Donnerstag , 25 April 2024
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Was geht vor in der arabischen Welt?

arabische schriftDer Jahre lang bestimmende und die Öffentlichkeit beherrschende Konflikt zwischen Israel und der arabischen Welt ist in den Hintergrund getreten gegenüber den Konflikten innerhalb der arabischen Welt selbst. Die wesentlichen Ereignisse sind bekannt vom Beginn der Umwälzungen in Tunesien bis zum derzeitigen Bürgerkrieg in Syrien. Dabei handelt es sich zum einen um Konflikte innerhalb der arabischen Gesellschaften wie in Tunesien, Ägypten und all den anderen Staaten, wo die Auseinandersetzungen ohne offizielle ausländische Einmischung vonstatten gingen. In Bahrain und Libyen griffen ausländische Mächte in die Konflikte ein, zum Teil auch im Jemen mit der Luftwaffe der USA.

Es vermischen sich also innergesellschaftliche Konflikte mit regionalen und sogar überregionalen wie im Falle Syriens zwischen der Arabischen Liga und den westlichen Staaten auf der einen Seite, Russland und China auf der anderen. In all diesen Turbulenzen hielt sich Israel weitgehend zurück.

Die Konflikte innerhalb der Gesellschaften der arabischen Staaten sind zurückzuführen auf die Entstehung und Entwicklung dieser Staaten. Mit dem Verfall des Osmanischen Reiches und besonders in Zeit des Imperialismus vor dem Ersten Weltkrieg war diese Region mehr und mehr unter den Einfluss von Frankreich und England gekommen und damit in den kapitalistischen Weltmarkt. Diese verstärkte sich noch mit den Ölfunden. Aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg und der enormen Zunahme der Bedeutung des Öls für die Entwicklung der Industrie erhielt die Region die strategische Bedeutung, die ihr heute zukommt. Wer über die Ölquellen verfügt, verfügt über den Treibstoff der industriellen Entwicklung.

Die gesellschaftliche Entwicklung in dieser Weltgegend konnte aber nicht mithalten mit diesem wirtschaftlichen Bedeutungszuwachs. Neue Staaten waren entstanden, deren Entstehen nicht Ausdruck war von gesellschaftlichen oder politischen Bedürfnissen und Wünschen der Menschen, die in ihnen lebten, sondern einzig den Interessen der Kolonialmächte geschuldet waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen dann die wirtschaftlichen Interessen der Ölkonzerne als Treibsatz hinzu. Außerdem die politisch-militärischen Interessen der kapitalistischen Führungsmacht USA an der Errichtung von Militärbündnissen an der Südflanke der Sowjetunion.

Das Leben der Menschen aber spielte sich noch weitgehend in gesellschaftlichen Strukturen ab, die sich in einem niedrigeren Zustand menschlicher Gesellschaftsentwicklung befanden. Weitgehend herrschten Stammesgesellschaften vor, die zum Teil noch keine Führungsklasse in Form von Adligen kannten, sich also noch auf vorfeudalistischem Niveau bewegten. Selbst im heutigen Libyen wird in dem Eigenleben der Stämme eine der größten Bedrohungen gesehen für den Fortbestand von Regierungs- und Gesellschaftsformen, die sich an den Demokratien des Westens orientieren. Gerade toben solche Auseinandersetzungen wieder im Süden Libyens. Die neue Regierung hat erhebliche Schwierigkeiten, die Stämme und besonders deren Milizen unter Kontrolle zu bringen. Ähnliches gilt auch für den Jemen, der von Bürgerkrieg zerrissen ist. Für eine Organisierung der Gesellschaften des Nahen Ostens in der Form von Nationalstaaten, wie sie die Entwicklung in Europa schon hervorgebracht hatte, war die Zeit noch nicht reif gewesen.

Deshalb tobten besonders nach dem Zweiten Weltkrieg in diesen neu entstanden künstlichen Staaten über Jahre hin Stammesauseinandersetzungen und Bürgerkriege. Besonders Syrien und Irak kamen nicht zur Ruhe. Erst mit der Errichtung der autoritären Regime unter Assad in Syrien und Saddam Hussein im Irak kehrten dort Stabilität und geordnete Verhältnisse ein und mit dem wirtschaftlichen Fortschritt die Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse. Ähnlich war die Situation auch in Libyen und vermutlich auch anderen Staaten des arabischen Raumes.

Die Unterdrückung der innergesellschaftlichen Konflikte war kein Ergebnis besonderen Machthungers oder der Neigung zu Gewalt und Brutalität bei den neuen Herrschern. Wer versucht, mit solch unzulänglichen Erklärungen die schwierigen Verhältnisse in der Region zu erklären, drückt damit nur das mangelnde Verständnis aus für gesellschaftliche Prozesse und beschönigt die Situation vor diesen autoritären Regierungen. Denn diese war auch nicht gewaltfrei gewesen. Nur wurden diese Konflikte direkt unter den gesellschaftlichen Gruppen selbst ausgetragen und nicht vom Staat als einer über den gesellschaftlichen Gruppen stehenden Instanz gegenüber einzelnen Teilen der Bevölkerung. Der Kampf der Stämme untereinander wurde ersetzt durch den Kampf einer übergeordneten Kraft zur Niederhaltung der Konflikte untereinander.

Mit dem heutigen Maßstab von Menschenrechten eine solche Situation beurteilen zu wollen, hinterlässt sicherlich das angenehme Gefühl moralischer Überlegenheit, wird den gesellschaftlichen Verhältnissen der damaligen Zeit aber in keiner Weise gerecht. Und es gilt ja zu verstehen, wie die derzeitige Situation entstanden ist, und nicht zu verurteilen, was ohnehin nicht mehr zu ändern ist. Nur im Verstehen der Zusammenhänge, nicht im Verurteilen liegt die Chance, Ähnliches in der Zukunft vermeiden zu können.

Die materielle Verbesserung der Lebensgrundlage des größten Teils der Bevölkerung führte zu starkem Bevölkerungswachstum. Trotz des Reichtums, der dem Öl gefolgt war, waren die Länder des Nahen Osten noch weitgehend agrarisch geprägt. Eine Industrie, die den Menschen Arbeit geboten hätte, war nicht entstanden. Dafür fehlten den Völkern die Voraussetzungen in Form der handwerklichen Fähigkeiten, die in Europa zum Entstehen der Industrien geführt hatte, und darauf aufbauend der Bildung der modernen bürgerlichen Gesellschaften. Wenn auch in späteren Jahren der Ausbau der Bildung vorangetrieben wurde, führte das nicht zur Ansiedlung von Industrien, die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig gewesen wären. Dieses Missverhältnis zwischen einem relativ hohen Bildungsniveau und den geringen Aussichten seiner Anwendbarkeit in der eigenen Gesellschaft, die Aussichtslosigkeit auf Arbeit, die den Lebensunterhalt sichern konnte, führte zur Explosion besonders in den bereits höher entwickelten arabischen Gesellschaften wie Tunesien, Ägypten und jetzt Syrien.

Die umfangreichere Berichterstattung über Syrien hat neben emotionalisierenden Berichten und Bildern auch gelegentlich Informationen geliefert über wirtschaftliche Hintergründe, die wahrscheinlich mehr zum Protest der Bevölkerung beigetragen haben als vermutete religiöse oder politische Beweggründe. Die FAZ vom 21.2.2012 berichtet, dass die allmähliche Öffnung Syriens in Richtung Weltmarkt zum Hereinströmen billiger Waren besonders aus der Türkei geführt habe. Die einheimischen Handwerks- und Kleinbetriebe waren dem Konkurrenzdruck nicht gewachsen. Viele Gewerbetreibende verloren dadurch ihre Lebensgrundlage.

Diese Konflikte innerhalb der arabischen Gesellschaften erklären aber nicht das Eingreifen der USA und weiterer westlicher Staaten im arabischen Raum, das mit dem Irak-Krieg begonnen hatte. Die Konflikte in Libyen und Syrien boten günstige Gelegenheiten weiterer Eingriffe in das Machtgefüge in Nahost. Eigentlich hätte der Westen doch ein Interesse am Fortbestand der autoritären Regimes haben müssen, sorgten diese doch trotz allen Menschenrechtspalavers für die Stabilität, die der Westen für seine Interessen und Investitionen brauchte. Auch der immer wieder in die Diskussion gebrachte Hinweis auf den Wunsch nach Kontrolle über das Öl kann nicht als Argument gelten, da die Förderrechte ohnehin schon bei den westlichen Konzernen lagen. Keine der arabischen Regierungen hatte die Absicht, daran etwas zu ändern. Zudem verfügten die Ölförderer neben dem nötigen Wissen und Kapital über die Infrastruktur, um das Öl an den Kunden zu bringen, im Gegensatz zu den arabischen Regierungen. Es muss also andere Gründe für dieses Eingreifen vonseiten des Westens geben. Diese sollen an anderer Stelle ausführlicher besprochen werden.

Hier soll als weiteres Anzeichen für die Veränderungen im arabischen Raum der Wandel innerhalb der Arabischen Liga beleuchtet werden. Bisher hatte man in diesem Gremium die Konflikte untereinander klären wollen. Dass im Falle Libyens und Syriens nun ausländische Mächte, zudem noch die lang gemiedenen westlichen, zur Hilfe gerufen oder aufgefordert wurden, ist eine unerwartete Wendung. Welche Vorgänge können dahinter vermutet werden?

Klare Aussagen von Vertretern der Arabischen Liga, die den Sinneswandel erklären könnten, gibt es nicht. Es scheint vielmehr, dass die bisher bestimmenden, einflussreichen Staaten wie Ägypten, Libyen und Syrien, aber auch Tunesien und der Irak zu sehr mit ihren inneren Angelegenheiten beschäftigt sind. Diese sind aber auch zugleich Staaten, in denen die ehemaligen monarchistischen Herrscher, also der Adel im europäischen Sinne, in den 1950er und 1960er Jahren von Volksbewegungen oder Staatsstreichen aus dem Amt gejagt worden waren. Sie wurden ersetzt durch mehr oder weniger bürgerliche Regierungen, getragen von Volksbewegungen, die in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg sich auch auf sozialistische Ziele (Schlagwort: arabischer Sozialismus) beriefen. Nachdem eine sozialistische Umgestaltung in den Staaten Arabiens nicht stattgefunden hatte, wandelte sich die Stimmung in eine nationalistische. Eine „pan-arabische“ Bewegung forderte die geeinte arabische Nation. Versuche eines Zusammenschlusses von Syrien und Irak scheiterten ebenso wie die Union zwischen Ägypten und Libyen. Im Zuge dieser Bewegungen waren aber einige arabische Königs- und Fürstenhäuser gestürzt worden. Die verbliebenen Monarchien liefen immer wieder Gefahr, dass in ihrem Herrschaftsbereich Ähnliches geschehen könnte, zumal sie außer Saudi-Arabien nur kleine Staaten waren.

Angesichts der Schwäche der Schwergewichte in der Arabischen Liga scheinen nun diese monarchistischen Staaten wie Saudi-Arabien, Qatar und die Emirate am Golf die Gunst der Stunde zu nutzen. Sie dehnen ihren Einfluss aus und beugen einem eventuellen Machtverlust ihrer Häuser vor. Denn in ihren Reichen herrscht noch weitgehend Ruhe und hinter ihnen steht der große Bruder Amerika. An eine Wiederherstellung monarchistischer Regierungen in anderen arabischen Staaten werden sie bei realistischer Einschätzung sicherlich nicht mehr arbeiten. Aber die Schwächung der bürgerlichen Regierungen verschafft ihnen Zeit, ihre Herrschaft in ihren Gesellschaften so umzubauen, dass ihnen eine gewaltsame Lösung wie den Königen in Ägypten, Libyen und anderswo erspart bleibt. Sie schafft auch Verunsicherung darüber, ob angesichts der Unruhen der wirtschaftlichen Rückständigkeit der Weg der bürgerlichen Umgestaltung so viel erfolgreicher war als die Beibehaltung eines monarchistischen Systems.

Zwar ist der Konflikt zwischen Staaten mit bürgerlichen und monarchistischen Regierungen in den letzten Jahren nicht mehr so offensichtlich gewesen, was aber nicht bedeutet, dass er nicht doch existierte. Denn auch in diesen Ländern wie auch in den Monarchien Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Adel immer noch die herrschende Klasse. Sie übt die politische Herrschaft aus. Aber die wirtschaftliche Leistung und damit die Existenzgrundlage der Staaten erbringt das kapitalistische Wirtschaftssystem, das getragen wird von Kräften, die man im weitesten Sinne als Bürgertum bezeichnen kann, auch wenn es mit dem Bürgertum westlicher Prägung nicht identisch ist.

Die ökonomische Entwicklung ihrer Länder, gestützt auf die Ölreserven, erleichtert diesen Umbau und Übergang in eine neue Zeit. Im Gegensatz zu Ländern wie Ägypten, Libyen und Syrien sind Saudi-Arabien und die Golfstaaten Wachstumsregionen.

Sie sind zwar nicht gewählt durch ihre Völker, aber auch ohne diese demokratische Legitimation wird ihre Herrschaft von den Verfechtern der Demokratie im Westen keineswegs kritisiert. Und durch ihre relative Stabilität im Innern erweisen sie sich eher als Garanten der westlichen Interessen als die Schwergewichte, auf die der Westen bisher nicht zuletzt auch durch massive Militärhilfen gesetzt hatte. Insofern haben sie im Moment alle Trümpfe in der Hand, die Machtverhältnisse in der Arabischen Liga in ihrem Interesse umzugestalten, und diese Einflussnahme macht sich auch in Bezug auf die schwächelnden Großstaaten der Region bemerkbar, indem zum Beispiel die direkte militärische Intervention in Syrien gefordert wird. Hier treffen sich die Interessen der monarchistischen Kräfte mit denen der USA, die die Gelegenheit nutzen wollen und in Staaten wir Libyen und Syrien Kräften zur Herrschaft verhelfen wollen, auf die sie mehr Einfluss haben als auf die bisherigen.

 

Dazu das Buch des Autors: Kolonie Konzern Krieg – Stationen kapitalistischer Entwicklung

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