Freitag , 29 März 2024
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Stolpersteine als mahnende Erinnerung

stolpersteinDer wolkenlose Himmel zeigt sich in einer beeindruckenden Blaufärbung. Die frische, klare Luft erlaubt ihm eine scheinbar grenzenlose Ausdehnung. Eine Weite, die bis tief in die Atmosphäre reicht. Windstille. Nur die seicht rhythmischen Bewegungen in den Wipfeln der großen Bäume, die in den Hinterhöfen wohnen und über die Dächer der Häuser ragen, lassen eine Strömung in den oberen Bereichen erahnen. 19° Celsius zeigte das Thermometer am Eingang der Apotheke an. Eine Temperatur, die ein Frieren nicht zulässt und ein Schwitzen vermeidet. So empfinde ich es.

Eine ausgeglichene Ruhe durchfließt diese Straßen. Keine ablenkenden Geräusche begleiten diesen wunderbaren Morgen auf seinen Weg in den Tag. Ungewöhnlich, für Hamburgs Stadtteil Rotherbaum. Hier, im Viertel rund um die Universität, herrscht für gewöhnlich ein reges Treiben, eine Belebtheit, die pünktlich zur Zeitungs- und Brötchenholzeit beginnt, und dann über den Tag bis spät in die Nacht hinein anhält. Nicht so an diesem Morgen. Schön. Eine Ruhe – ja Stille, die ich gerne konservieren würde. Ein paar Schritte gehen liegt in meiner Absicht. Einige Minuten schlendern. Ein Zwischenstopp, auf dem Weg nach Hause. Hier, in einer der beliebtesten Wohngegenden Hamburgs. Inmitten der alten Mietshäuser aus der Gründerzeit, mit ihren kunstvoll verzierten Fassaden. Häuser, die die überaus großzügig geschnittenen Wohnungen erahnen lassen. Die geräumigen Zimmer, mit ihren bis zu dreieinhalb Meter hohen und Stuck verzierten Decken.

Ich mag diese Gegend. Nicht zuletzt auch wegen der zahlreichen Restaurants, Kneipen, Buchläden und Einzelhandelsgeschäfte, die sich an diesem Orte noch halten können. Ein Ziel habe ich auch heute nicht. Jedenfalls nicht bewusst. Nein. Ansonsten würde ich meinen kleinen Ausflug auch nicht als Schlendern deklarieren. Heute ertappe ich mich dabei, dass ich hin und wieder auf den Boden blicke, und versuche, meine Schritte so zu lenken, dass sie jeweils mittig der Gehwegplatten enden. Das geschieht automatisch. Scheinbar animieren mich die schmalen, quer laufenden Fugen dazu, die jene Platten voneinander trennen. Irgendwie kenne ich das aus meinen Kindertagen. Hier und dort kommen mir Menschen entgegen. Halten eine Zeitung in der Hand, oder eine Tüte vom Bäcker. Einige werden, mit einem variierenden Abstand, von einem am Boden schnuppernden Hund verfolgt, der müde wie gelangweilt hinter Herrchen oder Frauchen hertrottet.

Die meisten der hier etablierten Boutiquen sind noch geschlossen, die Auslagen in den Fenstern unbeleuchtet. Der Blumenladen hat geöffnet. Fahrräder lehnen zuhauf an den Bäumen. All diese Begegnungen sind mir vertraut, fügen sich mir übergangslos und als willkommene Impressionen in diesen Morgen. Da – eine unerwartete Wahrnehmung direkt vor mir, ja vor meinen Füßen in der Bornstraße und unmittelbar im Eingangsbereich mit der Hausnummer 20, stoppt übergangslos meinen Gang: „Hier wohnte Isidor Selig / JG. 1890 / 1938 Haft im KZ Sachsenhausen / Deportiert 1941 / Minsk / Ermordet“, lese ich vom Boden ab. Die gewohnte Symmetrie der Wegplatten ist hier jäh unterbrochen. Ich blicke auf vier handtellergroße, bündig in den Bürgersteig eingelassene Messingplatten. Die mit deutlichen Konturen in das Messing eingeschlagenen Lettern sprechen mich der Reihe nach an:

„Hier wohnte Lina Selig / geb. Schönthal / JG. 1895 / Deportiert 1941 / Minsk / Ermordet“. Mein Blick streicht über die drei sich anschließenden Granitsteinstufen des Eingangs, wandert zur Haustür, mit dem kunstvoll verzierten Klingelknopf-Tableau, hoch zu den Fenstern des Hochpaterres, entlang der Fassade des 3-stöckigen Wohnhaus. Über dem Dach, das schattenlose Blau des Morgens. Zurück zu den beschrifteten Messingplatten am Boden: „Hier wohnte Werner Selig / JG. 1921 / Deportiert 1941 / Minsk / Ermordet“. Eine Brötchentüte knistert. Hinter mir der Schatten einer jungen Frau. Ich stehe mitten auf dem Weg, stehe etwas im Weg. Die Sonne wirft seichte Strahlen der Wärme auf die vier Messingplatten vor mir. Die eingeschlagene Schrift provoziert eine Schattenwirkung, die den Informationen eine Sprache zu verleihen scheint. Doch, ich vernehme es deutlich, ich werde angesprochen:

„Hier wohnte Ernst Selig / JG. 1922 / Deportiert 1941 / Minsk / Ermordet am 22.01.1945 im KZ Flossenbürg“. Das, was ich da wahrnehme, so unvorbereitet, so plötzlich, das ändert den Moment. Nicht die Ruhe dieses Morgens, nein, ich glaube sogar zu merken, dass die Stille zugenommen hat. Hier hat ein Stück von vergangenen Realitäten in der allerersten Reihe meiner Gedanken Platz genommen. Lautlos zwar, aber absolut. Meine Gedanken verselbstständigen sich in ungewohnter Weise. Sie beenden meinen Spaziergang an dieser Stelle. Betroffenheit und Hilflosigkeit werden von Fragen abgelöst. Zeitgleich geschieht das. Langsam wende ich mich ab. Auf dem Rückweg stolperte ich noch über einige dieser Steine. Nicht buchstäblich, was erträglich wäre, nein, mit dem Herzen. Einer flüsterte mir im Vorbeigehen zu: „Hier wohnte Ilse Gutmann / JG. 1937 / Deportiert 1941 / Lodz / Ermordet.“ Ein Kind von 4 Jahren.

Hier kann ich nichts mehr tun. Was bleibt, ist die Erinnerung an das Vergessen. Ich habe begriffen. Habe begriffen? Nein. Nein, das kann man nicht begreifen … Der mir so vertraute Morgen, er will langsam wieder zu mir zurückkehren. Besser gesagt, er bemüht sich darum. Die frische, klare Luft. Der weite, blaue Himmel über Hamburg. Die seicht rhythmischen Bewegungen in den Wipfeln der großen Bäume. Mir ist nun doch etwas kalt geworden. Ich schließe den Reißverschluss meiner Jacke. Mittlerweile ist es nicht mehr ganz so still, im Hamburger Stadtteil Rotherbaum. Die Geschäftigkeit hat deutlich zugenommen. Bis zu meinem Wagen werde ich noch, eingehämmert am Boden, von Hilda Gutmann, Emma Cohn, Jenny Pincus, Erna Bruciner, Valentina Bruciner, John Löwenstein, Paula Meyer und Hanna Meyer begleitet. „Das darf sich niemals wiederholen“, höre ich mich laut denken. Zumindest das habe ich verstanden.“

stolperstein_verlegungAnmerkung: Stolpersteine – mit diesen kleinen Gedenktafeln erinnert der Kölner Konzeptkünstler Gunter Demnig an das Schicksal der Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt, deportiert und ermordet wurden. Ein Stolperstein besteht aus einem würfelförmigen Betonstein, mit einer Kantenlänge von zehn Zentimetern, der oberseitig mit einer individuell beschrifteten Messingplatte versehen ist. Gunter Demnig setzt die Stolpersteine, die sich in Deutschland und Europa immer rasanter ausbreiten, zumeist eigenhändig in die Pflaster der Gehwege ein, gewöhnlich an den Wohnorten, die von den Opfern des NS-Regimes zuletzt frei gewählt werden konnten. Mittlerweile haben die über 25.000 gesetzten Stolpersteine (weit über 15.000 allein in Deutschland) das Projekt zum größten dezentralen Mahnmal der Welt deklariert. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, so Demnig. Gegen dieses Vergessen kämpft der Künstler Stein um Stein.

Weitere Informationen dazu finden sich auf Wikipedia.

© Peter Oebel

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