Donnerstag , 28 März 2024

Künstliche Welten

kuenstliche_welten„Leute seid wachsam, es werden euch immer mehr synthetische Lebensmittel angeboten!“, so die Überschrift auf dem Handzettel, der mir gereicht wird. Drei junge Menschen haben sich hier unmittelbar vor dem Eingangsbereich des Supermarktes positioniert, und versuchen ganz offensichtlich möglichst viele der Vorbeigehenden mit dieser Botschaft zu konfrontieren. Ausgangspunkt ist ein kleiner Stand – Tapeziertisch mit weißer Papiertischdecke – an dem ein Plakat lehnt: „Unserer Nahrungsmittelkette wird zunehmend naturwidriger!“

„Da ist was dran“, so mein Gedanke, während ich den orangefarbenen Zettel (Flyer mag ich nicht sagen) entgegennehme. Und leider nicht zuletzt aus rein gewinnorientierten Gründen sammeln sich tatsächlich immer mehr Chemieexperten unter den Mitarbeitern der Lebensmittelindustrie. Das ist eine Tatsache, eine Gegebenheit, die seitens jener Lieferanten kaum noch nennenswert bestritten wird, ja die keinem auch nur halbwegs wachen Konsumenten ernsthaft verborgen bleiben kann. Im Gehen überfliege ich das Kleingedruckte unter der besagten Überschrift des Handzettels. Wie erwartet, deckt sich die Essenz der Zeilen mit meiner Überzeugung. Noch bevor ich den Markt betrete, werfe ich die Proklamation in einen der eisernen Abfallbehälter, die beidseitig der gläsernen Türflügel an eine gewisse Ordnung erinnern. „Doch, da ist was dran“, höre ich mich denken, und unweigerlich kommen mir hierzu einige Parallelen in den Sinn.

Diese unsere Welt, wird sie nicht in der Tat fortwährend synthetischer, zunehmend abstrakter und kontinuierlich unwirklicher, und zwar nicht allein mit einem Blick auf die angeführte Thematik? Ja verhält es sich de facto nicht so, dass sich jene Attribute längst schon in so ziemlich jeden Bereich unseres Lebens eingenistet haben, und das mittels einer recht soliden Verankerung? Haben wir den Gewöhnungsprozess nicht bereits absolviert, liegt sie nicht lange hinter uns, die Umorientierung, die Adaption an das, was auf unserer guten Mutter Erde noch vor nur wenigen Jahrzehnten als Unwirklichkeit, als Fiktion bezeichnet wurde? Sehen wir genauer hin, blicken wir etwas kritischer auf die Gegebenheiten, dann kommen wir nicht daran vorbei, den Verdacht zu unterstreichen. Längst schon hat sich der Mensch daran gewöhnt, einen Computer als Gefährten zu haben, eine Maschine, die ihn lenkt, leitet, kontrolliert und auch unterhält.

Stets und ständig richten wir unseren Blick auf irgendeinen Monitor, konzentrieren uns entweder auf das Angebot der unzähligen, per Kabel oder Satellit gesandten TV-Kanäle, auf die verschiedensten, per Internet angebotenen Offerten, oder gerne und in welcher Form auch immer, auf irgendwelche PC-Spiele. Das Miteinander, das geschieht zunehmend innerhalb der so genannten Sozialen Netzwerke, die Artikulation erfolgt in dieser virtuellen Welt per Tastatur und Mausklick. Zahlen sind der Maßstab für Beliebtheit und Ansehen. Zähler werten den Menschen, der sich hinter einem sogenannten Avatar verbirgt, unwillkürlich auf oder ab. Eine Gleichschaltung per Automatismus. Wie anders als so, sollte oder könnte das beschrieben werden, was uns tagtäglich in den Bann zieht, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Da klingt mir der Appell: „Leute seid wachsam, es werden euch immer mehr synthetische Lebensmittel angeboten!“ höchst vertraut.

Doch. Ja. Eigentlich passt das anfangs bezüglich des Lebensmittelangebots Kritisierte mit dem gerade Erwähnten recht gut zusammen. „Unserer Nahrungsmittelkette wird zunehmend naturwidriger!“, mahnt das am Tapeziertisch lehnende Plakat, und zweifelsohne könnte dort auch der Aufruf hinterlegt sein: „Unser Miteinander wird zunehmend naturwidriger!“ Oder? Anbei, nicht etwa, dass ich die Technik unseres Kommunikationszeitalters pauschal verdammen will, das liegt fernab meiner Absicht, und solange mein Hausarzt seine Patienten nicht per Barcode-Software am Schniedel registrieren und aufrufen lässt – was, wie ich stark vermute, in gewissen Kreisen bereits so oder zumindest ähnlich so in Erwägung gezogen wird – wird sich meine Kritik durchaus auch innerhalb allgemein verträglicher Grenzen halten. Nein, aber es muss doch erlaubt sein, einen Fingerzeig darauf zu geben, was in unserer Gesellschaft Beachtung findet und was eben nicht.

Wir leben in einer Welt, in der ohne eine Ansammlung an entsprechenden Magnetkarten kaum noch was geht, in der Barcode Etiketten identifizieren und sortieren, in der Scanner und Sensoren orten und registrieren, in der Überwachungs- und Beobachtungskameras kontrollieren und aufzeichnen, in der Satellitennavigationssysteme bestimmen und leiten. Computer und Computervernetzungen kommunizieren miteinander, haben in der modernen Arbeitswelt die erforderlichen von Mensch zu Mensch Gespräche auf das absolute Minimum reduziert. Immer häufiger ersetzt das Mobiltelefon per Kurznachrichtendienst die persönliche Unterhaltung, das allerdings, wie es scheint, nahezu ohne die geringste Unterbrechung. Unser PC erspart uns sowohl den Weg zur Bank, als auch den Weg zum Reisebüro, und dank Amazon ebenfalls den Weg zum Buchladen, ja und sollten wir es wollen, dann spielt er mit uns sogar eine Partie Schach.

Ich kann es mir sehr wohl vorstellen, und dieses Bild zeigt sich mir alles andere als beruhigend, dass es uns Menschen irgendwann einmal tatsächlich schwerfallen wird, real zu unterscheiden, ob wir es allein mit einer Computersimulation oder mit der Realität zu tun haben. Was ist imaginär, was wirklich, so lautet dann die deutlich gestellte Frage, gestellt von Seelen, die es mit der Zeit verlernt haben, das für das Leben brauchbare Unterscheidungsvermögen zu erhalten. Fiktion? Ich hoffe ein Ja, und glaube ein Nein. Obgleich es unbestritten völlig irrelevant ist, was ich persönlich an dieser Stelle beurteile, und in welcher Form ich es tue, mag ich hier und jetzt dennoch davon ausgehen, dass sich diese Frage über kurz oder lang einmal unüberhörbar stellen, oder, besser gesagt, regelrecht aufdrängen wird. Kommt der Appell: „Leute seid wachsam …“ nicht zu spät, egal, auf was er sich auch beziehen mag?

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