Freitag , 29 März 2024
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Abschalten! – Macht und Verantwortung moderner Unterhaltungsmedien

fernbedienung_off„Nimm Opium aus Indien, führe es in China ein – Hallo, Fong, darf ich dir Opium vorstellen, Opium, das ist Fong – ah, so, ich essen! – Neinneinnein, Fong, du rauchen, paffpaff, rauchen, verstehn? Und hübsch bald kommt Fong zurück und will mehr und noch mehr, und schon hast du eine unelastische Nachfrage nach dem Stoff erzeugt (…).“ Was hat diese Szene aus Thomas Pynchons Die Enden der Parabel (S. 542) mit unseren heutigen Medien zu tun? Es geht um die Verantwortung, die daraus erwächst, Einfluss auf die zentralen Werte, Interessen und Bedürfnisse im Leben anderer ausüben zu können – die Macht moderner Unterhaltungsmedien.

Die Medien stehen seit einiger Zeit in der (Selbst-)Kritik, der zufolge sie maßlos aufbauschen, verharmlosen, die öffentliche Aufmerksamkeit lenken und wieder ablenken, den Hype um Personen zelebrieren, um sie kurz darauf kollektiv wieder fallenzulassen und im Rudel zu zerfleischen – man mag den Eindruck gewinnen, Medien seien manisch-depressive Herdentiere. Das wäre in unserer schnelllebigen Zeit an sich kaum weiter schlimm, wenn Medien nicht auch so wichtig wären: Pressefreiheit und eine funktionierende Medienlandschaft sind unerlässlich für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Insofern haben Medien beträchtliche politische Macht und tragen Verantwortung dafür.

Nun gibt es nicht nur die politischen Medien, diese „vierte Gewalt“ im Staat, sondern daneben auch die Unterhaltungsmedien. Sie spielen bei uns eine immer wichtigere Rolle, denn sie erreichen nicht nur weitaus mehr Menschen als die „trockenen“ politischen Medien, sondern sie übernehmen auch zusehends deren Funktion: Filme, Serien und „Infotainment“ vermitteln politische Inhalte und gesellschaftliche Werte – seit jeher schon. Wie allerdings Wolf Bauer, als Geschäftsführer der Ufa selbst einer der wichtigsten Akteure der deutschen Unterhaltungsindustrie, letztes Jahr in einem denkwürdigen FAZ-Artikel schrieb, verlieren zudem heute Familie, Kirchen, Parteien und Vereine als traditionelle Träger des gesellschaftlichen Wertekonsenses immer mehr an Einfluss, der durch die Unterhaltungsmedien übernommen werde: Mit ihnen verbringen Jugendliche heute durchschnittlich neuneinhalb Stunden täglich. Und weil Unterhaltungssendungen emotional und ganzheitlich ansprechend gestaltet seien, bleiben deren Inhalte und Botschaften viel besser beim Konsumenten hängen als die der ohnehin immer weniger Beachtung findenden politischen Medien. So kommt Wolf zu dem Schluss, dass die strikte Trennung zwischen Unterhaltungs- und politischen Medien nicht mehr zielführend sei, wenn es um die Frage gehe, wie heute gesellschaftliche Werte sowie politische und persönliche Einstellungen entstehen und gelebt werden. Dafür sind die sogenannten Unterhaltungsmedien für die politische und soziale Bildung zu wirkungsmächtig geworden.

Was Wolf nicht thematisiert, ist die Selbstbezogenheit der Medien: Sie vermitteln nicht nur politische Inhalte oder Werte für das tagtägliche Miteinander, sondern sie bestimmen natürlich auch sehr effektiv unser Verhältnis zu Konsum und Lebensgewohnheiten mit. Das heißt, sie haben auch Einfluss darauf, wie wir Konsumenten Medien und Unterhaltung wahrnehmen und welchen Stellenwert wir ihnen in unserem Leben einräumen. Und wie jedem anderen Hersteller von Produkten und Dienstleistungen ist ihnen naturgemäß sehr daran gelegen, dass dieser Stellenwert und die Bereitschaft zu mehr und intensiverem Konsum möglichst groß sind. Wachstum ist das zentrale Ziel jedes Unternehmens, und so zielen natürlich auch Medienkonzerne darauf, mehr Zuschauer, Hörer, und Spieler möglichst dauerhaft an sich zu binden. Und hier liegt der springende Punkt: Wenn wir davon ausgehen, dass Unterhaltungsmedien zu einem höchst wirkungsmächtigen bildungspolitischen Akteur geworden sind, dann liegt der Schluss nahe, dass sie auch immer mehr auf sich selbst bezogen, als Selbstzweck eingesetzt werden: Die Unterhaltung kann aufgrund ihrer suggestiven Kraft wie kaum ein anderes Produkt die Nachfrage nach sich selbst schaffen, erhalten und ausweiten!

Ähnlich wirkungsmächtig sind in der Welt der Produkte nur Drogen: Auch sie sind insofern hochgradig selbstbezogen, als sie die Nachfrage nach sich selbst beim Konsumenten stetig ausbauen und darüber alles andere, was den Menschen ausmacht, immer stärker ausblenden. Diese Parallelen zwischen Drogen und Unterhaltung hat der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace in seinem Roman „Unendlicher Spass“ anschaulich behandelt. Unzählige Handlungsstränge des 1996 erschienenen Werks drehen sich um zwei aufs Engste verknüpfte Themen: Einerseits die Drogensucht und andererseits der immer mehr um sich greifende kulturelle Hang zur Unterhaltung.

unendlicher_spass_coverDie Haupthandlung von „Unendlicher Spass“ spielt in naher Zukunft und drückt diesen Hang durch eine Metapher überspitzt aus: In dem 1500 Seiten starken Roman jagen nämlich sowohl der Geheimdienst als auch eine terroristische Separatistengruppe hinter dem Film „Unendlicher Spass“ her, der jeden Zuschauer augenblicklich so stark in seinem Bann zieht, dass er sich nicht mehr von ihm lösen kann, bis er in den eigenen Exkrementen verhungert und verdurstet. Foster Wallace lässt den zweifelhaften Genuss von einem intellektuellen Gast auf einer Party als „eine Art ästhetisches Pharmazeutikum“ beschreiben, als „abstraktizierbare Hypnose, ein optischer Dopamin-Ausschüttungsreiz.“ Nun wird der Neurotransmitter Dopamin allgemein vor allem mit dem Belohnungssystem im Hirn in Verbindung gebracht, und so ist er auch maßgeblich an jeglicher Sucht beteiligt. Der Film macht den Zuschauer also sofort gleichzeitig süchtig und so vollkommen zufrieden, dass er menschliche Bedürfnisse vollkommen ignoriert – so wie es sonst nur eine Drogenabhängigkeit im fortgeschrittenen Stadium vermag.

In dem Buch wird „Unendlicher Spass“ meistens nur „die Unterhaltung“ genannt, und so steht bei Foster Wallace dieses fiktive audiovisuelle Suchtmittel auch metaphorisch für jegliche Art passiv konsumierbarer Unterhaltung, mit dem sich heute ein Großteil der Menschheit im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit vertreibt. Während Foster Wallace die augenblicklich einsetzende Sucht direkt und ohne Unterbrechung bis in die Anstalt oder den Tod führen lässt, so unterbrechen wir Medienkonsumenten zwar unser „Abschalten“ wegen einiger Grundbedürfnisse, verbringen aber ansonsten sehr viel Zeit eben mit dem passiv-rezeptiven Vertreiben der Zeit durch Unterhaltung . Das kommt natürlich keiner stofflichen Abhängigkeit mit all ihren zerstörerischen Wirkungen gleich, aber es ist schon beachtlich und bedenklich, in welchem Umfang, wie gewohnheitsmäßig und wie träge heimische Unterhaltungsmedien konsumiert werden und wie zwischenmenschliche Beziehungen, Interessen oder auch Verpflichtungen darunter leiden. Hier von Sucht zu sprechen, wäre polemisch und würde echte Abhängigkeit verharmlosen, und doch ist der Stellenwert, den Filme, Shows und vor allem auch Serien im Leben von immer mehr Menschen eingenommen haben, Besorgnis erregend.

Diese Sorge teilen wohl kaum alle. Die Nachfrage nach Unterhaltung ist von deren psychosozialen Kosten weitestgehend abgekoppelt, also unabhängig vom Preis: David Foster Wallace überträgt damit das Bild der unelastischen Nachfrage nach Opium auf den Konsum von Heimunterhaltung. Das Opium der modernen Mediengesellschaft verkauft sich also verlässlich, ist rentables Geschäft und sicheres Investment. Allen, die daran ökonomisch, sozial und politisch mitverdienen, dürfte es folglich mehr als recht sein, wenn ihre Kunden treu einen Großteil ihrer Lebenszeit mit Unterhaltungskonsum verbringen.

Demgegenüber haben einige Hersteller von Bier und Spirituosen zumindest angefangen, so zu tun, als wolle man sich für die Allgemeinheit ins eigene Fleisch schneiden, indem man zum verantwortungsvollen Genuss anregt: „Drink responsibly“ – verantwortungsvoll trinken – rät Roger Federer in einer Bacardi-Werbung, und deutsche Bierbrauer fördern ihrem „Brauer-Kodex“ zufolge „ausschließlich den bewussten, verantwortungsvollen Genuss alkoholhaltiger Getränke im Allgemeinen und des Kulturgutes Bier im Besonderen.“ Ein entsprechendes Lippenbekenntnis, oft zumindest der Beginn der Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch Unternehmen, steht für Medien und Unterhaltungsbranche noch aus. Die Materie ist auch ungleich komplexer und die Zusammenhänge weniger eindeutig: Sind die schweren psychosozialen Probleme des Drogenkonsums seit jeher Bestandteil des gesunden Menschenverstands, so ist der Verlust an Lebensqualität durch Unterhaltungsmedien scheinbar viel harmloser und beinahe zu vernachlässigen.

Und doch haben alle Beteiligten eine Verantwortung für die Lebenszeit, die durch die Unterhaltung „zerstreut“ wird, für das Leben, von dem sie „ablenkt“. Zerstreuung und Ablenkung haben ganz unzweifelhaft ihren Platz im Leben, so wie sicherlich auch der bewusste Genuss, aber ausschlaggebend sind dabei das Maß und der Stellenwert. Da beides durch die Medien selbst beeinflusst werden kann, haben sie bei der Medienkompetenz eine besondere Verantwortung wahrzunehmen. Das wurde nun auch von der Global Reporting Initiative (GRI) erkannt, dem weltweit anerkanntesten Gremium, das Standards für die Berichterstattung über sozialverantwortliche Unternehmensführung zur Verfügung stellt, anhand derer letztes Jahr weltweit über 1600 Großkonzerne berichtet haben. Momentan entwickelt die Initiative unter Einbezug aller Anspruchsgruppen Zusatzrichtlinien speziell für die Medienbranche. An Medienunternehmen, die an der GRI teilnehmen wollen,  sollen auch mehrere Vorgaben gestellt werden, die deren Verantwortung für Medienkompetenz zum Ziel haben, z.b.  „empowering audiences to consume content responsibly“ (Zuschauer zum verantwortungsvollen Konsum von Inhalten befähigen). Die GRI bietet damit erstmals ein Rahmenwerk, das dem Thema Medienkompetenz auch einen erheblichen Stellenwert als soziale Verantwortung von Medienunternehmen zuweist und deren Politik in diesem Zusammenhang transparent machen kann. Da sich die GRI als partizipative Organisation sieht, bei der alle Anspruchsgruppen teilnehmen können, lädt sie noch bis zum 4. August 2011 dazu ein, den Entwurf der Richtlinien zu kommentieren.

Eine Nachfrage nach Heimunterhaltung, die aufgrund der Trägheit ihrer Konsumenten unelastisch ist, liegt vielleicht im kurzfristigen Interesse ihrer Anbieter. Sowohl in deren langfristigen als auch im Interesse der Gesellschaft allgemein liegt allerdings ein verantwortungsvoller Umgang mit jeglicher Art von „Abschalten“. Wie zunehmend mehr Industriezweige ist es daher an der Zeit, dass sich die Unterhaltungsbranche ihrer ganz einzigartigen und spezifischen gesamtgesellschaftlichen Rolle und Wirkung bewusst wird und Verantwortung dafür übernimmt.

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