Donnerstag , 25 April 2024
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Die soziale Logik der Kreaktivität – Pussy Riot und deren Vorläufer in der Kunstgeschichte

pussy riot russiaHeutzutage wächst durch Initiativen internationaler Kooperation so etwas wie ein transnationales Bewusstsein heran. Im Zuge davon entwickelt sich auch ein vollständig neues Künstlerbild, welches auf einen größeren Mitarbeiterstab aufbaut wie etwa bei Olafur Eliasson, Matthew Barney, oder Ai Weiwei. Dabei geht es aber nicht nur darum, größere Arbeitsvolumen abzudecken, sondern um ein Zusammendenken, welches der momentane gesellschaftliche Diskurs noch gar nicht ausreichend zu reflektieren vermag, denn die Gesellschaft befindet sich ja bereits seit längerem in einer Krise des Verständnisses ihrer historischen Bedingtheiten. Aber es gibt einzelne Ansätze so ein neues Zusammendenken auch theoretisch zu reflektieren. Pierre Bourdieu versucht etwa über den Begriff der “kulturellen Felder“ eine Alternative zur rein internen oder rein externen Interpretation der Kunst zu entwickeln. Bruno Latour erforscht wie soziale und emotionale Aspekte am Aufstieg und Fall von Innovationen mitwirken. Aus solchen Ansätzen könnte sich ein neuer Kunstbegriff entwickeln, der dann wohlmöglich in der Lage wäre, die genuine soziale Logik von Kreativität zu erfassen. Ökonomie und Psychologie, Finanzen und Affekte, jenes was wir tun und das was wir denken, könnte dann zu einer neuartigen harmonischen Übereinstimmung finden.

Es sind heutzutage Künstler wie der bereits genannte Olafur Eliasson – die in Gruppenformation zusammen mit Handwerkern, spezialisierten Technikern, Architekten, Künstlern, Archivaren und Kunsthistorikern – in Form der Etablierung von Mikro-Unternehmen, direkt daran arbeiten mit ihren Erfindungen die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, die bislang durch solche Bedingungen an den Rand gedrängt wurden. Zu seinem netzunabhängigen und dezentralen Solarlampenprojekt Little Sun, durch das 1,4 Milliarden Menschen die vom Stromnetz abgeschnitten sind der Zugang zu freier Elektrizität ermöglicht werden soll, sagt Eliasson: „Stellen sie sich vor, sie haben ein eigenes Kraftwerk in ihrer Hand. Sie lösen sich von autoritären Strukturen und werden unabhängig. Es geht um diese Ermächtigung. Alle Macht dem Volk! – das ist auch künstlerisch sehr spannend.“ (SZ 26.7.2012)

Andere Ansätze partizipativer Kunst gehen ebenfalls in diese Richtung. Inside Out, initiiert von dem französischen Street Artist JR, ist gerade dabei zum größten partizipativen Projekt der Welt heranzuwachsen. Menschen weltweit sind dazu aufgefordert über die Webseite des Künstlers Portraits hochzuladen, welche dann als Poster in digitaler Form zurückgesendet werden. Diese Abbilder ihrer Mitmenschen können die Teilnehmer dann ganz nach ihrem Ermessen irgendwo in ihrer Umgebung an dafür geeignete Gebäudewände aufkleben, um so Protest zu formulieren oder anderweitig die Sichtweise ihrer Mitmenschen ein Stück weit zu verändern.

Aber gehen wir doch einmal einigen Schritten nach, die in den letzten Jahrzehnten hin zu solchen neuartigen Kunstprojekten führten. Denn die Kunst selbst begann unlängst die Mechanismen bestimmter sozialer Logiken und deren Erkenntnispotential unmittelbar aufzugreifen.

Die Struktur des gesellschaftlichen Lebens ist jene, welche die Beziehungen zwischen Künstlern und Öffentlichkeit verhüllt und enthüllt. Öffentlichkeit ist also das, was festlegt, welche privaten Erfahrungen in welchem Rahmen mitgeteilt werden können und welche nicht. Dabei spielt die künstlerische Tradition eine entscheidende Rolle. Mit dem Werk des Malers Gustave Courbet, das zur Zeit der Revolution von 1848 entstand, konnten wir erstmals erleben, wie für einen Künstler die Öffentlichkeit, also das Soziale, selbst zum Gegenstand der Kunst wurde. Courbet war der erste Künstler, der sein Wissen vom Volk beziehen wollte.

Die ersten Bilder in Deutschland vom Volk als geschichtsformender Kraft entstanden etwa zur selben Zeit durch die Darstellungen der Hussitenbewegung (1836) von Karl F. Lessing und durch die der Märzgefallenen von Adolph Menzel (1849). Letzteres Bild wurde allerdings vom Künstler nicht zuende gemalt und auch nicht mehr zu seiner Lebenszeit ausgestellt. Das vielleicht berühmteste Bild vom Volk als handelnde Kraft wurde 1901 gemalt: Giuseppe Pellizzas da Volpedos Il Quarto Stato. Gegen 1968 wurde es weltweit zur Ikone einer humanistischen Version vom suveränem Volk. Der italienische Regisseur Bernardo Bertolucci verwendete dieses Gemälde im Vorspann seines 1976 produzierten Film Novecento.

Schon 1972 hatte Joseph Beuys in seiner Selbstinszenierung La rivoluzione siamo Noi (Wir sind die Revolution) auf das Motiv von Il Quarto Stato zurückgegriffen, um ein politisches und soziales Engagement in Zusammenhang mit seiner künstlerischen Arbeit zu betonen.

Die Kunsttradition einer Kultur gibt ein bestimmtes Symbolsystem vor, aus dem sich die Sichtbarkeit der Dinge ableitet. Courbet erweiterte dieses System, indem er darstellte, was wir inzwischen „soziale Wirklichkeit“ nennen. Für diesen Schritt war es nötig die Verbindungen zwischen Religion, Politik und Kunst zu betrachten.

Seit diesem Moment stellt sich für die Künstler auch geradezu zwangsläufig die Frage, ob sie eher Bourgeois, Außenseiter oder Widerständler sind. (Courbets Ziel war es, Widerständler zu sein.) Erst in diesem Zusammenhang entstand die Vorstellung von Kunst als politischer Aktion. Die Welt an sich wird zum Material schöpferischer Tätigkeit. Die traditionellen Kunstformen – symbolisiert durch Schleier, Kleid und Lyra – die die Funktion eines kulturellen Gedächtnisses haben, werden seid dieser Zeit auch Schritt für Schritt ergänzt durch die neuen Kunstformen Fotografie, Film und Internet. Diese neuen Kunstformen bringen nun ein neues Denken hervor, welches wir als Intelligenz kultureller Symbolisierung bezeichnen können.

Inzwischen stellen die aktuellen Erzählweisen dieser neuen kollektiven Kunstform öffentlich-mediale Konventionen zunehmend in Frage. Der Film etwa wird gegenwärtig zu einer medialen Collage, durch die unsere Erkenntnisfähigkeit an ihre Grenzen geführt wird. Aufgedeckt wird so für die Öffentlichkeit, dass mediale Verhältnisse immer auch zugleich Machtverhältnisse sind und das der Mensch in viel stärkerem Maße sozial geprägt ist, als wir das bisher wahrhaben wollten: Unser Denken spiegelt zu einem Großteil nur Gesellschaftsmuster, die wir unreflektiert zumeinst übernehmen.

Da wir jetzt aber mit dem Internet ein neues Kunstmedium haben, das wie ein Chamäleon sich so verhalten kann wie alle Arten von Medien vor ihm, verändert sich durch dessen Einfluss auch die Flexibilität unseres Denkens und Verhaltens. Entsprechend verändert sich auch die Art, wie wir Sinn und Bedeutung durch das Erzählen von Geschichten erzeugen. Zudem erlaubt dieses neue Medium, dass wir uns in einzelne Themen unserer freien Wahl so tief versenken können, wie wir es wollen. Die Grenzen zwischen einzelnen Themen verflüchtigen sich dadurch ebenso, wie die zwischen nonlinearen, partizipativen und spielartigen Mustern des Geschichtenerzählens. Dies verändert wiederum, wie wir uns selbst und andere Menschen wahrnehmen, denn es beeinflusst die Art, auf die wir unser eigenes Lebens uns als Geschichte erzählen.

Unser Leben verwandelt sich im Zuge davon immer mehr in ein Spiel, bei dem es für uns darum geht, geheime Regeln zu erforschen, um dann diese Regeln so befolgen zu können, dass wir am meisten Freude an diesem Spiel haben und am meisten Sinn in ihm entdecken. Dabei lassen sich hauptsächlich folgende verschiedene Ansätze beobachten: Das Schwerpunktlegen auf das Erzählen von Geschichten, auf Stilfragen und Schönheit, oder auf das Hervorbringen neuer Ideen und das Erforschen derer systemischen Auswirkungen. Zudem gibt es eine Gruppe von Menschen, deren Hauptanliegen gerade das Erforschen des konzeptionellen Zusammenwirkens von Geschichten, Schönheit und Ideen ist. Hierzu könnte man die Kunstaktionen der mutigen jungen Frauen Nadezhda, Katya und Masha zählen, die unter dem Namen Pussy Riot als aktivistische Punk Band bekannt wurden. Die zwischen 22 und 29 Jahre alten Russinnen hatten am 21. Februar in der Moskauer

Christ-Erlöser-Kathedrale gegen den amtierenden Präsidenten Putin protestiert. Mit Skimützen vermummt und in Minikleidern hatten sie ein „Punk-Gebet“ vorgetragen: „Jungfrau Maria, Mutter Gottes, nehme Putin aus dem Weg!“ Dies begründeten sie in ihrem Song damit, dass Putin sich mit seiner Macht an die Stelle Gottes gesetzt hätte. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat die daraufhin seit dem März 2012 inhaftierten Frauen, als politische Gefangene anerkannt. Am 17.8.2012 wurden die drei Frauen wegen “religiös motivierten Rowdytums“ schuldig gesprochen und zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Die Anklage hatte zuvor internationale Empörung ausgelöst.

Nadezhda Toloknnikova sagte bei ihrem Abschlussstatement vor dem Khamovnichesky Gericht in Moskau am 8.8. 2012: „Was Pussy Riot macht ist Kunst als Widerstand, oder Politik die sich der Formen bedient welche die Künste etabliert haben. In jedem Fall handelt es sich um eine Form der zivilen Aktion unter Umständen, in denen grundlegende Menschenrechte, zivile oder politische Freiheiten von einem durch Firmen gesteuerten Staatssystem unterdrückt werden.“

Pussy Riot ist eigentlich ein Künstler-Kollektiv bestehend aus etwa 10 Performern und um die 15 Mitarbeitern im Hintergrund, die den mehr technischen Teil des Aufnehmens, Schneidens und Verbreitens der Kunstaktionen im Internet übernehmen. Da Pussy Riot weder je einen Song aufgenommen hat noch Konzerte spielt, haben wir es hier tatsächlich nicht mehr mit einer Band im Sinne etwa einer dritten Welle des Feminismus zu tun. Als Kollektiv verstehen sich die Künstler nicht als zueinander in Konkurrenz stehend, sondern streben eine Vernetzung mit anderen Künstlern an. Da Pussy Riot die Kunstformen Punk, Riot grrrl culture, kollektive Street Art und Performance-Kunst auf neuartige Weise miteinander zusammendenkt, ist ihr Kunst-Protest in der Lage wurzelartig mit einer ganzen Generation verbunden zu sein. Einer Generation, die mit Künstlergruppen wie graffiti crews aufwächst, die sich über das Prinzip „Freunde von Freunden von Freunden“ spontan oft quasi über Nacht zusammenfinden. Solche sich blitzschnell zusammensetzende Künstlerkollektive bestehen manchmal nur aus einigen Personen, können aber auch zu unübersichtlich großen Netzwerken aus Tausenden von Aktivisten anwachsen, die international miteinander sich austauschen. Die Riot grrrl Bewegung, die in den 90iger Jahren von der USA ausging, ist ja inzwischen auch auf solchen Wegen international ein Symbol für die Selbstermächtigung junger Frauen geworden.

Das es sich bei der Aktion von Pussy Riot am 21. Februar 2012 um einen Protest in einem Kirchenraum handelte, kommt in diesem Fall aber noch eine entscheidende andere Dimension dazu: Die des bewussten Rituals. Normen ergeben sich für uns daraus, wie wir körperliche Verhaltensweisen auslegen. Und umgekehrt verhalten wir uns körperlich wiederum in Bezug auf solche Normen. Nach der heutzutage allgemein anerkannten Grit and Group Theory von Mary Douglas, bilden Gruppenrituale die festlegende Codierung einer Gesellschaft. Ein durch solche Rituale sich heraus bildender Code unterstützt die Ausrichtung an Hand von gewissen geistigen Werten und hilft diese zu internalisieren. Rituale sind so gleichzeitig Kontroll- wie Kommunikationssysteme einer Gesellschaft.

Der Gesellschaftskörper, der sich ausformt als Ergebnis des Zusammenwirkens von Ritualen, legt fest, wie der physische Körper der einzelnen Menschen von diesen selbst wahrgenommen wird. Unser Körper ist so ein hochgradig von Aussen festgelegtes Ausdrucksmedium. Wir sehen also, wie auf der symbolischen Ebene das Selbst mit der Gesellschaft verschmilzt. Immer dort, wo diese Verschmelzung nicht vollständig ist, kann Bedeutung entstehen, Innovation und als Folge davon soziale Kreativität.

Wie wir im Folgendem sehen werden, kann es zu einer tiefen Versöhnung von Individuum und Welt-Gemeinschaft kommen, wenn soziale Kreativität nun direkt in die Gestaltung von Ritualen einfliesst. Dies hat dann weitgreifende Auswirkungen auf die Art was wir als Realität empfinden, weil das Symbolsystem, das sich durch Rituale – und in Folge davon in jeder Form von sozialer Interaktion – herausbildet, das Wahrnehmungsvermögen des Einzelnen prägt und somit auch die Verständnismöglichkeiten, die in dem von der Gesellschaft konstituierten Weltbild vorgesehen sind. So überwindet die Kunst den Widerspruch zwischen Funktion und Ästhetik, indem sie soziale Verantwortung Wirklichkeit werden lässt. Künstler produzieren dann sprichwörtlich Realitäten.

Langsam aber sicher setzt sich, egal auf welchem dieser oben vorgestellten vier Wege wir uns befinden, für jeden von uns die Erkenntnis durch, dass das Spiel die Handlungsweise schlechthin darstellt. Wir bewegen uns sprichwörtlich beständig in Simulationen, die wir selbst mit gestalten können. Die Frage ist nur, wann werden wir ganz identisch mit den Funktionsweisen des Mediums, im dem wir agieren, und wollen wir das überhaupt?

Antworten auf diese Frage liefern uns etwa heute schon Filme. Antworten, die zwangsläufig auf eine Art ausfallen müssen, so dass sie den Widerspruch zwischen Sein und Schein, den unsere Alltagserfahrungen an die Oberfläche unseres Bewusstseins spülen, überbrücken können. Ein Widerspruch, der inzwischen nur noch zu überbrücken ist durch unseren reflektierenden Einbezug in narrative Strukturen. Dies geschieht etwa durch das Auslassen wichtiger Handlungselemente, eine fragmentarische und facettenreiche Erzählweise oder andere Methoden, über die wir zunehmend direkt kollektiv in die uns umgebene Erzählung aktiv mit gestaltend eingebunden werden.

Der Schriftsteller Michael Schindhelm schreibt dazu: „Netzwerke wie Facebook, aber vor allem die einheimischer Herkunft, haben auch das Kommunikationsverhalten fundamental verändert. Russen verbringen doppelt so viel Zeit mit Sozialmedien wie der globale Durchschnitt. Anders als in China unterliegt das Internet keiner direkten politischen Zensur. Der virtuelle öffentliche Raum hat sich in Russland zu einem Millionen-Forum gemausert, in dem viele Diskussionen geführt werden, die im realen öffentlichen Raum nicht möglich sind und einen immensen Einfluss auf das soziale Klima haben. Die Impulse gehen von der Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen aus. Sie bilden den Kern der neuen außerparlamentarischen Opposition. Viele von ihnen haben andere Länder gesehen, vielleicht dort sogar studiert oder gearbeitet. Sie kennen alternative soziale Systeme aus eigener Erfahrung und haben eine klare Meinung dazu, was Russland fehlt.“ (SZ 14.8.2012)

Was durch Kunst an den Tag tritt, ist die Frage inwiefern unser Verhältnis zur Realität von der Inszenierung von Subjektivität abhängt, bzw. inwiefern unsere Alltagserfahrung beständig oszilliert zwischen einer „normalen Realität“ und einer „halluzinierten“. Andererseits tritt Kunst somit auch als Bedingung des menschlichen Lebens zu Tage. Sie ist dann nicht mehr länger Selbstzweck, sondern das eigentliche Mittel des Austausches der Menschen untereinander. Ein Mittel, das die Menschen darin unterstützen kann einander zu verstehen, zu lieben und zu fördern. Kunst beginnt demnach überall dort, wo wir bereit sind unsere innerste Erfahrung mit anderen zu teilen. Kunst tritt so als das Medium hervor, durch das wir zum Teil der kollektiven Erzählung der Menschheit werden.

Die Filme von Fassbinder und Godard zeigten uns exemplarisch auf, wie wir in allen Formen unseres privaten Alltagslebens nur immer verschiedene Teile und Formen uns umgebender Gesellschaftsstrukturen reproduzieren. In anderen Kunstbereichen sind zeitlich parallel dazu die Gruppenexperimente im Zusammenhang mit Warhols The Factory und mit Beuys Idee der „sozialen Skulptur“ entstanden. Es war nicht zufällig genau diese Dopplung von Leben und Kunst, die ins Zentrum der Arbeit vieler der wohl kreativsten Künstler einer Generation trat. Radikal wird vor allem bei Godard die Verstrickung von Individuen, in die sie umgebenden negativen und positiven Kräfte thematisiert. Wir können in diesen künstlerischen Versuchen erste, unter Schwierigkeiten zustande kommende, Durchbrüche hin zur kollektiven sozialen Kreativität innerhalb künstlerischer Gruppenprozesse sehen. Was Godard mit anderen Künstlern seiner Generation vereint, bei allen Unterschieden, ist der Versuch Kunst hervorzubringen an Hand der authentischen Selbstkonfrontation mit dem eigenen Leben und dessen sozialen Bedingtheiten. Im Werk von Godard und seinem Stamm wechselnder Mitarbeitern, aber auch in dem von Fassbinder und seiner Künstler-Familie, können wir so beobachten, wie eine reine Kreativität freigesetzt wird durch die schonungslose Konfrontation mit sich selbst, mit den einen umgebenen Menschen, der Geschichte des Medium in dem diese Menschen sich ausdrücken und der zeitgenössischen Gesellschaft, in die all dies zusammen hineingezwängt sich wieder findet. Ausgangspunkt dieser Befragungen sind dabei kollektive Gruppenprozesse, die aber noch vor allem zurücklaufen auf Selbstbefragungen dominanter Künstlerpersönlichkeiten, die zum Teil ehrlich frustriert darüber scheinen, das die, mit denen sie zusammenarbeiten, sich nicht gegen sie emotional-intellektuell durchzusetzen in der Lage sind. Fassbinder hat bei der Darstellung solcher Gruppenprozesse stets an seinem Vorbild Douglas Sirk festgehalten, der wie er die psychologische Verwirrung seiner Protagonisten durch eine gesteigerte filmische Ästhetik unterstreicht, die emotionale Auswegslosigkeit zum Stilprinzip erhebt.

Natürlich ist ein Ausgangspunkt solcher Prozesse radikaler Selbstbefragung die seinerzeit ungeheurer einflussreiche Philosophie des Existenzialismus, die indirekt bereits dazu aufforderte eine andere Art von Kreativität zu entdecken, bei der sich dann nicht mehr die fatalen gesellschaftlichen Machtstrukturen in den kollektiven künstlerischen Prozessen widerspiegeln würden. So wurde etwa in dem sich selbstverwaltenden Theater-Kollektiv der Berliner Schaubühne damit experimentiert, durch basisdemokratische Produktionsbedingungen an eine andere Art von Gruppen-Kreativität heranzukommen. Es entstanden in einem solchen Feld freigesetzter Gruppenkreativität dann tatsächlich einige ungewöhnlich utopisch anmutende Kunstwerke in den unterschiedlichsten dramatischen Genres, in denen sich eine reine Spielfreude und eine neuartige Leichtigkeit auszudrücken vermochte.

Solcherart künstlerische Kulturimpulse zeigten aber vor allem auch, welche unterschiedlichen – und oft auch paradoxen Wege – die neue Kraft der sozialen Kreativität anfänglich wählte, um sich manifestieren zu können. Die soziale Aufbruchstimmung der damaligen Zeit führte ja bekanntlich auch zu allerlei zerstörerischen Prozessen. Es scheint, als wäre die Gesellschaft damals zunächst mit ihrem eigenen kollektiven Unterbewusstsein konfrontiert worden. Dies bewirkte Veränderungen auf allen Lebensgebieten. Nur konnten diese Veränderungen bislang noch nicht sich wirklich umfassender im Alltagsleben ausdrücken.

Solche Veränderungen wiesen aber schon den Weg dahin, sich zunächst mit dem ungeklärten inneren Gefühlsleben ernsthaft und ehrlich auseinander zu setzen. Ähnlich wie die Filme Fassbinders, sind so auch die Filme Godards direkte Ableitungen aus dessen Gefühls- und Sexualleben. Worüber diese kreativen Genies auch immer einen Film drehten, es handelte sich bei dem Ergebnis immer um eine

Darstellung ihrer intimsten persönlichen Erfahrung in Bezug auf das Thema, welches gerade in einem jeweiligen Projekt im Mittelpunkt stand. Dabei wird das subjektive Wahrnehmen nicht nur radikal aufgedeckt, sondern gleichzeitig unter die Lupe genommen und analysiert. Damit wurde es möglich im Medium der Kunst aufzuzeigen, inwiefern das politische auch persönlich ist und Ethik mit Ästhetik zutiefst miteinander verschmolzen sind. In der Art wie auf das Leben geblickt wird, spiegelt sich der Zustand des Menschen. Im zweiten Film von Godard, Le Petit Soldat (1960), heißt es so mit einem Gorki Zitat, welches bewusst fälschlicherweise Lenin zugesprochen wird: „Die Ethik ist die Ästhetik der Zukunft“.

Es ist wohl dieser prophetische Ausspruch, der uns am gezieltesten darauf hinweist, worum es in der Kunstentwicklung der letzten Zeit eigentlich geht: Darum die Grenze zwischen Kunst und Leben durch Gruppenprozesse aufzulösen. So haben wir es etwa im Werk von Fassbinder und Godard mit Filmen zu tun, die das Leben künstlertagebuchartig begleiten und dokumentieren und in denen gleichzeitig, wie in einem Labor, die Bedingungen der jeweiligen Lebens- und Arbeitsumstände radikal in Frage gestellt werden. Insofern blicken wir mit diesen Filmen auf reine Spuren emotional-gedanklicher Prozesse, die das Leben – als wäre dieses selbst nur ein lebendiges Gedicht – hervorzubringen scheinen. Die reine Subjektivität der Künstler findet ihren Ausdruck in Form von einer reinen Erfahrung des Seins. So sind Godard und Fassbinder bereits Vorboten des Versuchs die Dualitäten des Bewusstseins (politisch-privat, fiktional-dokumentarisch, Leben-Kunst, politisch rechts-links, Täter-Opfer, Leben-Tod, unterhaltsam-experimentell usw.) aufzulösen, um so schließlich die Dreieinigkeit von Gedicht, Erzählung und Essay (Song, Performance und Ort) kontemplieren zu können.

Es ist ein Allgemeinplatz, den wir bemühen, wenn wir sagen gute Künstler sind ihrer Zeit voraus, sie erahnen das Kommende, das was sich bereits am Horizont abzuzeichnen beginnt. Schauen wir uns dazu abschliessen noch an wie Beuys durch seine Kunst-Aktionen einen neuen Kunstbegriff und erweiterten Wissenschaftsbegriff mit half vorzubereiten, der das symbolische Heilen in Gruppen betrifft.

Es ging Beuys seinem Selbstverständnis entsprechend darum, die Linie fortzusetzen die Novalis, Goethe und Steiner begonnen hatten, und die zu einem Überschreiten einer Schwelle führt, wo ein Mensch gleichzeitig Künstler, kreativer Philosoph, Heiler, Heiliger und Wissenschaftler ist. Den von ihm verwendeten Begriff der “sozialen Plastik“ wolle er dementsprechend als gesellschaftsverändernde Kunst im Sinne einer Konfiguration einer geistigen Welt verstanden wissen. Wie könnte eine

kreative öffentliche Sphäre agieren, die nicht staatlich kontrolliert ist? Sie würde jenseits von Opportunismus eine kreative Aktivität jedes/jeder Einzelnen darstellen müssen, bei der es vor allem um die Selbst-Transformation geht. Das von Beuys etablierte Konzept der „sozialen Plastik“ geht über das Erschaffen von Werken hinaus und bezieht menschliche Handlungen und gesellschaftliche Aktionen mit ein, genauso wie evolutionäre Innovationen in den Bereichen Politik, Recht und Ökonomie. Ästhetik kann dann als eine natürliche Begleiterscheinung jeder menschlichen Tätigkeit aufscheinen.

Der Kunstwissenschaftler Aby Warburg gehörte zu den frühen Vertretern, die am Anfang des 20. Jahrhunderts das Fortleben geistiger Vorstellungen in den Bildern, die eine Kultur hervorbringt, erforschte. Für ihn stellte sich heraus, dass in unseren Bildern verdrängte Bewusstseinsschichten sichtbar werden und er prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der Pathosformel.

Damit bezeichnete er in der Menschheitsgeschichte auftauchende Darstellungen formelhafter Gestik und Mimik des Gefühlsausdrucks, denen eine universale Gültigkeit zugeordnet werden kann und die sich in Bildern in magischer Weise manifestieren.

Die Erkundungen Warburgs sind besonders aufschlussreich im Licht der Tatsache, dass das Kunstschaffen allgemein in der Moderne immer mehr als Religionsersatz zu fungieren begann. Dabei wird der Kunst gezielt im gesellschaftlichen Diskurs die Rolle des Gegensatzes zur institualisierten Religion zugeordnet. Sie darf innerhalb der Gesellschaft die Dimension der individuellen Mythologie und Spiritualität am Leben halten. 1902 erzeugte bereits die Kunstreligion der Secession mit der Beethovenaustellung die Gestaltung ästhetischer Erlösungsansprüche mit einzigartiger Intensität. Weil aber seit dem, im Rahmen der Durchökonomisierung aller Lebensbereiche der Gesellschaft, Kunst gleichzeitig mehr und mehr mit ihrem Warencharakter konfrontiert wurde, gab es nur eine trickreichen Lösung innerhalb der Gesellschaft für diesen offensichtlichen Widerspruch: Die Kunst, die ihren Ursprung im Kult und Ritus hatte, wurde der Rekultivierung des Ausstellungswesens und des Eventbetriebes zugefügt.

Neben Warburg waren es vor allem Kunsthistoriker wie Hartlaub und Gettings, die nach den geistig-symbolischen Hintergründen der zeitgenössischen Kunst zu forschen begannen. Dabei ging es letztendlich um nicht weniger, als den Zusammenhang von geistig-mystischen Erleben und Kunstschaffen nachzuweisen. Die ästhetische Erfahrung, so konnte von diesen Forschern festgestellt werden, ist per se eine geistige Erfahrung, denn sie ermöglicht es erst die Dinge neu zu sehen. Dies geschieht über einen der Kunst innewohnenden Hermetismus, der beständig eigendynamisch daran arbeitet, äußeres und inneres Erleben in Übereinstimmung zu setzen. Jeder Mensch, der sich ernsthaft auf Kunst einlässt, nimmt teil an einem kollektiven menschheitsgeschichtlichen Prozess, denn er ist dabei das Gedächtnis der Archetypen anzurufen und darüber mit Bedeutungen bereits aufgeladene Symbole in seinem Bewusstsein auftauchen zu lassen, die ihn innerlich formen.

Die Kunst-Aktionen von Beuys können wir in diesem Sinne als gezielte Übertragungshandlungen – Beuys nannte es Parallelprozesse – beschreiben. Das öffentliche und zugleich hermetische Sprechen über seine Werke, welches sein Schaffen über 20 Jahre kontinuierlich begleitete, stellte eine Heilkunst dar, die das Publikum von Anfang an bewusst mit einbezog. Denn bei diesem Sprechen handelte es sich nicht um ein interpretierendes Erläutern seiner Werke, sondern um ein evokatives/invokatives bildhaftes Reden, durch welches das Sprechen selbst zu einem die geistige Dimenson integrierendem Teil der Werke wird. Die Vermittlung eines Übersinnlichen im Sinnlichen findet statt über eine erkenntnistheoretische, pädagogische und politische Zielsetzung, deren Basis eine wissenschaftliche Methodik ist. Invokation bezeichnet dabei den bewussten Akt des Hineinrufens einer höheren Macht und Evokation das Beschwören von Geisteswesen. Beide Vorgänge werden in der geistigen Praxis als wissenschaftliche Methoden angesehen die wesentlich effektiver sind als das übliche mit Wunschdenken getrübte Beten.

Laut seiner eigenen Äußerungen ging es Beuys bei seiner “Heilkunst“ darum, mit der eigenen Handlung ein “Exemplum“ zu geben und im Umgang mit der “Substanz“ und ihrer “Dynamik“ ein Bild für Prozesse zu schaffen die auf Geistiges verweisen. Wenn Beuys seinen Kopf etwa mit einer Salbe bestrich, um dann einen toten Hasen wie ein Baby auf dem Arm herumzutragen und diesem gleichzeitig Bilder zu erklären, wurde er als Künstler zu einem Teil seines eigenen Bildes, das wiederum den von ihm dargestellten therapeutischen Prozess wirksam nach außen tragen sollte.

Ein “Therapeutikum“ kann dabei etwa eine bestimmte bewusste Handlung sein, die bei kleiner Geste eine große Wirkung hervorzubringen vermag. Beuys gab dazu einmal folgende Empfehlung: Wenn man sich geschnitten hat, soll man nicht den Finger verbinden, sondern das Messer. Durch solch eine sympathetische Magie der direkten bewussten Handlungen, wird das Wesen der Kunst in den Alltag freigesetzt und wirkt dort heilend. Dabei ging es ihm um eine soziale Heilkunst, die den Anspruch hatte alle Menschen gleich mit einzubeziehen, um so für das Geistige eine diesseitige Perspektive zu eröffnen, die den bisherigen Kapitalfluss in ein anderes Wertesystem umlenkt.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus dem demnächst erscheinenden Buch: „Dare to share / Wage zu teilen – Wie Teilen unser Weltbild verändert“, von Thomas Weis und Thorsten Wiesmann.

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