Samstag , 20 April 2024
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Lethargie

couch_fernbedienung„Woran mag es wohl liegen“, so frage ich mich manchmal, „dass wir Menschen kaum noch von den schrecklichen Meldungen berührt werden, die uns tagtäglich erreichen.“ „Wie begründet es sich, dass wir jene Traurigkeiten in einer Weise verarbeiten können, die eher einer routinemäßigen Absortierung gleichkommt?“ Klar ist, dass der Mensch nicht jede Misere im Detail verinnerlichen kann; bereits an dem Versuch würde man kläglich scheitern, ja zerbrechen, was letztlich niemandem dienlich wäre. Nein, das ist es auch nicht, was ich meine.

Hier spreche ich von der Tatsache, dass anscheinend immer mehr Menschen immer weniger bereit sind, sich mit den Problemen ihrer Mitmenschen auseinanderzusetzen. Ein hohes Maß an Desinteresse zeigt sich da im Vordergrund. Eine Passivität, die nicht angeboren ist! Was also mag dazu geführt haben, dass es so ist, wie es ist? So meine Frage. „Ich habe selber genug Belastungen am Hals“, höre ich es aus der einen Ecke klagen, „da kann ich mich wirklich nicht noch mit den Problemen anderer Leute beschäftigen.“ „Weder die Kriege noch die Hungersnöte der Welt kann ich verhindern. Dafür sind Politiker zuständig, die Politiker oder Gott.“ So tönt es aus der anderen Ecke. Gut, zwar erkenne ich in dieser Argumentation eine Resignation, eine, die ich für äußerst gefährlich halte und die in keiner Hinsicht meine eigene Meinung spiegelt, dennoch aber kann ich diese Haltung zumindest nachvollziehen.

Kriege hier und Kriege dort, Naturkatastrophen, Hungersnöte und Seuchen – in einer nie enden wollenden Kette werden sie uns per Berichterstattung präsentiert. Man kann es wahrnehmen, das Elend. Während wir gemütlich im Sessel und vor dem Fernseher sitzen, kommt sie zu uns ins Haus, per Satellit wie per Kabel, die Not der Welt. In der einen Hand die Fernbedienung, und in der anderen ein gutes Getränk, nehmen wir an den Geschehnissen unserer Tage teil. Während wir zwischen der TV-Werbung und dem Angebot an Krimifolgen hin- und herzappen, ist sie kurz präsent, die Bedrängnis. Verhält es sich so? Eben nicht. Und genau das ist es, worauf ich zeige. Wir nehmen es nicht mehr wahr, all das Elend, und nehmen auch nicht mehr teil, an den schrecklichen Geschehnissen unserer Tage. Auch ist es für uns längst nicht mehr präsent, was unsere Nächsten hoffnungslos bedrängt. Nein, wir realisieren es kaum noch, fühlen es nicht mehr nennenswert mit.

Kaum hat sie uns erreicht, die Flut aus bunten Bildern und grau-sachlichen Kommentaren, die die brandaktuellen Schreckens-Szenarien lebhaft dokumentieren und nüchtern kommentieren, schon zerrinnt sie, an uns vorbeifließend, im sprichwörtlichen Sande. Wir werden nicht einmal nass dabei. Wie auch sollte das geschehen? Per Knopfdruck wird auf „Unterhaltung die gefällt“ umgeschaltet. Bei Erdnüssen und Chips verweisen wir die Brandherde unseres Erdenrunds auf die Plätze der allerletzten Reihe. Wo früher ein Entsetzen aufkam, reicht es heute gerade noch für ein Kopfschütteln, wenn überhaupt. Die Daran-kann-man-nichts-ändern-Schublade ist zwar randvoll, aber es passt immer noch etwas obendrauf. Und ja, wer wollte diesbezüglich nun mit dem Finger auf seinen Nachbarn zeigen, könnte ihn der unterlassenen Hilfeleistung beschuldigen? Die Machtlosigkeit lähmt jeden, verhindert jegliche Hilfe, ja legitimiert die Passivität der Gesättigten.

Die Miseren bleiben. Die Fragen ebenfalls. Was kann ich tun, was kannst du tun, was können wir gemeinsam unternehmen. Wo genau liegen die Versäumnisse positioniert, welche Weichen wurden und werden falsch gestellt? Ein Patentrezept gibt es nicht, soviel ist gewiss, allerdings – und möglicherweise wäre das ein Ansatz – gab es das zu keiner Zeit. Gerechtigkeit, Ausgewogenheit, Geborgenheit, sie waren niemals zum Nulltarif zu haben. Die Resignation hat noch keine einzige Mauer eingerissen, und ebenso noch keine Brücke erbaut. Wie auch immer dem sei, eines scheint gewiss zu sein: wenn wir die Probleme der Welt – unserer Welt! – nicht gemeinsam angehen, wenn wir uns darauf beschränken sie zuzuordnen, weiterzureichen, abzulegen, ja zu ignorieren, dann ist diese unsere Welt für ihre Bewohner irgendwann lediglich ein einziges, monströses Problem. Von all den gemachten Fehlern der Menschheit ist die Ignoranz mit der bedrohlichste.

Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt, jedes Aufräumen mit dem ersten Handgriff. Fangen wir an. Beginnen wir im Kleinen, beginnen wir bei uns. Vielleicht – vielleicht sollten wir unseren Traum von einer erträglichen Welt anders platzieren, ihm einfach mal mehr Zutrauen schenken, ihn spontan für realisierbar erachten. Weshalb soll sich immer das Chaos bis zum Ausufern verselbstständigen dürfen, wieso nicht ab heute die Hoffnung. Mit dieser Einstellung, und mag sie angesichts der geschilderten Situation noch so absurd klingen, kann man zumindest nichts falsch machen. Die Hoffnung vermittelt Kraft, die Resignation lähmt. Wenn du und ich, wenn wir gemeinsam, das näher hinsehen Können wieder erlernen, oder, sofern es noch nicht abhandengekommen ist, es wieder in Betracht ziehen, dann wäre das zwar ein kleiner Schritt, aber zweifellos einer in die richtige Richtung. Davon bin ich überzeugt.

Das sollte uns doch gelingen. Nicht mehr wegsehen, ist durchaus ein brauchbarer Ansatz, ein erster, kleiner Schritt. Die Frage „wie geht es meinem Nächsten?“, die wird dann die Hürde des sprichwörtlichen Tellerrandes mühelos überspringen können. Auch dessen bin ich mir sicher. Unsere Nächsten, das sind dann auch die, die wir möglicherweise niemals persönlich zu Gesicht bekommen werden, deren Nöte uns bis dato allein mittels der TV-Nachrichten und Boulevardzeitungen vorstellig wurden, und das sehr flüchtig, oder besser gesagt, dergestalt nicht mehr wahrnehmbar. „Aus kleinem Anfang entspringen alle Dinge“, erkannte der römische Philosoph, Schriftsteller und Politiker Marcus Tullius Cicero vor über 2000 Jahren, und diese Einsicht hat seither nichts von ihrer Authentizität eingebüßt. Das macht Mut, wie ich meine, denn nicht mehr als einen kleinen Anfang kann und wird uns das Gebot der Stunde abverlangen.

© Peter Oebel

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