhaben.

Das war schon lange nichts Neues mehr. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass Investitionen in neue Unternehmungen nicht ohne Risiko waren. John Moody nutzte die Gunst der Stunde und füllte eine Lücke, die als erfolgversprechendes Geschäftsmodell herhalten sollte: der Risikobewertung unternehmerischer Vorhaben. Mit seinem „Handbuch industrieller und sonstiger Sicherheiten“ begann es, schien aber schon 1907 ein Ende zu haben, als der amerikanische Aktienmarkt einen Einbruch hatte. Zwei Jahre später konzentrierte sich Moody auf das amerikanische Eisenbahnnetz, der Lebensader der Industrie. Aus einem einst 40 Kilometer langen Schienennetz im Jahre 1830 waren innerhalb von 60 Jahren 163.000 Kilometer geworden. Allein innerhalb von zehn Jahren hatte sich die Länge des Schienennetzes verdoppelt. Aus den Enklaven in der großen Weite zwischen Atlantik und Pazifik wurde ein industrielles Geflecht. Der Geschäftsmann Moody gründete eine Agentur, welche Investoren Auskunft über die Sicherheit von Eisenbahn-Anleihen geben sollte. Wollte sich jemand am Ausbau des Schienennetzes beteiligen, bot Moody statistische Vorhersagen über das Projekt, seiner Risiken und Profichancen. Etwa wie: Lohnt sich die Verlegung von Eisenbahnschienen von Chicago zum Mississippi? Und Moody mag in etwa geantwortet haben: Die Nachfrage nach Baumwolle ist derzeit in Chicago hoch und wird fortan steigen, daher empfehle ich, zu investieren.

Und die Investoren ließen sich diese Dienste einiges kosten. Das Geschäft lief so gut, dass Moody fünf Jahre später seinen Beratungsservice ausweiten konnte. „Moody’s Investor Services“ war geboren. Im Jahre 1970, John Moody war inzwischen dahin geschieden, war sein Vermächtnis so erfolgreich, dass die Agentur ihre Bezahlung nicht mehr von Investoren verlangte, sondern von den Unternehmen, die ihre eigene Bonität beurteilt haben wollten. Ab diesem Zeitpunkt lag es in der Hand der Berater bei Moody’s ob und wann ein Unternehmen Erfolg haben würde.

Als Moody’s 1975 von der United States Securities and Exchange Commission (SEC) in die Liste der anerkannten statistischen Bewertungsorganisationen aufgenommen wurde, war damit der Einfluss des Unternehmens in Zement gegossen. Heute bewertet die Agentur, Seite an Seite mit Standard & Poor’s und Fitch, die Risiken von gut 95% aller Unternehmen – weltweit. Staaten sind dabei von dieser Bewertung nicht ausgenommen, sind sie doch lange keine ‚Big Player‘ mehr. Tatsächlich gab es in den 1990ern ein Unternehmen in der Liste der reichsten Organisationen der Welt, das auf Platz 14 rangierte. Der Mitsubishi-Konzern besaß zu dieser Zeit mehr Finanzmittel als 170 Volkswirtschaften. Allein dieses Beispiel zeigt, wie wenig einflussreich Demokratien schon im 20. Jahrhundert waren. Davon lassen sich Hintergründe von „Befreiungskriegen“ im Namen der Demokratie ableiten wie beispielsweise der Golfkrieg. Nämlich dass Kuwaits Ölquellen in der Hand eines Diktators, welcher die Macht des Staates über die von privaten Unternehmen setzt, eine nicht hinnehmbare Gefahr für die (globale) Wirtschaft sind. Eine Demokratie hingegen ist schwerfällig in ihren Entscheidungen und viel wichtiger: Sie ermöglicht die Mitbestimmung privater Unternehmen durch Lobbyismus oder sogar die Entsendung politischer Kandidaten, ausgestattet mit Geld reicher Unternehmer (George W.). Denn selbst Kapitalgesellschaften bestehen letztlich immer aus Menschen.

Die weitreichenden Folgen dieser Entwicklung sind heute deutlich spürbar: Nationalstaaten, sprich Regierungen, werden wie Unternehmen behandelt und bewertet. Die „Mitarbeiter“ jener Staaten profitieren oder leiden darunter – mit dem Unterschied, dass ein Staat seine Bürger nicht entlassen kann, sondern stattdessen mehr Leistung – sprich: Steuern oder Einsparungen – verlangt. Diejenigen, welche nicht leisten können, werden notwendigerweise sozial degradiert. Es hat eine gefährliche Spaltung innerhalb einer Gemeinschaft Realität angenommen, wenn Politiker ihre Bürger in eine bestimmte Ecke drängen, wie beispielsweise der Londoner Bürgermeister Johnson demonstriert, wenn er die aufständischen Jugendlichen als „Unterschichtsmob“ bezeichnet. Ein solcher Politiker statuiert die Realität, in welcher Bevölkerungsschichten als nicht förderungswürdig eingestuft werden. Eben so, wie man die Erfolgsaussichten eines Unternehmens beurteilt, erklärt Johnson damit die Ausgrenzung von gleichberechtigten Mit-Menschen, als zukunftslos, also vernachlässigbar.

Moody’s trägt nicht die Schuld am diesem gesellschaftlichen Verfall, sondern agiert wie alle anderen Unternehmen weltweit in eigenem Interesse und innerhalb des geltenden Rechts. Bloß mit dem Unterschied, dass Moody’s faktisch eine Monopolstellung innehat, die Wohl und Wehe ganzer Völker bestimmt: Griechenland, Portugal, Irland … inzwischen sogar die USA.

Doch woher kommt die Macht, die Bonität von Nationalstaaten zu beurteilen? Warum stellen Regierungen die Meinung privater Bewertungsagenturen über die eigene? In Deutschland existiert eine gesetzliche Grundlage für den Einfluß von Ratingagenturen wie Moody’s, Fitch und Standard & Poor’s. Die „Verordnung über die angemessene Eigenmittelausstattung von Instituten, Institutsgruppen und Finanzholding-Gruppen“, kurz Solvabilitätsverordnung (kürzer: SolvV) verleiht deren Urteilen legitimes Gewicht. Die Anerkennung einer Ratingagentur durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) unterliegt immerhin gewissen Voraussetzungen. Danach wird „Eine Ratingagentur […] für Risikogewichtungszwecke von der Bundesanstalt nur dann anerkannt, wenn die Methodik zur Bonitätsbeurteilung Objektivität, Unabhängigkeit, laufende Überprüfung und Transparenz gewährleistet, sowie die mit der Methodik erstellten Bonitätsbeurteilungen Zuverlässigkeit und Transparenz gewährleisten.“ Diese schwammige Formulierung wird durch §53 der SolvV konkretisiert, welche wiederum in einigen Bereichen Raum für Interpretation lässt. Zum einen müssen die Grundsätze der Methodik von Ratingagenturen „in einer Art und Weise öffentlich zugänglich sein, dass alle potenziellen Nutzer deren Angemessenheit beurteilen können.“

Auf Anfrage bei der BaFin, wo denn diese Grundsätze einsehbar seien, erklärte man sich so: „Bei den Grundsätzen der Methodik handelt es sich um diejenigen, die die Ratingagenturen selber entwerfen und anwenden. Diese sollen sie den potenziellen Nutzern zur Verfügung stellen. […]“.

Nach der Online-Registrierung bei Moody’s bekommt man Zugriff auf einige allgemein gehaltene Dokumente zur Methodik seiner Risikobewertung. Diese beschränken sich auf Zusammenfassungen und Definitionen und im Grunde auf die Aussage, dass mehrere Faktoren zu einer Risikobewertung herangezogen werden. Dokumente mit konkretem Bezug bzw. Bewertungsergebnisse sind kostenpflichtig. Tatsächlich scheinen die internen Bewertungsmethoden aufgrund ihrer Fülle und wenig Konkretisierung faktisch keiner Kontrolle zugänglich. Es ist bei Moody’s zu lesen, dass beispielsweise Faktoren wie die politische Stabilität eines Staates zur Risikobewertung herangezogen werden. Ein weites Feld.

Es gab beispielsweise genug Grund zur Verwunderung, warum die USA bis vor kurzem die beste Note hinsichtlich ihrer Kreditwürdigkeit erhielten (AAA), wo doch ihre Finanzkrise seit Jahren abzusehen war. Die leichte Herabstufung auf AA+ – die nächstgeringere Stufe – führte zu heftigen Turbulenzen an den Börsen weltweit. Ein grandioses Beispiel, wie die Verunsicherung der ganzen Welt durch eine undurchsichtige Schulnotenbewertung geschürt wird. Wie durchdacht auch immer Moody’s Bewertungsmethoden sein mögen, Fakt ist, dass nur die Agentur selbst jene Standards setzt und die Informationen für betroffene Unternehmen von Interesse sind, weniger für betroffene Bürger.

Nun ergibt sich die Frage, wie die BaFin – wenn sie selbst die Grundsätze der Beurteilungen der Ratingagenturen nicht zusammenfassen kann – deren Urteilen legitime Gültigkeit verleihen kann. Die Anforderungen der Solvabilitätsverordnung gehen weiter – eine juristische Glanzleistung in der Gratwanderung zwischen Faktizität und Geltung. Die Anforderungen von §53 Nr.1 beispielsweise sind offensichtliche Augenwischerei: Er verlangt, dass eine anerkannte Ratingagentur „keinerlei wirtschaftlichem Druck ausgesetzt sein (darf), der die Bonitätsbeurteilung beeinflussen könnte“. Wenn sich eine Agentur wie Moody’s allerdings ihre Dienste von den Unternehmern bezahlen lässt, die auf der Suche nach Geldgebern sind, versteht es sich, dass Moody’s ein Interesse am Erfolg ihres Klienten haben muss – auch wenn dieser im Scheitern anderer Unternehmen oder Staaten besteht.

Alles in allem zeigt sich zunehmend seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, dass wirtschaftliche Urteile längst die des gesunden (politischen) Menschenverstandes infiltriert, nahezu abgelöst haben. Insofern wird auch die Angst der „freien Gesellschaft“ (nicht der offenen), sprich dem Kapitalismus vor Diktaturen wie der eines Hugo Chavez, Fidel Castro etc. erklärbar: Diese Staaten (auch Märkte genannt) lassen sich nicht ökonomisch infiltrieren, denn es gibt eine politische Gewalt, welche dagegen hält und die relativ unabhängig von wirtschaftlichen Interessen regiert, da ihre Politik auf Gesellschaftsideologie basiert. Daher auch die Berichterstattung meist privater Nachrichtensender in den Industriestaaten, die ihren Fokus auf das Leid des armen und gequälten Volkes solcher Diktaturen legt. Daher auch das Desinteresse an Konfliktlösungen in ausgebluteten afrikanischen Staaten wie Äthiopien – wir dürfen immerhin mitleiden und spenden. Daher die Umsetzung von Gesetzen intellektuelles Eigentum betreffend, welche Polizei gegen Internetnutzer ermitteln lässt, die ein Metallica-Album heruntergeladen haben, statt Geld in Schulen und Spielplätze zu investieren. (Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis Polizisten private Grundstücke bewachen.) Daher die Zahlungen von Milliardenbeträgen von Steuergeldern an Kreditinstitute, die ihrer eigenen Misswirtschaft zum Opfer gefallen sind. Und so weiter und so fort.

Eine der größten Freiheiten der Staatsbürger in der westlichen Welt ist jene, politisch mitzubestimmen. Doch ist diese Mitbestimmung ein Konkurrenzwettbewerb geworden zwischen dem Einzelnen und Lobbyisten des Neoliberalismus, dessen Fundamente inzwischen stark ins Wanken gekommen sind. Das Misstrauen der Bürger, das jahrelang durch Brot und Spiele und Angstmache zerstreut worden ist, wächst, entlädt sich in diffusen und teilweise sinnlosen Aktionen wie in London und wird zur Gefahr des Status quo der Reichen, die diesen unter allen Umständen aufrecht erhalten wollen. Die Daseinskrise des laissez-faire-Kapitalismus wurde besonders problematisch als 1989 die Mauer fiel, womit das Ende des kalten Krieges einherging. Die gewaltigste Zerstreuung, welche der Kapitalismus je hatte, nämlich die Hetze gegen marxistische Ideen – berechtigt oder nicht – hatte ein Ende. Danach setzte sich Zerstreuung mit allen Mitteln fort: Es wurde bunt und dämlich mit Talkshows, pseudo-wissenschaftlich mit der fortwährenden Verkomplizierung wirtschaftlicher Zusammenhänge durch „Experten“, hatte eine Wende im 11. September 2001 zur Angstmache vor Terror und es geht heute mit immer neuen Mitteln der Zerstreuung weiter. Die unglaubliche Einfachheit des Seins wird stetig verkompliziert und problematisiert und der Mensch in Selbstzweifel getrieben. Kritiker werden lächerlich gemacht, und solange der Kapitalismus wächst, besitzt er neben der Zerstreuung ein weiteres Verteidigungsmittel: Die unbestimmte Hoffnung für alle, eines Tages ein Stück vom Kuchen abbekommen zu können.

Dabei treibt uns niemand unmittelbar dazu, uns diesem Dasein wie es ist hinzugeben, sondern es steckt in uns und erschafft täglich unsere Realität durch jeden einzelnen Teil der Gesellschaft neu. Am Kapitalismus ist im Grunde nichts auszusetzen – solange das Recht die Gerechtigkeit durch Gleichheit garantieren kann. Wir leben allerdings schon lange jenseits dieser Grenze, wo es eine ausgewogene Gegenseitigkeit der Vertragspartner gibt. Die Umverteilung des Kapitals hat die Gleichheit unterhöhlt. Versuchen sie, wenn sie pleite sind, doch einmal ihre Schulden auf eine andere Bank mit geringerem Zinssatz umzuschichten. Armut bedeutet Ausgeliefertsein.

Die verschwommene Hoffnung auf ein sorgenfreies Auskommen zerfließt von Tag zu Tag, sodass man die Verzweiflung inzwischen durch die Medien sehen kann. Wir sind zu Zeugen am Festhalten an einem maroden System geworden: mittels Rettungspaketen für reiche Institutionen und hilfloser politischer Parolen, die in ähnlicher Art schon den Mündern und Federn von Stalin, Hitler und Honecker entschlüpft sind. Schlimmer ist die faktische Entmündigung von Parlamenten, sprich: der offenbaren Entmündigung der Demokratie, wenn Ratingagenturen Staaten für Bankrott erklären und Staaten untereinander aufwiegeln. Europas Staaten gebärden sich wie alte Vetteln, die sich um ihr Tafelsilber balgen. Der Kapitalismus erweckt nicht mehr nur die Bedürfnisse des Menschen, er schürt seine Gier. Wovon reden wir heute denn tatsächlich – von Geld oder von Selbstbestimmung?

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