Donnerstag , 18 April 2024
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Ein syrischer Flüchtling im Interview

flagge syrienAbdallah Ismail (Name geändert) ist 27 Jahre alt und kommt aus Damaskus. Vor etwa einem halben Jahr hat er Syrien verlassen und wohnt jetzt in Beirut, wo ich ihn kennengelernt habe. Abdallahs Religion auf dem Papier ist alawitisch, gleich der des syrischen Präsidenten Baschar al Assad. Im politischen und gesellschaftlichen Gefüge des Landes spielt Religion eine große Rolle. Von den Alawiten heißt es, sie wären eine wesentliche Stütze des Regimes, welches sämtliche Revolten seit über einem Jahr brutal niederschlägt. Wie hat Abdallah die Ereignisse in seinem Land erlebt, was denkt er über die aktuellen Vorgänge? Ein Interview.

Wann hast du zum ersten Mal etwas von Gewalt gegen Demonstranten mitbekommen?

Als die Aufstände in Daraa begonnen haben. Und bitte, ich bin Alawite, es ist einfach über mich Informationen herauszubekommen, bitte sag nicht meinen wahren Namen und wo ich studiert habe. Auch keine Namen von Plätzen und Orten in Damaskus.

Warum hast du Syrien verlassen?

Ich wäre zum Militärdienst eingezogen worden, für zwei Jahre.

Das heißt, dass du auch gegen Demonstranten hättest vorgehen müssen?

Nein, das heißt ich denke es kommt darauf an. Aber jetzt, da die Situation immer schlimmer wird, ist es unsicher. Und weil ich Alawit bin, werden sie mich auf jeden Fall einsetzen.

In der Armee werden mehr Alawiten eingesetzt, weil diese loyaler zum Regime stehen?

Sie [die Regierung] wollen zeigen, dass die Alawiten agieren, zum Beispiel gegen die Sunniten. Viele Alawiten schauen die Assad-loyalen TV-Sender wie zum Beispiel Adunya. Auf diesen Sendern wird gezeigt, dass immer nur Alawiten leiden, die von Sunniten getötet werden. Das sehen dann die Leute aus den Dörfern, die über den Konflikt kaum etwas wissen. Dazu muss noch gesagt werden, dass die Mehrheit der Soldaten Sunniten sind, wie auch die Mehrheit in der Bevölkerung. Es herrscht Wehrpflicht. Die oberen Ränge sind meist Alawiten und ein paar Drusen. Nicht nur Alawiten unterstützen Assad.

Denkst du, dass die Mehrheit der Alawiten Assad unterstützt?

Nein. Die meisten Alawiten leben traditionell in ländlichen Regionen, wo sie sich vor dem ottomanischen Imperium versteckt gehalten haben. Seit Hafez al Assad (der Vater Baschars und vormalige Präsident Syriens, Anmerkung des Autors), besteht die Möglichkeit für Jungen ab 15 Jahren zur Armee oder anderen Sicherheitskräften zu gehen. Das bringt viele Vorteile mit sich: ein gesichertes Einkommen und etwa eine Krankenversicherung. Viele Alawiten sind eher arm und vom Land und nehmen diese Sicherheit in Anspruch. Dadurch hat Hafez viele Alawiten in die Armee gebracht. Es ist vorgekommen, dass die Söhne im Militärdienst gestorben sind. Offiziell sind sie von Sunniten umgebracht worden. Die Eltern haben aber herausgefunden, dass die Söhne desertieren wollten und deshalb vom Militär erschossen wurden. Dadurch fürchten die Alawiten das Regime. Gleichzeitig fürchten die Alawiten die Sunniten. Die Situation ist sehr verwirrend. Das Regime bindet die Alawiten durch Furcht an sich. Zum Beispiel weiß ich, dass Autos mit jordanischen Kennzeichen in alawitische Dörfer gefahren sind. Bewaffnete, und ich denke das waren Syrer, haben einfach Menschen verhaftet und mitgenommen. Ich glaube solche Dinge sind Theaterspiele des Regimes um Horror zu verbreiten, vor den Muslimbrüdern und den Sunniten (die Mehrheit der Jordanier sind Sunniten, Anmerkung des Autors). Ein anderer Fall: In einem sunnitischen Viertel in Damaskus wurde ein alawitischer Ladenbesitzer bedroht zu gehen, obwohl er schon seit dreißig Jahren dort gewohnt hat. Er wurde einfach erschossen, ein Schuss in den Rücken und drei in seine Brust. Das wird getan, um die Alawiten einzuschüchtern. Deshalb würde ich sagen, dass die Mehrheit der Alawiten nicht Assad aus vollem Herzen unterstützt, aber sie sind gefangen in Furcht vor allen Seiten und sie glauben, dass ihnen Assad Schutz bietet.

Von wem wurde dieser Mann getötet?

Ich weiß es nicht, vielleicht das Regime, vielleicht die Sunniten. Jedenfalls glauben die Alawiten in dieser Gegend, dass es die Sunniten waren.

Ist die Mehrheit der Syrer mit Assad?

Pass auf: Etwa siebzig Prozent der Syrer sind Sunniten. Fünfzehn Prozent sind Alawiten, der Rest ist christlich, ismaelitisch und drusisch. Sie sind gegen Assad, sogar sehr viele Alawiten.

Aber warum ist Assad immer noch an der Macht, weil er die stärkeren Waffen hat?

Weil er Waffen hat, das Militär, Panzer, Raketen, die Luftwaffe. Und er wird von Russland und Iran unterstützt. Das reicht, um an der Macht zu bleiben.

In den westlichen Medien kann man zur Zeit lesen, dass Politiker, besonders Frankreich, die Freie Syrische Armee (FSA) mit Waffen unterstützen will. Was hältst du davon?

Ich mag das nicht. Aber was sollen sie jetzt machen: sterben, einfach nur weitersterben? Das Regime will, dass die syrische Revolution bewaffnet ist. Assad will nicht, dass sie friedlich sind. Mittlerweile gibt es Gegenden, in denen sich Alawiten, Sunniten und Christen gegenseitig hassen, weil sie nicht verstehen, dass sie von Assad gegeneinander ausgespielt werden.

Das heißt, Assad hat einen Vorwand hat mit Gewalt zu kämpfen, so lange die FSA Waffen besitzt?

Ja. Am Anfang hat Baschar al Assad gesagt, dass die Aufständischen alle Salafisten oder Angehörige der Muslimbruderschaft sind. Aber das kann nicht sein, weil Hafez al Assad in den Achtzigern alle Muslimbrüder in Hama getötet hat. Ich glaube heute wohnen im Libanon mehr Muslimbrüder und Salafisten als in ganz Syrien.

Wäre ein NATO-Einsatz eine Möglichkeit, wäre das besser für Syrien?

Ich weiß nicht. Schau dir Irak an, schau dir Libyen an. Wenn ich über NATO-Soldaten in Syrien höre, tut mir das Leid. Aber auf der anderen Seite: Wir brauchen endlich ein Ende, die jetzige Situation muss aufhören. Wir wollen keine fremden Soldaten in Syrien. Aber vielleicht bringen sie uns noch so weit, dass wir das am Ende lieber wollen, weil wir einfach nur ein Ende wollen. Aber wenn andere Länder sich wirklich für Syrien interessieren, besonders Europa und die Golfstaaten, warum nehmen dann nur Libanon, die Türkei und Jordanien Flüchtlinge auf? Zur Zeit ist es so schwierig wie nie, als Syrer nach Europa oder an den Golf zu kommen. Die Vereinigten Arabischen Emirate stellen keine Visa mehr für Syrer aus. Und Syrer, die in Deutschland ankommen, werden nach Osteuropa abgeschoben und von da aus wieder zurück nach Syrien.

Wenn du in Damaskus bei deiner Familie bist, sprichst du über diese Dinge?

Ja, aber nicht mit den Nachbarn. Und meine Eltern haben mir gesagt, ich soll aufhören gegen das Regime Dinge bei Facebook zu posten, weil sie Angst haben. Mein Vater hat zu mir gesagt, “das Regime ist mir egal, aber die Sunniten werden uns alle einzeln umbringen”. Er will nicht weg aus Damaskus. Hier in Beirut spreche ich auch nicht gerne über diese Dinge. Man weiß nicht, wer mit wem ist. Ich fürchte mich vor dem syrischen Geheimdienst und vor libanesischen Befürwortern Assads.

Hast du in Syrien an Demonstrationen gegen das Regime teilgenommen?

Ja zweimal, mit sunnitischen, drusischen und christlichen Freunden. Zusammen.

Wurde bei diesen Demonstrationen geschossen?

Nur mit Tränengas. Und es gab Verhaftungen. Aber bei vielen Demonstrationen sind so viele Menschen gestorben. Ich bin einmal abends an einer Demonstration vorbeigekommen. Ein Mann der Sicherheitskräfte mit einem Schlagstock hat drei Frauen festgehalten und bedroht. Ich habe zu ihm in alawitischen Akzent gesagt: „Bei Imam Ali, lass die Frauen los.” Ich wusste nicht was tun, aber ich wollte den Frauen helfen. Er hat meinen Akzent nicht verstanden, er dachte ich sei Ausländer. Jemand hat in die Luft geschossen. Ich habe es ihm nochmal gesagt. Dann wurde ich verhaftet und im Polizeiauto mit Stöcken verprügelt. Sie haben mich drei Stunden auf der Wache festgehalten, verhört, aber ich habe mich rausgeredet. Aber das ist nichts ihm Vergleich zu dem, was anderen passiert ist.

Das Interview führte Raphael Sartorius am 16. Juni 2012.

 

Anmerkung der Redaktion: Das vorliegende Interview behandelt die Meinung eines syrischen Staatsbürgers, der mit der Situation in seinem Land entsprechend vertraut ist. Der Redaktion von The Intelligence ist es in diesem Zusammenhang nicht möglich zu beurteilen, inwieweit die Meinung des Befragten mit der Auffassung anderer Menschen, insbesondere jener, die anderen Religionen angehören, übereinstimmt. Ungeachtet dessen bedanken wir uns ganz herzlich für den informativen Einblick.

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